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Zugwind
Sie saßen schweigend auf der Bank und sahen zu den Zügen hinüber. Beide stammten aus wärmeren Ländern. Ihre gebräunte Haut passte nicht zu dem müden Blick. Sie hatten die ganze Nacht gearbeitet.
„Magst du?“, fragte der Mann mit den weißen Haaren und hielt dem anderen eine Packung Zigaretten hin.
„Fortuna. Wo hast du die Schachtel her?“, fragte der andere.
„Von zu Hause. Ich fülle sie immer nach.“
Sie rauchten und schauten einem ausfahrenden Zug hinterher.
„Gehst du heim, jetzt wo du pensioniert wirst?“ Fröstelnd zog er sich die Wollmütze tiefer über die Ohren.
„Schön wär’s. Und dann morgens einen Kaffee an der Bar. Am Bocciaplatz unter den Pinien sitzen. Den Sportteil lesen. Vor dem Essen einen Aperitif bei Carlos“, er lächelte wehmütig und blickte zum Himmel. Die Sonne war nicht zu sehen. Bald würde es anfangen zu regnen. Oder sogar schneien.
„Mein Bruder hat ein Haus direkt am Meer. Dort steht auch ein großer Pinienbaum. Man kann die Wellen hören. Abends grillen sie oft auf der Terrasse. Alle zusammen.“ Jetzt lächelten sie beide.
Ein Zug fuhr ein. Eine Schülergruppe stürmte heraus und drängelte zum Bahnhofsausgang. Neben der Bank fiel eine Dose Coca Cola zu Boden und verspritzte laut zischend ihren Inhalt.
„Alles Scheiße“, schimpfte der jüngere Mann und wischte sein Hosenbein ab. „Warum willst du hier bleiben?“
„Die Familie. Für die Kinder muss man bleiben. Sagt meine Frau immer.“
Eine ebenfalls südländische Frau schlurfte mit einem Eimer zu ihnen herüber und wischte die Colapfütze trocken. Der Mann hob seine Füße, um dem Wischmopp Platz zu machen.
„Alles sauber. Alles funktioniert“, murmelte er. „Ja, die Kinder. Sie müssen hier bleiben. Das ist besser als zu Hause.“
Eine Windböe fegte über den jetzt leeren Bahnhof und die ersten Wassertropfen klatschten auf den Boden. Die beiden Männer standen auf. „Scheißwetter. Lass uns einen Kaffee trinken.“
Sie gingen in das Bahnhofscafé. Es war kein Tisch frei. Sämtliche Plätze waren von einzelnen Gästen besetzt, die ihre Mäntel und Taschen auf die Stühle neben sich gelegt hatten.
Die beiden Männer stellten sich an die Theke.
„Zwei Kaffee bitte.“
Der Mann mit den weißen Haaren holte vorsichtig ein in Aluminiumfolie gewickeltes Päckchen aus seiner Manteltasche.
„Was hast du da?“
Die Frau hinter der Theke stellte ein Plastiktablett mit zwei Tassen Kaffee vor sie. Der Mann konnte gerade noch rechtzeitig das silbrig glänzende Paket mit einer Zeitung verdecken.
Sie ließen Zucker in die Tassen rieseln und rührten um.
„Der deutsche Kaffee schmeckt nicht. Ist aber billiger als Cappuccino.“
„Ja, stimmt.“ Sie tranken beide einen Schluck. „Zumindest kein Pappbecher.“
„Was ist in dem Päckchen?“
Die Männer sahen sich um, ob sie jemand beobachtete. Die Frau hinter der Theke räumte jetzt den Kühlschrank ein und drehte ihnen den Rücken zu.
Der Mann mit den weißen Haaren hob die Zeitung an und öffnete die Aluminiumverpackung an einer Ecke.
„Hat meine Frau gemacht. Musst du probieren“, sagte er mit glänzenden Augen. „Ist Apfelstrudel. Deutscher Apfelstrudel – aber mit Pinienkernen von zu Hause.“
Sie standen schweigend nebeneinander und nippten an dem Kaffee. Dann verließen sie das Lokal. Es regnete noch immer. Fröstelnd eilten sie über den Bahnhofsplatz und nahmen die Rolltreppe zur U-Bahn. „Mach's gut, wir sehen uns.“
„Ja, wir sehen uns. Und sag deiner Frau, dass ich noch nie so guten Apfelstrudel gegessen habe.“
Die Tür des Wagons schloss sich hinter ihm und der andere blieb auf dem Bahnsteig zurück.
Er blickte dem abfahrenden Zug nach, bis die gelben Lichter im schwarzen Tunnel nicht mehr auszumachen waren. Dann drehte er sich um und setzte seinen langsamen Gang durch die unterirdischen Bahnhofsgänge fort, den Klängen einer sehnsüchtigen Fado-Melodie entgegen.
Ein junger Straßenmusiker beugte sich tief über seine Gitarre, deren Aufkleber von Reisen in ferne Länder zeugten. Lange schwarze Strähnen fielen tief in seine dunkle Stirn. Er blickte nicht auf, als der alte Mann sich hinunterbeugte und mit einem wehmütigen Lächeln ein kleines silbernes Päckchen auf die Gitarrentasche legte.