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Zuhause

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01.08.2017
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Zuhause

Als ich drei Jahre alt war, machte mein grosser Bruder Johann eine Zeichnung von unserer Familie. In unserem Haus bildete er sie ab, man erkannte es an den grün bemalten Backsteinen. Mein Vater und meine Mutter standen gemeinsam im Fenster des Erdgeschosses, meine älteste Schwester Petra hatte das rechte Fenster auf dem ersten Stock für sich, die ein paar Jahre jüngere Sophie winkte aus dem linken. Mein Bruder Johann lehnte sich bequem ausgestreckt über die Fensterbank des gesamten zweiten Stocks. Mich liess er weg.

Die Zeichnung, mit ihren satten Farbtönen, war sorgfältig ausgearbeitet und beeindruckend für einen Elfjährigen. Meine Mutter hängte sie in der bunt bemalten Ecke auf, in der unser Esstisch mit der Sitzbank stand. Direkt über unseren Köpfen thronte sie, wenn wir Spaghetti mit Gemüse in uns hinein schaufelten. Ich ass zu der Zeit noch keine Gemüsesauce, sie schmeckte mir nicht. Meine Eltern fragten Johann, warum ich nicht auf der Zeichnung war.
“Na, er hatte keinen Platz mehr!” sagte er, als sei das die selbstverständlichste Sache auf der Welt. Und obwohl dieses Detail nicht stimmte, ein kleiner Teil der Familie auf dem Bild fehlte, wurde diese Zeichnung zum Abbild unseres Zuhauses, gelobt von Besuchern, die an unserem Küchentisch sassen und sich die Spaghetti mit Gemüse mit uns teilten.

Es hat lange gedauert, bis ich das Bild als das erkannt habe, was es ist: eine Kriegserklärung. Ich gehe bereits in die erste Klasse, als ich zum ersten Mal über mein Essen blicke und so richtig klar sehe, wie falsch es ist. Es hat schon so lange an dieser Wand gehangen, dass es zu spät ist, auf meine Mutter wütend zu werden, die es dort hin gehängt hat.
Es ist nicht zu spät, einen brennenden Knoten im Magen zu bekommen, wenn ich an Johann denke. Johann, der mir, seit ich in den Kindergarten gehe, bei fast jeder Gelegenheit einen achtlosen Tritt in die Kniekehle oder in den Rücken gibt, so dass ich mir meinen Kopf an der Wand stosse. Der mit seinem verächtlichen Schnauben jede einzelne meiner Geschichten über den Buchstabentanz und die Rabenkönigin, von der man uns im Kindergarten erzählt hat, unterbricht.
Meine Schwestern sind auch nicht immer nett zu mir. Zwar hat mir Sophie gestern beigebracht, wie man Krokodile zeichnet - auf die Augen kommt es besonders an, sie stecken nicht im Kopf, sondern kleben einfach daran. Aber meine Rippen schmerzen auch von den Schlägen, die sie mir ein paar Stunden davor verabreicht hat. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie mich als Boxsack benutzt, um in der Schule besser austeilen zu können.
Petra, meine älteste Schwester, versteht sich als eine Art Erzieherin und hat sich für meine zahlreichen Vergehen - “zu schnell gehen”, “zu viel reden” - drakonische Strafen ausgedacht. Ein Glück, dass sie mich selten erwischt. Wenn sie gut aufgelegt ist, berät sie mich dafür manchmal dabei, in welchen Fächern es einfach ist, sich durchzumogeln.
Meine Schwestern sind für mich gefährliche und manchmal grausame Gestalten, die fest mit meinem Zuhause verwachsen sind. Sie gehören so selbstverständlich dazu, wie auch sie meinen Platz mitten auf der Sitzbank in der bunten Ecke sehen. Ob es wirklich an dem Bild über dem Esstisch liegt, weiss ich nicht, doch wenn ich nun an Johann denke, sehe ich einen Eindringling. Einer, der nicht da sein sollte, einer, mit dem ich mich um unser Haus streiten muss. Denn nur einer von uns hat Platz. Er ist um acht Jahre grösser und stärker als ich. Und er hat wohl irgendwann entschieden, dass es mich in diesem Haus nicht braucht. Doch der Kampf, wenn ich auch noch so benachteiligt bin, muss erst noch ausgefochten werden.

Vielleicht löst die Wut, die als unbändige Energie in meinem Kopf brodelt, etwas aus. Ich habe Ideen. Viele Ideen, und einige davon bringen kleine Gerätschaften hervor, die in der Schule und bei meinen Eltern Lob und Staunen erwecken. Doch die wichtigen Ideen beziehen sich auf unauffällige Wege, auf denen ich Johanns Leben etwas schwerer machen kann. Sie müssen sehr, sehr unauffällig sein, denn er ist stets auf der Hut. Auch wenn unser Kampf für den Rest der Familie fast unsichtbar bleibt, weiss ich doch, dass er ihn genau so ausficht wie ich. Wer siegt, gewinnt das Recht, das grüne Backsteinhaus, mehr noch, die Menschen, die es bewohnen, sein Zuhause zu nennen.
Ich durchtrenne Nähte im Schoss seiner Jeans. Lasse seine Schulbücher verschwinden. Ich sammle im Garten feine Stacheln, und verstreue sie unter seiner Bettdecke. Ich treibe sogar einmal sogar den Aufwand, unter seinem Bett Mückenlarven auszubrüten. Es sind winzige Quälereien, und es ist einfach, meine Spuren zu verwischen. Aber auch meine Siege sind klein, und sie können mich nur kurzzeitig besänftigen, bis er mir mit einer ganz und gar nicht heimlichen Bemerkung den Tag zunichte macht. Er hat so viele Jahre Vorsprung, und für ihn ist alles einfach. In der Schule, beim Sport, und bei seinen Freunden. Er hat auch eine Freundin, eine überraschend sanftmütige Gestalt, die mir meist zulächelt, wenn sie mir begegnet. Mia heisst sie. Sie ist oft bei uns, denn Johann und Mia bekommen nie genug voneinander. Sie ist die einzige Person, mit der ich Johann respektvoll umgehen sehe.

Ich bin zehn, als Johann sein Jurastudium beginnt. Er verlässt meine Schule, und ich kann ein bisschen freier atmen. Jahrelang hat er alle meine Versuche, mir einen guten Ruf zu machen, untergraben. Unzählbare Male hat er meinen Klassenkameraden die Gelegenheit gegeben, über meine blasse, rothaarige Gestalt zu lachen, denn ich konnte seine Witze über entzündete Haarwurzeln und Haarfarben, die einem die Augen verbrennen, meist nicht parieren. In der Schule kann er mich jetzt nicht mehr quälen, und seinem kleinen Bruder das Leben schwer zu machen, ist nicht mehr so wichtig für ihn. Trotzdem macht er bei Gelegenheit mit seinen abfälligen Bemerkungen immer wieder klar, dass er noch immer nichts von mir hält, und mein Hass auf ihn nimmt nicht ab.
Doch dann spricht Johann davon, sein Studium in der nächsten grossen Stadt weiterzuführen. Er würde dafür ausziehen, weg aus unserem Zuhause, weg aus meinem Leben. Während unserer Essen in der Sitzecke male ich mir bereits eine Zukunft aus, in der ich ein echtes Zuhause habe. Eins, in dem ich frei atmen kann. Es fällt niemandem auf - ich bin seit Jahren oft mit den Gedanken woanders, wenn wir die Nudeln um die Gabeln wickeln, nicht nur, um Johanns beissenden Kommentaren zu entkommen, sondern auch, um mir neue Quälereien für ihn auszudenken.
Als er sich schliesslich für einen Umzug entscheidet, kommen mir die verbleibenden sechs Wochen, die ich seine Anwesenheit noch ertragen muss, wie eine Unendlichkeit und ein Augenblick zugleich vor. Ich bin dreizehn Jahre alt. Dreizehn lange Jahre haben wir uns dieses Zuhause geteilt - doch geteilt haben wir es uns eben nicht.
Vergeblich haben wir uns die Türen vor der Nase zugeschlagen, immer im Versuch, den anderen aus dem Haus auszusperren - nur um uns umzudrehen und zu sehen, dass der andere schon wieder hinter einem steht, und einen grinsend hinaus schubst.
Es ist kein Sieg für mich, dass Johann uns nun alleine lässt. Ich habe ihn nicht verjagt. Seine Bücher, sein Bett, und die Bilder bleiben hier und erinnern an seinen Anspruch. Doch Sieg oder nicht, ich schwebe vor Glück.
Lang kommt mir die Zeit trotzdem vor, und die Tag verstreichen mühsam. Ich denke mir keine neuen Missetaten mehr aus, und auch Johann quält mich nicht mehr. Beide scheinen wir uns zu fühlen, als wäre jegliche Anstrengung in unserem jahrelangen Krieg nicht mehr lohnend, da das Schlachtfeld allzu bald geräumt wird.
Mia und Johann haben sich zusammen eine Wohnung gesucht, aber sie sind auch hier noch unzertrennlich. Manchmal ist Mia bei unseren Abendessen dabei. Ich wünschte, sie wäre es nicht, obwohl sie nicht gemein zu mir ist. Ich mag es nicht, dass die Stimmung dann etwas ausgelassener ist, und Johann so glücklich scheint. Wenn ich ihn bei diesen Essen beobachte, sehe, wie er Mia anschaut und über ihre Witze lacht, kann ich mich nur wundern.

In einer Woche ist der Tag der Abreise endlich da. Ich schleife mein Fahrrad zu unserer Haustür, dreckbeschmiert nach einer stundenlangen Fahrradtour. Johann wird nicht zuhause sein, denke ich, er will sich mit Mia und ihren Eltern zum Essen treffen. Warum merke ich mir seine Verabredungen? Das muss aufhören. Ich stosse die Tür auf und sehe, dass jemand nur wenige Meter entfernt in der Wohnzimmertür steht. Es ist Johann. Mein Körper prickelt vor Ärger. Ich habe mich im Abend getäuscht, oder er ist noch nicht aufgebrochen.
Er steht mir abgewandt, sein Rücken stockgerade aufgerichtet, mit seiner Hand am Ohr. Er hält in dieser sein Telefon, aber sein Gespräch muss gerade geendet haben. Nicht nur er schweigt, sondern unsere Wohnung ist so still, dass ich die Stimme des Gesprächspartners wohl auch durch das Telefon gehört hätte. Ein komisches Gefühl baut sich in mir auf. Etwas stimmt nicht.
Ich habe mit dem Hereintragen meiner schweren Fahrradkleider die Stille durchbrochen, und Johann dreht sich langsam zu mir um. Er sieht mich nicht direkt an, nichts scheint er anzusehen. Dann festigt sich sein Blick, und er sieht mir in die Augen. Ich kenne sie kaum, denn wir sehen uns grundsätzlich nie ins Gesicht. Doch ich weiss, was ich in ihnen sehe.
Schmerz.
Unsere Augen treffen sich für weniger als eine Sekunde. Er senkt seinen Blick und geht an mir vorbei. Er streift mich dabei unsanft, nicht angriffslustig, sondern als wäre es ihm schlicht unmöglich, seine Füsse an mir vorbei zu steuern. Er lässt mich allein mit der Stille.

Mia hatte vor wenigen Wochen angefangen, Fahrstunden zu nehmen. In ihrer sechsten Fahrstunde kam ihr auf einer feuchten Überlandstrasse ein Lastwagen entgegen, der schon in der Kurve davor zu schlingern begonnen hatte. Ihr Fahrlehrer versuchte, einen Zusammenstoss zu verhindern, doch das Ungetüm bewegte sich zu schnell. Der Fahrer des Lastwagens und Mia wurden von den aufeinanderprallenden Metallteilen zerquetscht. Ihr Fahrlehrer hat mit leichten Verletzungen überlebt. Es war trotzdem auch seine letzte Fahrstunde.
Meine Mutter erzählt es mir später am Abend. Obwohl ihre Stimme erstickt und fremd klingt, schafft sie es, ihren Blick in meinen Kopf zu bohren.
“Johann ist dein Bruder. Egal, was ihr gegeneinander habt. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.”
Offenbar ist doch mehr unseres Krieges nach aussen gedrungen, als ich gedacht habe. Doch ihre Warnung macht keinen Sinn.

In meinem Bild von Johann hat es nie Platz gehabt für Gefühle. Für Augen, aus denen der Schmerz lauter schreit, als irgendeine Stimme es kann. Johann, mein Feind, ist aufgefressen worden, von einem schwarzen Monster, das nicht nur ihn verschlungen hat, sondern in seiner Gier meine Eltern, unser Haus, meine Schwestern, und auch mich beäugt. Es hat uns Johanns stumme, ungläubige Hülle zurückgelassen. Es frisst auch meinen Hass so hastig, dass ich mich nur noch leer fühle, wenn ich an meinen Bruder denke. Wieso musste ich ihn in dem Moment treffen?
Es muss auch für ihn abscheulich gewesen sein, im ersten Moment gerade mich zu sehen. Seinen kleinen Bruder, den er nicht ausstehen kann. Der Gedanke verknotet mir den Magen. Oder war er vom Schmerz so geblendet, dass er mich gar nicht bemerkt hat?

Mein Bruder zieht doch aus, nach dieser Woche, die im Nebel des Unglaubens und der Hilflosigkeit versinkt. Ich weiss nicht, ob er auf eine störrische Weise das Gefühl hat, das Leben muss weitergehen, auch wenn die Welt für ihn unkenntlich geworden ist. Ich denke, in Wirklichkeit muss er den Ort verlassen, an dem Mia existiert hat.
Ich sehe ihn danach lange nicht mehr. Meine Mutter besucht ihn ein paar Mal. Sie hält es nicht gut aus, ihn gebrochen weggehen zu sehen. Das hätte mich einmal eifersüchtig machen können. Ich frage mich, ob mich das Unglück meines Bruders auch berührt hätte, wenn ich ihn in diesem ersten Moment nicht gesehen hätte. Etwas ist dann passiert. Auch wenn, so überlege ich, er sich wahrscheinlich gar nicht an unseren Blickaustausch erinnern kann.
In unser Zuhause kehrt Ruhe ein, aber nicht allzu viel Ruhe. Meine älteste Schwester ist auch ausgezogen, aber Sophie und ich sind immer noch da. Auch wenn wir uns nicht mehr boxen und schreien, ist noch genug los, so dass es meinen Eltern nicht langweilig wird. Sophie will Tiermedizin studieren und bringt jedes halbtote Tier, das sie auf der Strasse findet, zu uns nach Hause, was ich ekelhaft finde. Aber insgesamt fühle ich mich wohl. Das Bild, das immer noch bei uns in der Essecke hängt, beachtet keiner mehr. Das Bild, auf dem ich fehle.

Ironischerweise sehe ich meinen Bruder erst wieder, als ich fünfzehn bin und trübselig zuhause sitze, an ein Mädchen denkend, das mir gestern mit einer kurzen Sprachnachricht das Herz gebrochen hat. Er kommt ins Wohnzimmer, meine älteste Schwester hinter ihm, beide lachend. Ich umarme Petra, und bevor ich mich versehen kann, hat mich auch mein Bruder mit einem Arm an sich gedrückt.
Sie bleiben mehrere Tage, die ganze Familie ist wieder da. Doch unser Zuhause ist anders. Es ist nicht unbedingt, dass wir uns grossartig verändert hätten: wir sind zwar alle etwas älter, aber meine älteste Schwester Petra ist immer noch belehrend, mein Bruder beissend sarkastisch, Sophie kampflustig und ich eine vorlaute Plage. Was sich geändert hat, ist das Bild über dem Esstisch: jemand hat ein Dachfenster hinzugefügt, aus dem ein Junge mit fuchsrotem Haar heraus grinst.

 

Hallo Archivarin,

irgendwie hat mich dein Text berührt. Wie hat es Tolstoi so schön gesagt: "Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich." Es ist immer wieder faszinierend, teils auch schockierend, was in jeder Familie so los ist. Ich kenne keine, in der nicht irgendwelche unguten Schwingungen, alte Geschichten oder Vorwürfe, Konflikte kleiner oder großer Art schlummern würden. Das gehört wohl einfach dazu.

Deine Geschichte hat natürlich einen unzuverlässigen Erzähler. Wer weiß, ob alle anderen wirklich so böse sind oder ob der kleine rothaarige Junge nicht einfach unausstehlich ist. Ich kam drauf - und das ist sicher Absicht - als du ihn am Schluss sagen lässt:

Schwester Petra ist immer noch belehrend, mein Bruder beissend sarkastisch, Sophie kampflustig und ich eine vorlaute Plage.
Das rückt alles, was er zuvor erzählt hat, für mich in ein anderes Licht. Aber das finde ich gut, ich mag sowas. Man muss immer darauf achten, wer einem gerade die Geschichte erzählt.

Den Anfang finde ich gelungen, mit dem Bild anzufangen und zu erzählen, dass niemand in der Familie das Fehlen des Jungen auf dem Bild schlimm zu finden scheint, außer er selbst. Das ist für mich beim zweiten Lesen auch wieder so ein Hinweis, dass der Erzähler vielleicht das Problem ist, nicht seine Umgebung.

Du erzählst das sehr gut, der Ablauf ist logisch und nachvollziehbar und es gab für mich auch keine Stolperer. Dennoch ist mir die Sprache ein wenig zu abgeklärt für einen Jungen. Wenn ich den Aufbau richtig verstehe, fängt er als kleiner Junge an zu erzählen und dann entwickelt sich der Text mit ihm weiter, er wird älter und verständnisvoller. Mach das doch auch mit der Sprache. Lass den Jungen anfangs impulsiver erzählen, vielleicht zwischendrin auch abgehackter, intuitiver. Und mit der Zeit beruhigt sich das, vor allem an dem Punkt, an dem Mia stirbt, da könnte man auch sprachlich zeigen, dass dein Erzähler "zur Besinnung kommt" und dieser Kleinkrieg auf einmal nicht mehr wichtig ist.

So mal meine ersten Eindrücke.
Gerne gelesen, auf jeden Fall.
Viele Grüße
RinaWu

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Archivarin und herzlich willkommen!

Schöne Geschichte, habe ich gern gelesen.
Das Bild ist ein gelungener Einstieg, der mich gleich neugierig auf mehr gemacht hat. Gleichzeitig begleitet es den Leser durch den Rest der Geschichte, wobei es nicht zu oft erwähnt wird, sondern, wie ich finde, in angemessener Verteilung.
Die Erzählungen des Protagonisten fand ich auch unterhaltsam, obwohl seine Geschwister ihn doch arg in die Mangel nehmen, was aber vielleicht auch nur die persönlichen und ein wenig überspitzten Eindrücke des Prota. sind.

Finde gut, dass die Beziehung zwischen Mia und Johann nicht genauer geschildert wird. So bleibt der Leser in der Perspektive des kleinen Bruders, der das ganze selbst nicht so richtig begreifen kann, schließlich erlebt er ja nur die schlechten Seiten der Persönlichkeit.

Es war trotzdem auch seine letzte Fahrstunde.

Der Hinweis hat mich ein wenig rausgerissen. Gefällt mir nicht. Kann man weglassen.
Wenn ich genauer drüber nachdenke, ist der ganze Absatz nicht nötig. Mir als Leser interessiert der Charakter von Mia nicht besonders, schließlich wurde er im Rest des Textes überhaupt nicht personalisiert. Da finde ich es unpassend, genau zu wissen, wie es passiert ist. Vor allem, da der Junge ja noch etwas jünger ist und wohl die Mutter ihm nicht alles haargenau erzählt hat. Für den Leser reicht es doch zu wissen, dass die Freundin tot ist. Vielleicht noch den Autounfall bei der Fahrstunde erwähnen und den Rest weglassen.

Nur das Ende ist mir ein bisschen zu fadenscheinig und heiter. Der plötzliche Tod ist ja noch annehmbar, wenn auch etwas gewollt, doch das Wiedersehen gestaltet sich mir zu unproblematisch. Da hatte ich mir mehr Emotionen vorgestellt, so wie der Protagonist die jahrelange "Misshandlung" und Ablehnung durch seinen Bruder beschrieben hat. Freundin tot, Ausziehen, wiederkommen, alles ist besser. Meh.

Aber alles in allem eine ordentliche Geschichte und ein guter Einstieg ins Forum.


Noch viel Spaß hier,

KorbohneD


edit: RinaWu hat mich über Rechtschreibung aufgeklärt. :Pfeif:

 

KorbohneD,

laut Profil kommt unsere Archivarin aus der Schweiz, dort schreibt man unser ß als ss. Hat also nichts mit der neuen Rechtschreibung zu tun, auch nach der alten schrieb man groß und heißt schon mit ß.

*Klugscheißmodus aus* :teach:

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Archivarin,

Mir hat dein Text gefallen: Die Idee der Zeichnung als Symbol für den Bruderzwist finde sehr gelungen. Auch die Szene, in der Johann vom Unfalltod seiner Freundin erfährt, nehme ich dir voll ab.

Ein wenig irritiert hat mich der Wechsel vom Präteritum ins Präsens im dritten Absatz, weil ja die Erzählung nicht ab dem Besuch des Protagonisten der ersten Klasse auf "Echtzeit" umspringt, sondern erst viel später.

Und vielleicht liegt es an deinem Schreibprogramm, aber manchmal, z. B. bei "ließ" oder "aßen" schreibst du die Worte mit "ss", doch in Sachen Rechtschreibung bin ich wirklich keine Expertin. (Sehe grad', dass RinaWu es schon aufgeklärt hat)

Ab und an sind deine Sätze etwas verschachtelt, was das Lesen mühsam macht, aber das sind Kleinigkeiten. Insgesamt eine wirklich ansprechende Geschichte, finde ich.

Viele Grüße

Willi

 

Hej Archivarin und herzlich willkommen,

selten kam ich so leicht in einen Text wie in deinen. Deine Sprache, die leicht und unspektakulär klingt gepaart mit prägnanten Aussagen, die nur scheinbar im Widerspruch stehen, berühren mich vom ersten Satz an. Und ich hänge an deinen ... Worten.

Mich liess er weg.

Bäm, weg mit der Idylle.

Es hat lange gedauert, bis ich das Bild als das erkannt habe, was es ist: eine Kriegserklärung.

Schon wieder.

Es hat schon so lange an dieser Wand gehangen, dass es zu spät ist, auf meine Mutter wütend zu werden, die es dort hin gehängt hat.

Es ist nicht zu spät, einen brennenden Knoten im Magen zu bekommen, wenn ich an Johann denke.

Das ist sehr rührend, ehrlich und wahrhaftig.

Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie mich als Boxsack benutzt, um in der Schule besser austeilen zu können.

Wundervoll, wie er beobachtet und sich selbst versucht, die Umstände zu erklären.

Doch der Kampf, wenn ich auch noch so benachteiligt bin, muss erst noch ausgefochten werden.

Und ich brenne darauf zu lesen, wie er das bewerkstelligt.

Wer siegt, gewinnt das Recht, das grüne Backsteinhaus, mehr noch, die Menschen, die es bewohnen, sein Zuhause zu nennen.

Sehr gewissenhaft und klug zuende gedacht.

Unzählbare Male hat er meinen Klassenkameraden die Gelegenheit gegeben, über meine blasse, rothaarige Gestalt zu lachen, denn ich konnte seine Witze über entzündete Haarwurzeln und Haarfarben, die einem die Augen verbrennen, meist nicht parieren.

Und ganz nebenbei und angemessen, habe ich ein Bild und darf ihn anstehen.

Eins, in dem ich frei atmen kann.

Das hast du schon oben genutzt. Vielleicht kann er noch etwas anderes? :shy:

Dreizehn lange Jahre haben wir uns dieses Zuhause geteilt - doch geteilt haben wir es uns eben nicht.

Sehr süß, aber das weiß ich schon. ;)

Ich mag es nicht, dass die Stimmung dann etwas ausgelassener ist, und Johann so glücklich scheint.

Das ist äußerst einfühlsam, den kleinen Protagonisten auf diese Weise auszuarbeiten.

Ich kenne sie kaum, denn wir sehen uns grundsätzlich nie ins Gesicht. Doch ich weiss, was ich in ihnen sehe.
Schmerz.

Meine Güte, ist das schön.

Es frisst auch meinen Hass so hastig, dass ich mich nur noch leer fühle, wenn ich an meinen Bruder denke.

Hastig und Hass, mag mir persönlich nicht so gut gefallen.

Ich frage mich, ob mich das Unglück meines Bruders auch berührt hätte, wenn ich ihn in diesem ersten Moment nicht gesehen hätte.

Ich liebe diesen kleinen Kerl.

Was sich geändert hat, ist das Bild über dem Esstisch: jemand hat ein Dachfenster hinzugefügt, aus dem ein Junge mit fuchsrotem Haar heraus grinst.

Mist, wer war das? :hmm:

Egal, das ist eine wundervoll, süß-bittere Geschichte über eine Familie und deren Bewohner. Sie kommt ganz und ohne wörtliche Rede aus, was ich sehr begrüße, du hast einen leichten, etwas wehmütigen Ton getroffen, der mich nie wirklich bedrückt. Ich muss mir keine Sorgen machen. Der schafft das schon und ich würde ihn sehr gerne länger begleiten oder wiedertreffen.

Vielen Dank für diese Geschichte und freundlicher Gruß, Kanji

 

Liebe Archivarin,

das ist eine Geschichte, die mir nicht zuletzt deshalb gefallen hat, weil sich hier jemand sehr viel Mühe gegeben hat mit der inhaltlichen, aber auch mit der sprachlichen Gestaltung. Da erkenne ich sehr viel Detailarbeit, die zeigt, dass da nicht mal schnell eine Idee realisiert und niedergeschrieben worden ist, sondern jemand mit viel Akribie zu Werke gegangen ist. Und es gibt kaum formale Stolpersteine, ganz wenige Rechtschreibfehler. Das Fehlen des ‚ß’ erklärt sich wahrscheinlich damit, dass du Schweizer(in) bist.

Ich habe mir ein paar Stellen markiert, an denen mir etwas aufgefallen ist. Ich liste sie mal auf:

Die Zeichnung, mit ihren satten Farbtönen, war sorgfältig ausgearbeitet und beeindruckend für einen Elfjährigen.
Die Kommas scheinen mir hier entbehrlich.

Direkt über unseren Köpfen thronte sie, wenn wir Spaghetti mit Gemüse in uns hinein schaufelten.
hineinschaufelten
Das Wort ‚thronte’ für eine Zeichnung scheint mir nicht recht passend.

Ich gehe bereits in die erste Klasse, als ich zum ersten Mal über mein Essen blicke und so richtig klar sehe, wie falsch es ist. Es hat schon so lange an dieser Wand gehangen, dass es zu spät ist, auf meine Mutter wütend zu werden, die es dort hin gehängt hat.
dorthin

Diese Stelle hat – wie auch einige andere – für mich etwas Wiederholendes. Du hast gerade über das 'Thronen' der Zeichnung gesprochen und wiederholst dich hier. Da sehe ich keinen neuen Aspekt in deinen Aussagen. Streichpotential.:D

Und auch bei den ausführlichen Einschüben über die Schwestern frage ich mich, ob du hier nicht den Fokus deiner Geschichte verlierst. Zumal du mitten im Absatz wieder auf Johann zu sprechen kommst:

Meine Schwestern sind für mich gefährliche und manchmal grausame Gestalten, die fest mit meinem Zuhause verwachsen sind. Sie gehören so selbstverständlich dazu, wie auch sie meinen Platz mitten auf der Sitzbank in der bunten Ecke sehen. Ob es wirklich an dem Bild über dem Esstisch liegt, weiss ich nicht, doch wenn ich nun an Johann denke, sehe ich einen Eindringling.
Mit dem markierten Satz stimmt mMn etwas nicht.

Und später, als es um Johanns Studienbeginn geht, wirst du mir zu langatmig und zu erklärend. Da würde ich noch einmal überlegen, ob ich den Verlauf nicht etwas stringenter und straffer gestalte.
Mit der ausführlichen Beschreibung des weiteren Lebensweges Johanns ziehst du für mein Empfinden deinen Text unnötig in die Länge, beginnst zu berichten, was jetzt im Einzelnen geschieht, nimmst auch unwichtige Kleinigkeiten mit auf. Du solltest z.B. mal überlegen, was dir in diesen letzten Absätzen wirklich wichtig ist: dass die ältere Schwester ausgezogen ist, dass die andere Tiermedizin studiert? Oder vielmehr dies:

In meinem Bild von Johann hat es nie Platz gehabt für Gefühle. Für Augen, aus denen der Schmerz lauter schreit, als irgendeine Stimme es kann. Johann, mein Feind, ist aufgefressen worden(,) von einem schwarzen Monster, das nicht nur ihn verschlungen hat, sondern in seiner Gier meine Eltern, unser Haus, meine Schwestern, und auch mich beäugt. Es hat uns Johanns stumme, ungläubige Hülle zurückgelassen. Es frisst auch meinen Hass so hastig, dass ich mich nur noch leer fühle, wenn ich an meinen Bruder denke.
Rücke das Verhältnis der beiden Brüder im gesamten Text stärker in den Vordergrund und behalte den Fokus darauf. Streiche oder kürze Nebensächlichkeiten und Wiederholungen. Dann wird sich auch für den Leser am Ende der Kreis schließen und der Ich-Erzähler (endlich) seinen Platz auf dem Bild finden.

Was sich geändert hat, ist das Bild über dem Esstisch: jemand (Jemand) hat ein Dachfenster hinzugefügt, aus dem ein Junge mit fuchsrotem Haar heraus grinst.
herausgrinst

Eine gute Grundidee, eine gute Story und ein Text, an dem es sich zu arbeiten lohnt.

Archivarin, ich begrüße dich bei den Wortkriegern. Ich glaube, hier bist du richtig.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo Archivarin,

die Thematik der Demütigungen und häuslichen Gewalt hast du detailreich beschrieben und verwendest einen klaren und angenehmen Erzählstil.
Ich möchte hier noch ein paar Anmerkungen machen, die Sinnfragen und Formulierungen betreffen:

Er ist um acht Jahre grösser und stärker als ich.
Genau genommen sind die Jahre ja keine Maßeinheit für Größe und Stärke, deswegen finde ich den Ausdruck ungünstig. Es gibt ja auch jüngere Geschwister, die die älteren überholen oder einholen was das angeht - da spielen die Jahre oft keine Rolle.

Was ich mich außerdem frage, ist, ob und wenn ja warum es bei dieser Familie eigentlich immer Spaghetti mit Gemüse gibt? Nimmst du das als Sinnbild? Es zieht sich nämlich als Motiv durch die gesamte Geschichte, jedes Mal, wenn es in diesem Haus Essen gibt.

Dreizehn lange Jahre haben wir uns dieses Zuhause geteilt - doch geteilt haben wir es uns eben nicht.
Mir ist bewusst, dass du hiermit ein Paradoxon ausdrücken willst, aber zweimal das Wort "geteilt" zu verwenden, finde ich an dieser Stelle nicht sinnvoll. Stattdessen könntest du etwas sagen wie:
]Dreizehn lange Jahre haben wir zusammen in unserem Zuhause gelebt - wirklich geteilt haben wir es uns jedoch nicht.

“Johann ist dein Bruder. Egal, was ihr gegeneinander habt. Es spielt jetzt keine Rolle mehr.”
Offenbar ist doch mehr unseres Krieges nach aussen gedrungen, als ich gedacht habe.
Diese Frage habe ich mir bis dahin auch die ganze Zeit gestellt: Merkt diese Boshaftigkeit denn keiner, warum wird der Protagonist von allen Geschwistern gemobbt und warum scheint den Eltern das so gleich zu sein? Alles, was hinsichtlich Intervention passiert, ist die halbherzige Frage, warum das Kind auf dem Bild fehlt. Da muss doch auch was zwischen Protagonist und Eltern nicht stimmen, damit diese das so tolerieren..
In dieser Frage lässt du den Leser im Dunkeln - diese Akte milden Terrors passieren einfach so grundlos vor sich hin und irgendwann scheint die Familie reif genug, um sich wie anständige Menschen zu behandeln. Du schließt mit einer Art Happy End, welches sich der Protagonist selbst nicht richtig erklären kann und auch das nimmt er einfach so hin und schließt seinen Frieden mit der Sache, weil er ja endlich bekommen hat, was er seit Kindheitstagen wollte: seinen verdienten Platz auf dem Bild.

Wie bereits oben angemerkt, beschreibst du das alles relativ ausführlich und den Gegenstand der Geschichte finde ich interessant und wichtig. Dennoch fehlen mir Gründe und Emotionen, die tiefer gehen als nur der offensichtliche Hass und die Demütigung.

Ich hoffe, du kannst mit meiner Kritik etwas anfangen. :)

Liebe Grüße,

Jana

 

Ich bin ganz begeistert, dass ich auf einen Schlag so viel hilfreiche Kritik bekommen habe :) danke euch allen!

RinaWu
Die Idee, die Sprache meines Erzählers seinem Alter entsprechend über die Geschichte anzupassen, werde ich auf jeden Fall ausprobieren. Der Gedanke ist mir überhaupt nicht gekommen, dabei hat das viel Potenzial, die Geschichte intensiver zu machen.

KorbohneD
Dein Kommentar drückt auf die richtige Stelle. Ich glaube, bei dem Absatz bin ich einfach der Versuchung erlegen, den Mias Tod ein bisschen dramatischer machen zu wollen.
Das ist aber eigentlich ganz fehl am Platz in dieser Geschichte, die sich ja auf die Beziehung der beiden Brueder konzentrieren will.

Willi
Ich glaube, die Unstimmigkeit in der Zeit hat mit der Erzählweise zu tun, die auch RinaWu kommentiert hat. Zu dem Zeitpunkt, als die Geschichte in den Präsens wechselt, redet der Junge definitiv nicht, als wäre er gerade in der ersten Klasse.
Ich will aber eigentlich schon an der Stelle den Zeitwechsel machen - es ist ja der Moment, als dem Erzähler der Kampf mit seinem Bruder erstmals so richtig bewusst wird. Werde aber noch experimentieren müssen.

Hm, ja, die verschachtelten Sätze. Das ist ein Lernprozess ;) bin aber dran...

Kanji
Vielen Dank fuer die ausführliche Kritik und ich freue mich sehr, dass dir die Geschichte so gefallen hat!

Du hast da aber recht mit dem Hinweis auf die Wiederholungen, wie auch barnhelm die Geschichte kann noch einiges an Straffung und Konzentration vertragen. Danke auch dir barnhelm für die vielen Anmerkungen, und die Willkommensworte, die haben mich sehr gefreut!

Haha, Jana Retlow die Spaghetti mit Gemüse konnte ich einfach nicht loswerden. Irgendwie hat es mir gefallen, das Bild der Familie, die unter dem immer gleichen Bild sitzt, und immer das Gleiche isst.

Die Boshaftigkeit, die nicht bemerkt wird - naja, eigentlich habe ich das Gefühl, dass das sehr oft vorkommt. Eltern haben einfach oft nicht die Perspektive, um genau zu bemerken, was jetzt bei ihren Kindern passiert - dass man ein fehlendes Geschwisterchen auf einem Bild eines 11-jährigen als nicht so wichtig wahrnimmt, kann ich mir schon vorstellen.
Familien sind in der Hinsicht natürlich sehr verschieden. Aber es geht mir bei dem Text auch darum, dass der Krieg der zwei Brüder zwar vom Erzähler als unheimlich intensiv wahrgenommen wird, vom Rest der Familie aber nicht - es sind ja nur Kinderstreitigkeiten.

Das Ende wird nicht von allen als gleich Happy wahrgenommen. Ich wollte es eigentlich etwas offen lassen, so dass es einen versöhnlichen Ton gibt, aber auch keine wirkliche "Versöhnungsszene" - denn das ist auch Realität: dass solche Bruderzwiste sich eigentlich nie ganz beilegen lassen, sondern die Beteiligten sich dann mit der Zeit einfach arrangieren und etwas aus dem Weg gehen.

Danke nochmals euch allen - ihr habt mir viel Stoff zum Überarbeiten gegeben. Und tut mir leid wegen der anfänglichen Verwirrung mit dem ss... das ß finde ich auf meiner Tastatur gar nicht ;)

 

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