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Zugvögel
„Um drei Uhr geht der Karnevalszug los“ sagt Antje als ich neben ihr und Sylvia auf meiner Matratze im Schlafzimmer erwache. Rosemontag in Köln. Der Höhepunkt des Karnevalsspektakels. Ganz Köln ist im Karnevalsfieber und wir mittendrin.
Antje scheint nicht so viel Schlaf zu brauchen. Ich beneide Menschen die morgens die Augen aufmachen und sofort wach sind. Ich gehöre nicht dazu und vergrabe meinen Kopf noch einmal im Kissen, eng mit der Hoffnung verknüpft in einem unangenehmen Traum gefangen zu sein. Sylvia scheint es ähnlich zu gehen. „Wie spät ist es denn?“ fragt sie schlaftrunken während sie ihre Nase gegen meinen Oberarm drückt. „10:30 Uhr“ antworte Antje mit einer Frische, die ich nicht einmal auf dem Zenit meiner Wachheit transportieren könnte. Ich beginne zu realisieren, dass Widerstand zwecklos ist. Das hätte ich wissen müssen, als ich den Abend zuvor großzügig verkündete „Mi casa e su casa“ und bemerke wie der Gedanke an Kaffee sich zu einer nicht mehr wegzudenkenden Größe im sich langsam sortierenden Synapsen-Salat meines Gehirns entwickelt. Verschlafen säusele ich das Wort „Kaffeezeit“ in mein Kissen und entnehme ein dumpfes Jubeln meiner Freundinnen, was mich dazu veranlasst meinen Kopf aus meinem Kissen zu erheben und endlich die Augen zu öffnen. Eins meiner Augen hängt fest, erscheint in einem Antlitz à la Karl Dall und zieht dann glücklicherweise doch nach. „Dein Auge hinkt“, sagt Antje und lacht. Ich muss auch lachen und erhebe mich von meiner Matratze in Richtung Küche.
Ich nehme den Hauptverkehrsweg, der sich nun schon seit einigen Tagen wie ein Trampelpfad festgetreten hat: Vorbei an Essensresten, Konfetti, Luftballons und Klamotten erreiche ich meine Küche und fülle die Espressokanne. Ich habe mir angewöhnt meinen Kaffee in einer Espressokanne zu kochen, weil ich mir einbilde, dies würde die Genießbarkeit des Kaffees erhöhen. Wenn ich Besuch habe ist das immer ein wenig umständlich, da eine Espressokanne höchstens zwei kleine Tassen Kaffee erfasst. Für Gäste gehe ich in Sachen Umständlichkeit sogar noch einen Schritt weiter und schäume Milch auf. Gesagt getan. Antje und Sylvia machen es sich derweil auf meiner Matratze gemütlich. Schon komisch, warum der zu Letzt Erwachte der Kaffeekoch sein soll, nur weil ihm die Matratze gehört. Dabei müsste es doch eigentlich umgekehrt sein: Derjenige, der seine Matratze gesponsert hat, sollte den Kaffee ans Bett gebracht bekommen. Gedankenversunken steh ich in Jogginghose und Trägerhemd vorm Herd. Mein Blick wandert über den Geschirrberg. Der Kaffee kocht, die Milch steigt auf. Ich fülle Kaffee und Milch in drei Becher, aus denen wir noch einen Tag zu vor Wein getrunken haben. Dann schlurfe ich zurück zur Matratze und verteile den Kaffee an meine Bettgefährtinnen. Gerade will auch ich mich meinem morgendlichen Ritual würdevoll und in einer waagerechten Position hingeben, da klingelt mein Telefon. Es ist mein Freundin Anjes, die verkündet, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis wir zu viert sein werden.
Meine Wohnung ist zum Mittelpunkt unserer Feierei geworden. Ich genieße das und nippe an meinem Kaffee. So habe ich mir das immer vorgestellt. Offene Türen und ständiger Durchgangsverkehr meiner Lieblingsmenschen. Wir blödeln herum bis irgendwer findet, dass wir aufstehen müssen, weil ja der Karnevalszug gleich losgeht und wir ja noch nicht mal wissen, wie wir uns verkleiden sollen.
Um zwölf klingelt Anjes, begleitet von einer beachtlichen Auswahl ihres Kostümkabinetts. Anjes ist eine Sammlerin bei der zu jedem Anlass, der sie in Schale zwingt, immer schon die angemessene Schale vorhanden ist, und zwar ohne vorher eine Ahnung zu haben, wie diese Schale denn hinterher auszusehen hat. Anjes nennt das „Flow“ und ich habe keinen Zweifel daran, dass in den nächsten Momenten aus ihrem zufällig ausgewählten Sammelsurium eine grandiose Ein-Tages-Identität entstehen wird.
Ich habe derweil meine Essensreste aus dem Kühlschrank zu einem Frühstück zusammengeschustert. Sylvia schmiert mit dem letzten sauberen Messer Käsebrote und reicht jedem einzelnen sorgsam zusammengeschusterte Canapés. Wir brainstormen, wie man sich verkleiden könnte. Das Motto der diesjährigen Techno-Parade zum Odonien heißt „Pornobalken und Elfenohren“. Wer sich das nur wieder ausgedacht hat, denk ich während ich ratlos durch meinen Kleiderschrank grabe, ohne eine mich inspirierende Kategorie auswählen zu können. Aber weil Elfen dann doch irgendwie sympathischer als Pornobalken herüberkommen, brainstormen wir in einem zweiten Schritt, wie man das Kostüm einer Elfe mit den verfügbaren Mitteln umsetzen könnte.
Nebenbei versuche ich die Wohnung ein wenig zu ent-chaotisieren. Selbst die Hauptverkehrswege sind inzwischen mit Klamottenbergen und Karnevalskram überlagert. Anjes hockt auf dem Boden und pfriemelt an ihrem Kostüm. Antje sortiert ihre Frisur. Sylvia kramt durch Anjes Repertoire auf der Suche nach einem Outfit. Nebenbei schmiert sie Käsebrote und fegt die Küche. Obwohl Sylvia nur zwei Arme hat, ist sie gut darin, sämtliche Sachen auf einmal zu machen. Das liegt daran, dass es zwei Kategorien von Menschen gibt: Menschen die machen und Menschen, die sind. Und während ich mehr so „bin“, ist Sylvia eine von diesen mir völlig unverständlich erscheinenden Machern, die schon vorm Wochenende wissen, was sie machen und - und das ist das mir das Unverständliche daran - das dann auch wirklich machen. Ich hingegen verbrauche eine Menge Tipp ex um sämtliche Pläne wieder aus meinem Kalender zu retuschieren - zumindest am Anfang eines Jahres, dem schönen Kalender wegen, der dann am Ende eines Jahres wegen des pastosen Tipp ex-Auftrages sehr viel dicker geworden ist.
Nachdem sie fertig gefegt, belegt und ge-outfittet hat findet Sylvia, dass Elfen unbedingt von Efeu umgarnt werden und verschwindet im Garten. Wie sie darauf kommt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht deswegen weil Efeu und Elfe so ziemlich die gleichen Wörter sind? Es scheint als würde das Unterbewusstsein qua Wortstamm eine automatische Verbindung ziehen. Ich blicke auf. Antje schminkt sich neben Anjes. Antje, Anjes, Anjes, Antje: Ob man hier auch eine Verbindung qua Wortstamm ziehen könnte?
Ich schlüpfe in ein weißes Kleid, weil ich finde, dass Elfen weiß sind. Meine Haare verarbeite ich zu einer Hochsteckfrisur um die ich dann E(l)feu wickele. „Et voila, vor euch steht eine weiße Wald Elfe“ sag' ich und blicke erwartungsvoll zu den Freundinnen. „Oder ein Braut, die kurz vor der Hochzeit durch das angrenzende Waldstück die Flucht ergriffen hat, weil ihr die Idee von Zweisamkeit doch nicht so gut gefiel.“ antwortet Antje und grinst mich an.
Ich muss lachen, so sehr, dass mir der Efeu aus der Frisur fällt und in meinen Ausschnitt pickt und erkenne den lustig verpackten Wahrheitsgehalt. Ich denke an Kostüme und den ganzen Dreck, der darunter liegt. Wie viel Dreck wir doch alle unter unseren Kostümen tragen! Dabei ist es völlig irrelevant, ob an Karneval oder zur üblichen Saison. Ich frage mich, was Sascha wohl gerade macht, welches Kostüm er in den letzten Wochen seit der Trennung gewählt hat und verfalle in eine kurze Melancholie. Wie schade, denk‘ ich, dass mir unser gemeinsames Kostüm nicht gepasst hat.
Ein Käsebrot schiebt sich mir unter die Nase. „Hier meine Liebe, iss das und dann brauch' ich ein paar helfende Hände für die hier“. Die rettende Macherin wedelt mit etwas Rosa-Wabbeligem. Ich geh' einen Schritt zurück und erkenne spitze, anklebbare Elfenohren mit denen mir Sylvia vor den Augen herum wedelt. „Wo hast du die denn hergezaubert?“ frage ich verwundert. Sylvia grinst und antwortet: „Die Tiefen von Anjes Kostümkabinett sind unergründlich“. „Die Tiefen vergangener Karnevalsexzesse und Mottoparties anscheindend auch!“ erwidert Anjes amüsiert. „Wie dem auch sei, die Ohren hier will ich mir ankleben.“ fährt Sylvia an ihrer Mission festhaltend fort. Sie schlüpft demonstrativ mit ihren Ohren in ihre Elfenohren hinein, 'raus und wieder hinein, 'raus und wieder hinein. „Ohren zum Quadrat, verstehst Du?“ Sie blickt mich erwartungsvoll an.„Ok, habe verstanden“, antworte ich und beginne Mastix in Sylvias Fugen zu füllen.
Antje hat sich an Sylvia angelehnt und ordnet ihre Schlangen. Aus ihrer Hochsteckfrisur gucken wie schon in den letzten Karnevalstagen drei Schlangenköpfe aus Gummi. „Ich bin die Wald-Elfe in ihrer Dschungel-Version. Die Aussteiger-Edition für den minimalistischen Globetrotter.“ sagt sie und blickt in die Runde. „Bist Du das nicht schon die ganze Zeit“ erwidere ich lachend. Darauf Antje: „Ich dachte ich zieh einfach das Gleiche an und nenne es anders. Gleiches Produkt, andere Zielgruppe“. Ich schmunzele und frage: „Heißt das, dass Du jetzt auf Männer stehst?“ „Das kommt ganz drauf an, wie sie sich fortbewegen“, antwortet Antje. Antje ist eigentlich lesbisch, hat aber mal für einen Jungen eine Ausnahme gemacht, weil er auf Händen laufen konnte.
Und während ich mich köstlich amüsiere, bringt mich Sylvias plötzliche Kopfbewegung gänzlich aus dem Konzept. Angewidert deutet sie auf ihr Ohr und ich bemerke, dass ich offensichtlich schon seit einer Weile gedankenversunken Mastix über ihre Fugen hinaus verteilt habe. Ihr Ohr erinnert mich an meinen Kalender nach Wochenenden, die nicht nach Plan verliefen. Ich suche nach einem Feuchtetuch, um Sylvia von dem klebrigen Zeug zu befreien, durchstöbere die Hauptverkehrswege, stolpere über Anjes, die immer noch gedankenversunken ihr Kostüm perfektioniert, werde fündig und übe mich in Schadensbegrenzung.
Gleichzeitig erinnere ich an meine letzte Kleber-Haut-Entfernung-Situation. Damals war meine Freundin Lilli aus Berlin zu Gast und ihr ist während einer Bastel-Session der Sekundenkleber auf Haut und Hose gelaufen. Es stellte sich heraus, dass Sekundenkleber so etwas wie der Endgegner unter den Klebern ist. Als sämtliche Ideen der Entfernung scheiterten, haben wir seine Überreste und vermutlich auch die Haut die an ihnen dran hing mit einem elektrischen Hornhautentferner eliminiert. Überhaupt haben sich elektrische Hornhautentferner in der Vergangenheit als unsagbar praktisch erwiesen. Wenn ich da auch an eine WG-Geschichte zurückdenke, als eine Kommode um einen Zentimeter nicht in die Küche gepasst hat und wir sie dann ebenfalls mit einem Hornhautentferner so präpariert haben, dass sie sich in die zu knapp bemessende Ecke schmiegte muss ich feststellen, dass ich mit Hornhautentferner durchweg gute Erfahrungen gemacht habe. Wenn es eine Liste gäbe, von Dingen, die ich Einwandern empfehlen würde, der elektrische Hornhautentferner stände auf jeden Fall in den top ten der lebenswichtigen Gebrauchsgegenständen. Wer hätte gedacht, dass meine liebe Tante Hanna recht hatte, als sie mir Heiligabend mein Geschenk mit den Worten überreichte: „Sarah, schau. Ich hab dieses Jahr endlich etwas gefunden, was zu Dir passt und bei dem ich mir sicher bin, dass Du es gebrauchen kannst“. Aber in Sylvias Ohr mag ich ihn nicht halten, zumindest noch nicht, wo es so aussieht dass sich die meisten Rückstände mit einem Feuchtetuch aus ihrem Ohr Kanal puhlen lassen.
Indes flowt Anjes zur Wald Elfe par excellence. Zwar hatte ich bislang keine Vorstellungen, wie eine Wald Elfe auszusehen hat, aber jetzt, wo sie mir so präsentiert wird, fühle ich mich ganz schön dilettantisch in meinem gescheiterten Hochzeitsoutfit. „Wow“ sag ich und bewundere sie von allen Seiten. „Du siehst super aus“. Auch die anderen beiden sind von Anjes Erscheinung ganz ergriffen. In der Luft liegt eine wertschätzende Bewunderung, die irgendwo fern ab von Neid existiert. Wieder einmal bemerke ich, wie wohl ich mich mit meinen Freundinnen fühle und widme mich dem Finish Sylvias Elfenohren.
Die Zeit rennt. Es ist drei Uhr, der Karnevalszug ist ohne uns losgezogen und in meiner Bude hat eine Bombe eingeschlagen. Schnell werden die Hauptverkehrswege wieder freigemacht. Und während ich über die unterbewusste Verbindung von „Elfen“ und „helfen“ nachdenke, verlassen vier als Elfen präparierte Zugvögel meine Wohnung. Draußen scheint der erste Sonnentag im Jahr zu werden und irgendwo am Horizont weisen uns kleine schwarze Punkte den Weg. Jeder Punkt hat eine Geschichte. Meine ist diese hier.