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Zuhause
Als ich drei Jahre alt war, machte mein grosser Bruder Johann eine Zeichnung von unserer Familie. In unserem Haus bildete er sie ab, man erkannte es an den grün bemalten Backsteinen. Mein Vater und meine Mutter standen gemeinsam im Fenster des Erdgeschosses, meine älteste Schwester Petra hatte das rechte Fenster auf dem ersten Stock für sich, die ein paar Jahre jüngere Sophie winkte aus dem linken. Mein Bruder Johann lehnte sich bequem ausgestreckt über die Fensterbank des gesamten zweiten Stocks. Mich liess er weg.
Die Zeichnung, mit ihren satten Farbtönen, war sorgfältig ausgearbeitet und beeindruckend für einen Elfjährigen. Meine Mutter hängte sie in der bunt bemalten Ecke auf, in der unser Esstisch mit der Sitzbank stand. Direkt über unseren Köpfen thronte sie, wenn wir Spaghetti mit Gemüse in uns hinein schaufelten. Ich ass zu der Zeit noch keine Gemüsesauce, sie schmeckte mir nicht. Meine Eltern fragten Johann, warum ich nicht auf der Zeichnung war.
“Na, er hatte keinen Platz mehr!” sagte er, als sei das die selbstverständlichste Sache auf der Welt. Und obwohl dieses Detail nicht stimmte, ein kleiner Teil der Familie auf dem Bild fehlte, wurde diese Zeichnung zum Abbild unseres Zuhauses, gelobt von Besuchern, die an unserem Küchentisch sassen und sich die Spaghetti mit Gemüse mit uns teilten.
Es hat lange gedauert, bis ich das Bild als das erkannt habe, was es ist: eine Kriegserklärung. Ich gehe bereits in die erste Klasse, als ich zum ersten Mal über mein Essen blicke und so richtig klar sehe, wie falsch es ist. Es hat schon so lange an dieser Wand gehangen, dass es zu spät ist, auf meine Mutter wütend zu werden, die es dort hin gehängt hat.
Es ist nicht zu spät, einen brennenden Knoten im Magen zu bekommen, wenn ich an Johann denke. Johann, der mir, seit ich in den Kindergarten gehe, bei fast jeder Gelegenheit einen achtlosen Tritt in die Kniekehle oder in den Rücken gibt, so dass ich mir meinen Kopf an der Wand stosse. Der mit seinem verächtlichen Schnauben jede einzelne meiner Geschichten über den Buchstabentanz und die Rabenkönigin, von der man uns im Kindergarten erzählt hat, unterbricht.
Meine Schwestern sind auch nicht immer nett zu mir. Zwar hat mir Sophie gestern beigebracht, wie man Krokodile zeichnet - auf die Augen kommt es besonders an, sie stecken nicht im Kopf, sondern kleben einfach daran. Aber meine Rippen schmerzen auch von den Schlägen, die sie mir ein paar Stunden davor verabreicht hat. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie mich als Boxsack benutzt, um in der Schule besser austeilen zu können.
Petra, meine älteste Schwester, versteht sich als eine Art Erzieherin und hat sich für meine zahlreichen Vergehen - “zu schnell gehen”, “zu viel reden” - drakonische Strafen ausgedacht. Ein Glück, dass sie mich selten erwischt. Wenn sie gut aufgelegt ist, berät sie mich dafür manchmal dabei, in welchen Fächern es einfach ist, sich durchzumogeln.
Meine Schwestern sind für mich gefährliche und manchmal grausame Gestalten, die fest mit meinem Zuhause verwachsen sind. Sie gehören so selbstverständlich dazu, wie auch sie meinen Platz mitten auf der Sitzbank in der bunten Ecke sehen. Ob es wirklich an dem Bild über dem Esstisch liegt, weiss ich nicht, doch wenn ich nun an Johann denke, sehe ich einen Eindringling. Einer, der nicht da sein sollte, einer, mit dem ich mich um unser Haus streiten muss. Denn nur einer von uns hat Platz. Er ist um acht Jahre grösser und stärker als ich. Und er hat wohl irgendwann entschieden, dass es mich in diesem Haus nicht braucht. Doch der Kampf, wenn ich auch noch so benachteiligt bin, muss erst noch ausgefochten werden.
Vielleicht löst die Wut, die als unbändige Energie in meinem Kopf brodelt, etwas aus. Ich habe Ideen. Viele Ideen, und einige davon bringen kleine Gerätschaften hervor, die in der Schule und bei meinen Eltern Lob und Staunen erwecken. Doch die wichtigen Ideen beziehen sich auf unauffällige Wege, auf denen ich Johanns Leben etwas schwerer machen kann. Sie müssen sehr, sehr unauffällig sein, denn er ist stets auf der Hut. Auch wenn unser Kampf für den Rest der Familie fast unsichtbar bleibt, weiss ich doch, dass er ihn genau so ausficht wie ich. Wer siegt, gewinnt das Recht, das grüne Backsteinhaus, mehr noch, die Menschen, die es bewohnen, sein Zuhause zu nennen.
Ich durchtrenne Nähte im Schoss seiner Jeans. Lasse seine Schulbücher verschwinden. Ich sammle im Garten feine Stacheln, und verstreue sie unter seiner Bettdecke. Ich treibe sogar einmal sogar den Aufwand, unter seinem Bett Mückenlarven auszubrüten. Es sind winzige Quälereien, und es ist einfach, meine Spuren zu verwischen. Aber auch meine Siege sind klein, und sie können mich nur kurzzeitig besänftigen, bis er mir mit einer ganz und gar nicht heimlichen Bemerkung den Tag zunichte macht. Er hat so viele Jahre Vorsprung, und für ihn ist alles einfach. In der Schule, beim Sport, und bei seinen Freunden. Er hat auch eine Freundin, eine überraschend sanftmütige Gestalt, die mir meist zulächelt, wenn sie mir begegnet. Mia heisst sie. Sie ist oft bei uns, denn Johann und Mia bekommen nie genug voneinander. Sie ist die einzige Person, mit der ich Johann respektvoll umgehen sehe.
Ich bin zehn, als Johann sein Jurastudium beginnt. Er verlässt meine Schule, und ich kann ein bisschen freier atmen. Jahrelang hat er alle meine Versuche, mir einen guten Ruf zu machen, untergraben. Unzählbare Male hat er meinen Klassenkameraden die Gelegenheit gegeben, über meine blasse, rothaarige Gestalt zu lachen, denn ich konnte seine Witze über entzündete Haarwurzeln und Haarfarben, die einem die Augen verbrennen, meist nicht parieren. In der Schule kann er mich jetzt nicht mehr quälen, und seinem kleinen Bruder das Leben schwer zu machen, ist nicht mehr so wichtig für ihn. Trotzdem macht er bei Gelegenheit mit seinen abfälligen Bemerkungen immer wieder klar, dass er noch immer nichts von mir hält, und mein Hass auf ihn nimmt nicht ab.
Doch dann spricht Johann davon, sein Studium in der nächsten grossen Stadt weiterzuführen. Er würde dafür ausziehen, weg aus unserem Zuhause, weg aus meinem Leben. Während unserer Essen in der Sitzecke male ich mir bereits eine Zukunft aus, in der ich ein echtes Zuhause habe. Eins, in dem ich frei atmen kann. Es fällt niemandem auf - ich bin seit Jahren oft mit den Gedanken woanders, wenn wir die Nudeln um die Gabeln wickeln, nicht nur, um Johanns beissenden Kommentaren zu entkommen, sondern auch, um mir neue Quälereien für ihn auszudenken.
Als er sich schliesslich für einen Umzug entscheidet, kommen mir die verbleibenden sechs Wochen, die ich seine Anwesenheit noch ertragen muss, wie eine Unendlichkeit und ein Augenblick zugleich vor. Ich bin dreizehn Jahre alt. Dreizehn lange Jahre haben wir uns dieses Zuhause geteilt - doch geteilt haben wir es uns eben nicht.
Vergeblich haben wir uns die Türen vor der Nase zugeschlagen, immer im Versuch, den anderen aus dem Haus auszusperren - nur um uns umzudrehen und zu sehen, dass der andere schon wieder hinter einem steht, und einen grinsend hinaus schubst.
Es ist kein Sieg für mich, dass Johann uns nun alleine lässt. Ich habe ihn nicht verjagt. Seine Bücher, sein Bett, und die Bilder bleiben hier und erinnern an seinen Anspruch. Doch Sieg oder nicht, ich schwebe vor Glück.
Lang kommt mir die Zeit trotzdem vor, und die Tag verstreichen mühsam. Ich denke mir keine neuen Missetaten mehr aus, und auch Johann quält mich nicht mehr. Beide scheinen wir uns zu fühlen, als wäre jegliche Anstrengung in unserem jahrelangen Krieg nicht mehr lohnend, da das Schlachtfeld allzu bald geräumt wird.
Mia und Johann haben sich zusammen eine Wohnung gesucht, aber sie sind auch hier noch unzertrennlich. Manchmal ist Mia bei unseren Abendessen dabei. Ich wünschte, sie wäre es nicht, obwohl sie nicht gemein zu mir ist. Ich mag es nicht, dass die Stimmung dann etwas ausgelassener ist, und Johann so glücklich scheint. Wenn ich ihn bei diesen Essen beobachte, sehe, wie er Mia anschaut und über ihre Witze lacht, kann ich mich nur wundern.
In einer Woche ist der Tag der Abreise endlich da. Ich schleife mein Fahrrad zu unserer Haustür, dreckbeschmiert nach einer stundenlangen Fahrradtour. Johann wird nicht zuhause sein, denke ich, er will sich mit Mia und ihren Eltern zum Essen treffen. Warum merke ich mir seine Verabredungen? Das muss aufhören. Ich stosse die Tür auf und sehe, dass jemand nur wenige Meter entfernt in der Wohnzimmertür steht. Es ist Johann. Mein Körper prickelt vor Ärger. Ich habe mich im Abend getäuscht, oder er ist noch nicht aufgebrochen.
Er steht mir abgewandt, sein Rücken stockgerade aufgerichtet, mit seiner Hand am Ohr. Er hält in dieser sein Telefon, aber sein Gespräch muss gerade geendet haben. Nicht nur er schweigt, sondern unsere Wohnung ist so still, dass ich die Stimme des Gesprächspartners wohl auch durch das Telefon gehört hätte. Ein komisches Gefühl baut sich in mir auf. Etwas stimmt nicht.
Ich habe mit dem Hereintragen meiner schweren Fahrradkleider die Stille durchbrochen, und Johann dreht sich langsam zu mir um. Er sieht mich nicht direkt an, nichts scheint er anzusehen. Dann festigt sich sein Blick, und er sieht mir in die Augen. Ich kenne sie kaum, denn wir sehen uns grundsätzlich nie ins Gesicht. Doch ich weiss, was ich in ihnen sehe.
Schmerz.
Unsere Augen treffen sich für weniger als eine Sekunde. Er senkt seinen Blick und geht an mir vorbei. Er streift mich dabei unsanft, nicht angriffslustig, sondern als wäre es ihm schlicht unmöglich, seine Füsse an mir vorbei zu steuern. Er lässt mich allein mit der Stille.
Mia hatte vor wenigen Wochen angefangen, Fahrstunden zu nehmen. In ihrer sechsten Fahrstunde kam ihr auf einer feuchten Überlandstrasse ein Lastwagen entgegen, der schon in der Kurve davor zu schlingern begonnen hatte. Ihr Fahrlehrer versuchte, einen Zusammenstoss zu verhindern, doch das Ungetüm bewegte sich zu schnell. Der Fahrer des Lastwagens und Mia wurden von den aufeinanderprallenden Metallteilen zerquetscht. Ihr Fahrlehrer hat mit leichten Verletzungen überlebt. Es war trotzdem auch seine letzte Fahrstunde.
Meine Mutter erzählt es mir später am Abend. Obwohl ihre Stimme erstickt und fremd klingt, schafft sie es, ihren Blick in meinen Kopf zu bohren.
“Johann ist dein Bruder. Egal, was ihr gegeneinander habt. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.”
Offenbar ist doch mehr unseres Krieges nach aussen gedrungen, als ich gedacht habe. Doch ihre Warnung macht keinen Sinn.
In meinem Bild von Johann hat es nie Platz gehabt für Gefühle. Für Augen, aus denen der Schmerz lauter schreit, als irgendeine Stimme es kann. Johann, mein Feind, ist aufgefressen worden, von einem schwarzen Monster, das nicht nur ihn verschlungen hat, sondern in seiner Gier meine Eltern, unser Haus, meine Schwestern, und auch mich beäugt. Es hat uns Johanns stumme, ungläubige Hülle zurückgelassen. Es frisst auch meinen Hass so hastig, dass ich mich nur noch leer fühle, wenn ich an meinen Bruder denke. Wieso musste ich ihn in dem Moment treffen?
Es muss auch für ihn abscheulich gewesen sein, im ersten Moment gerade mich zu sehen. Seinen kleinen Bruder, den er nicht ausstehen kann. Der Gedanke verknotet mir den Magen. Oder war er vom Schmerz so geblendet, dass er mich gar nicht bemerkt hat?
Mein Bruder zieht doch aus, nach dieser Woche, die im Nebel des Unglaubens und der Hilflosigkeit versinkt. Ich weiss nicht, ob er auf eine störrische Weise das Gefühl hat, das Leben muss weitergehen, auch wenn die Welt für ihn unkenntlich geworden ist. Ich denke, in Wirklichkeit muss er den Ort verlassen, an dem Mia existiert hat.
Ich sehe ihn danach lange nicht mehr. Meine Mutter besucht ihn ein paar Mal. Sie hält es nicht gut aus, ihn gebrochen weggehen zu sehen. Das hätte mich einmal eifersüchtig machen können. Ich frage mich, ob mich das Unglück meines Bruders auch berührt hätte, wenn ich ihn in diesem ersten Moment nicht gesehen hätte. Etwas ist dann passiert. Auch wenn, so überlege ich, er sich wahrscheinlich gar nicht an unseren Blickaustausch erinnern kann.
In unser Zuhause kehrt Ruhe ein, aber nicht allzu viel Ruhe. Meine älteste Schwester ist auch ausgezogen, aber Sophie und ich sind immer noch da. Auch wenn wir uns nicht mehr boxen und schreien, ist noch genug los, so dass es meinen Eltern nicht langweilig wird. Sophie will Tiermedizin studieren und bringt jedes halbtote Tier, das sie auf der Strasse findet, zu uns nach Hause, was ich ekelhaft finde. Aber insgesamt fühle ich mich wohl. Das Bild, das immer noch bei uns in der Essecke hängt, beachtet keiner mehr. Das Bild, auf dem ich fehle.
Ironischerweise sehe ich meinen Bruder erst wieder, als ich fünfzehn bin und trübselig zuhause sitze, an ein Mädchen denkend, das mir gestern mit einer kurzen Sprachnachricht das Herz gebrochen hat. Er kommt ins Wohnzimmer, meine älteste Schwester hinter ihm, beide lachend. Ich umarme Petra, und bevor ich mich versehen kann, hat mich auch mein Bruder mit einem Arm an sich gedrückt.
Sie bleiben mehrere Tage, die ganze Familie ist wieder da. Doch unser Zuhause ist anders. Es ist nicht unbedingt, dass wir uns grossartig verändert hätten: wir sind zwar alle etwas älter, aber meine älteste Schwester Petra ist immer noch belehrend, mein Bruder beissend sarkastisch, Sophie kampflustig und ich eine vorlaute Plage. Was sich geändert hat, ist das Bild über dem Esstisch: jemand hat ein Dachfenster hinzugefügt, aus dem ein Junge mit fuchsrotem Haar heraus grinst.