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Zugzwang
1
Noch ehe die Tür zusprang, zwang dich der Zugzwang zum Abgang.
Die Fahrkarten bittend, abschätzig blickend, gingen drei Männer durch den wankelmütigen Wagen. Man erkannte sie schon, als sie maximal auffällig unauffällig die S-Bahn betraten. Genau in diesem Moment steige auch ich in die Bahn, bereit dazu, mich ein Stück mittreiben zu lassen, im integrierten Windschatten des öffentlichen Personennahverkehrs. Doch dieser Zug ist zu klein für uns vier – und die restlichen Gäste, die auf ihrem Weg in ein Wochenende voller Kino, Kirschschnaps und Kinderschubse sind.
„Die Fahrkarten bitte“ blaffen sie bemüht gequält unter ihren schlecht geschnitzten Oberlippenbärten hindurch. Ich habe kein Ticket für die Fahrt, keine Zeit für Fragen und keine 60 Euro für Strafen. Doch irgendwie schaffe ich es raus, ohne dass sie mich sehen oder sehen wollen. „Auf das Leben und für den Film“ schreie ich den dunkler werdenden Lichtern des Zuges hinterher. Meine Verabredung mit Kunze kann ich knicken, aber er wird es verstehen. Ich musste handeln. Situation Zugzwang. Als er nicht an sein Telefon geht, schreibe ich ihm eine SMS: „Kann nicht kommen. Kontrolle zwang mich vorzeitig auszusteigen. Triff mich im Lokschuppen, ich werde warten und Getränke durch den Kopf gehen lassen. Bis gleich A“
Ich nehme ein Bier aus meinem Rucksack und leere es in einem Zug. Die nachfolgenden Biere verzögern sich nur kurz. Hochgefühl und Tiefenrausch. Dann Filmriss.
2
Ich sitze an einem Tresen. Was genau sich in den letzten zwei Stunden abgespielt hat, bleibt zwischen den Zeilen dieses Textes verborgen. Der Lokschuppen. Eine Kneipe, in der normalerweise nur Gäste sitzen, für die der Zug des Lebens längst abgefahren ist, Störungen im Betriebsablauf.
An der Wand laufen die schönsten Bahnstrecken Europas in einer Endlosschleife. Ein Stück weiter sitzt diese Frau. Sie muss da sitzen, so ist es immer in solchen Geschichten, und wie es das Klischee so will, verliebe ich mich sofort in sie. „Ich will nicht mehr von deiner Seite weichen und mit dir deine Küche streichen. Wenn es sein muss, geh ich über Leichen!“ Diese Worte lege ich mir in meinem Kopf zurecht und dort klingen sie auch, wie das Beste, was ich mir je ausgedacht habe.
Doch auf dem Weg zu ihr stolpere ich über meine Zunge, balanciere mit den Armen und kann das Übergewicht nicht mehr halten. Ich knalle unglaublich stilvoll hin und küsse nicht sie, sondern den Staub vor ihren Füßen. Mein ganz persönliches Stuttgart 21. Ich rapple mich auf: „Hallo, kannst du mir deine Nummer geben, ich habe meine grad beim Sturz verloren“ Und in dem Moment klingelt auch schon mein Handy und am liebsten würdest ich wegdrücken und dann sie drücken und abrücken, von dieser peinlichen Situation. Doch sie ist es, die von mir abrückt und ich stelle fest, dass mich auch ihr Rücken entzückt und weil es ja jetzt auch wieder egal ist, nehme ich den Hörer ab, der gar kein Hörer mehr ist, sondern nur noch ein kleines grünes Symbol, was vor meinen Augen verschwimmt.
3
Ein Gespräch
A: Wer ist da?
B: Ich bin es.
A: Ich kenne viele Ichs, kannst du das bitte etwas konkretisieren?
B: Es geht um Kunze. Er hat es nicht geschafft.
A: Was hat er nicht geschafft?
B: Er hat sich umgebracht.
„Es war der Zugzwang, der ihn unter den Zug zwang“ wird seine Mutter später sagen.
4
Zwei Wochen später. Eine Nacht kann Lücken hinterlassen. Lückenlos. Mein Lückenlos.
„Nur ein Freund“, sage ich mir. „Nicht meine Schuld“, schwöre ich mir. „Nur ein Traum“, wünsche ich mir. Doch das mit den Träumen ist schwer, wenn man nicht mehr durchschlafen kann. Wenn die Nacht zum Tag wird und man auch am Tag umnachtet ist. „Es war, als hätt der Himmel, die Erde still geküsst“, hat irgendwer in die Dorfeiche geschnitzt. Postkartenromantik in kondulenzbekundende Traueranzeigenform gerotzt. So war es aber nicht und so ist es nicht und so wird es auch nicht.
Es ein Zug nach Nirgendwo unterwegs und du bist Passagier. Bist an deinem sicheren Hafen zugestiegen und schaust nun der Landschaft beim Vorbeiziehen zu. Du lächelst. Ich stehe am Bahnsteig und winke und warte und sehe zu, wie sich die Räder langsam in Bewegung setzten. Die letzten Meter mitlaufen, mit der Hand an der Scheibe, dem Blick auf deinem Gesicht, hier aus meinem Bett und den Lichtern hinterher. Ich bleibe. Mein Bett bleibt. Die Dorfeiche bleibt. Und auch die Erinnerung bleibt, doch alles andere verblasst wie die Lichter der S-Bahn.
5
Es war der Moment, als dich der Zugzwang, unter den Zug zwang. Bremslichtgewitter und Stahlscheibenquietschen. Notbremse nur im Notfall benutzen.
„Meine Damen und Herren, die Weiterfahrt der Bahn verzögert sich aufgrund eines Personenschadens. Bitte haben Sie Verständnis“
„Schienensuizid ist die Selbsttötung durch ein fahrendes Schienenfahrzeug. Die Möglichkeit des Triebfahrzeugführers, den Schienensuizid zu verhindern, ist wegen des langen Bremsweges gering. Nach der Betriebsunfallstatistik der Deutschen Bahn wurden in den Jahren 1997 bis 2002 insgesamt 5.731 Suizidereignisse registriert (durchschnittlich 18 Ereignisse pro Woche)."
Randnotizen am Andreaskreuz. Nur eine Zahl, die irgendwie unter die Räder gekommen ist, im Getriebe des Lebens steckengeblieben. Schönes-One-Way-Wochenendticket. „Dieser Zug endet hier. Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen“
Endstation.