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Zugvögel

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06.02.2002
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Zugvögel

Es hatte schon länger in der stickigen Luft zwischen uns gelegen; insofern gesellte sich zu meiner Überraschung auch eine gewisse Form der Erleichterung, als sie es endlich aussprach:
„Wenn das Leben aufhören sollte, deines zu sein, solltest du aufhören, es zu leben.“
Seltsam. Meine Mundwinkel zuckten, doch zu meiner eigenen Überraschung lachte ich nicht. Soviel wehtuende Erkenntnis... hatte sie mich überrumpelt?
Oft genug bin ich Schmerzen ausgewichen, doch immer wieder werde ich von ihnen eingeholt. Ich kann dem ganzen Dreck wohl nie entkommen, denn er ist immer Teil meiner selbst gewesen, klebt an mir, egal wie weit ich renne. Von Linn hätte ich jedoch nie erwartet, dass sie jemals so etwas sagen würde.
Vielleicht hatte sie es aus irgendeiner einer Zeitschrift, oder sonst wo aufgeschnappt.
„Wie meinst du das?“, werfe ich in die entstehende Stille, suche ihre Augen und hänge mich an meine Zigarette.
„So wie ich´s sag,“ lächelt sie, schaut auf den schmutzigen Boden. Ihre Blicke weichen aus.
Abermals nehme ich einen tiefen Zug.
„Meinst du, du hast genug?“, frage ich, und in mir wächst Unbehagen, diesem Gespräch nicht gewachsen zu sein. Erst jetzt sieht sie auf. In ihren Pupillen spiegelt sich der Abfall wider.
Nun ist es an mir, ihrem Blick auszuweichen. Ihre Stimme zittert unmerklich, wirkt viel zu schwach. „Wir machen uns doch was vor, Mark... wir haben uns die ganze Zeit was vorgemacht...“, sie greift nach einer Zigarette, streicht sich das Haar aus dem Gesicht, kramt eine Weile nach ihrem Feuerzeug.
„Sag, ist das dein Leben? Willst du, dass es so weitergeht für immer?“
Wieder dieses Lächeln, dann zieht sie an der Glut und starrt an meinem Kopf vorbei.
„Darüber hab ich echt noch nie nachgedacht,“ lüge ich.

Die Tür wird aufgerissen –
„Guten Tag, ist jemand zugestiegen?“

„Nein,“ antworten wir beide, automatisch, routiniert lächelnd, und der Kontrolleur verschwindet wieder.
„Hey Linn, Baby, was ist los?“
„Du verstehst mich nicht, oder? Du kannst es gar nicht anders, hm? Immer nur der Zug, immer auf dem Sprung, das ist doch kein Leben!“
Unsere Asche fällt zu Boden, wir schauen ihr hinterher.
„Besser als Straße,“ erwidere ich schließlich. Das hat bisher immer geholfen, aber irgendetwas sagt mir, dass es aus ist. Schnell setzte ich nach: „Du willst wieder zurück?“
Es ist unfair, verletzend, aber ich weiß sonst nichts mehr zu sagen.
Ich würde gerne das Fenster öffnen, zwinge mich stattdessen, sie anzusehen.
Schmerz, meine Zigarette ist abgebrannt, die Glut berührt fast meine Finger.
„Ich geh mal aufs Klo,“ sagt sie tonlos und doch irgendwie seufzend, steht auf, nimmt ihre Sachen, geht. Schließt die Tür hinter sich, ohne zurückzusehen, und lässt mich alleine.
Ich lasse den Zigarettenstummel fallen, zertrete ihn und bilde mir ein, sie aufatmen hören zu können, durch das Abteil hindurch, schließe die Augen.

Die Toilette ist schmierig und die Fahrt unruhig.
Sie wird sich ihren Schuss setzen und danach wiederkommen, rede ich mir ein.

Sie wird sich ihren gottverdammten Schuss setzen, wirken lassen, zurückkommen.
Dann ist alles gut.

Und doch kann ich mich nicht entspannen.
„Und wenn das Leben aufhören sollte, deines zu sein,“ so oder so ähnlich hatte sie es gesagt,
„solltest du aufhören, es zu leben.“

Ich sitze da und warte.
Nach einer Weile schmeiße ich mein letztes Teilchen. Ich weiß nicht, worauf ich warte, sehe durch das Glas nach draußen.
Es ist Abend, die Sterne ziehen Schnitte in das Schwarz des Himmels, fallen herab und verglühen neben den Gleisen.

Ich könnte nachschauen, ob sie noch da ist, doch wie viele Bahnhöfe sind schon verflogen?
Ich beschließe, beim nächsten auszusteigen und mir einen neuen Stern zu suchen.

 

Wow, was für eine schöne, traurige und tiefgehende geschichte.
Sie hat mich richtig mitgenommen.
Sie wird bestimmt auch noch nahchallen.
Und es macht mich kribbelig, das du dem Leser im Unklaren lässt, ob sie noch da ist oder nicht.
Ich hatte auch daran gedahct, das sie tot sein könnte.
Vieleicht hat sie sich den goldenen Schuß gesetzt?

Wie gesagt,
tolle Geschichte
Rub.

 

Hi Rub.,
schön, dass sie dir gefallen hat, und das einige der beabsichtigten Möglichkeiten der Geschichte auch vom Leser nachvollzogen werden können...
nun denn, ich will mal hoffen, die Story versinkt nicht nach einmal gelesen werden in der Versenkung ;)

 

hi para,

eine irrsinnig gefühlvolle geschichte. in dieser einen szene, wird einem alles vermittelt, was diese menschen bedrückt, alles was zwischen ist/war/verloren ging...

eine dieser geschichten, die den leser das leben spüren lassen.

ein paar fragezeichen habe ich aber noch im hinterkopf, über die ich wohl noch nachdenken werde müssen, ich musste nur sofort was posten, weil ich so beeindruckt war von deiner story...

 

Hey Paranova,
ich kann mich nur der allgemeinen Meinung anschließend. Solche Geschichten sind es, die einen für eine lange Zeit nicht mehr loslassen und zum Nachdenken zwingen. Besonders gefallen hat mir die tiefgründige Symbolik der Zigarette oder der Zugfahrt. Aufhorchen lassen hat mich der Vergleich zwischen Straße und Schiene. Besonders die auf der Strasse vorhandene Möglichkeit des Abbiegens, Stehenbleibens, schneller und langsamer Fahrens oder Umdrehens im Kontrast zu der Gradlinigkeit und Vorherbestimmtheit der eisernen Schienenstränge. Eine absolut gelungene Geschichte, meinen Glückwunsch.
Gruß Prodi

 

hallo Paranova, es ist platt zu sagen "ich schließe mich den Vorrednern an" - trotzdem ist es so. Tolle Geschichte. Was Prodi zum Thema Straße/Schiene sagt ist ebenfalls interessant. Im Zusammenhang mit Drogen, hört man viel von "Strassenkindern" - hat man je schon mal von "Schienenkindern" gehört? Die Kinder vom Bahnhof Zoo sind hier vielleicht ein Bindeglied zwischen Schiene und Straße? Mich hat Deine Geschichte berührt - ich danke Dir dafür. Gruß. Ernst Clemens

 

Grüß dich, Kristin.
Wundert mich, dass du die alte Story rausgekramt hast.
Hey, warum verstehst du mich nicht? :) :confused:
Mal soviel: drogensüchtig sind sie beide, und vielleicht ist die Schiene ihr zuhause?
Eine kurzfristige Bekannte ist die Frau nicht, denn sonst würde sie ihn nicht so gut kennen, dass ihr Spruch sitzt.
Hoffe, dass reicht dir für´s erste? Wenn nicht, musst du leider eine Woche warten... *droh*
Bis dahin viele schöne Tage,
para

 

ich habe schon verstanden, dass die beiden sich lange kennen, da ist ja eine gewisse Vertrautheit im Text. Ich habe nur nicht verstanden, warum sie dann miteinander zugfahren.
:lol:
Woher sollen Drogenabhängige das Geld für den Zug nehmen
Es geht ( beabsichtigterweise ) nicht aus dem Text hervor, dass sie wirklich bezahlt haben ( siehe Szene "Schaffner" ) :teach: :naughty: :p

Naja, gut, ich kapituliere. Trotzdem musst du warten. Ich muss denken...
para

 

Tata...
Eine Woche ununterbrochenes Nachdenken manifestiert sich in weisen Worten.

Ergebnis:

Muss man sich immer dem Diktat des Sinnes beugen?

 

Hey Para.
Mir gefiel der behutsame Stil deiner erzählung und die kernaussage darin, dass man sich fragen sollte ob es wirklich das eigen leben ist, das man aus gewohnheit so zu leben pflegt, wie man es gerade tut.
Das "aufhören, es zu leben" schliesst nämlich die Veränderung und die Kraft zur veränderung mit ein und ich bin die dankbar für diese Option, die alles offenlässt.

Danke dafür.
Lord

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke Lord.
Ab und wann überwinde ich noch meinen Zynismus und lasse hoffnungsvolle (?) Optionen offen.
Es kam mir auch darauf an, die von dir erwähnten Gedankengänge beim Leser zu provozieren. Kristin hat jedoch recht, einer nüchternen Betrachtung des Was und Wie hält die Geschichte nicht unbedingt stand.
Liebe Grüße,
para

 

Servus Paranova!

Eine romantisch wirkende und doch sehr realitätsbezogene Geschichte die mir sehr gut gefällt.

Die Szenerie in welcher sie ihr beider Leben als lebenwert in Frage stellt, lässt zwei Optionen offen: Veränderung oder Beenden. Nur das Beibehalten des derzeit gelebten Lebens scheint undenkbar.

In Verbindung mit dem Zug drängt sich regelrecht eine Weichenstellung auf, jeder entscheidet welcher Schiene er künftig folgen wird.

Sehr gekonnt erzählt, trotz einer gewissen Distanz war viel Gefühl verspürbar.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hi Para.
Oftmals ist es doch gerade das unvollkommene, was in uns etwas in die Richtige Richtung schubst, oder nicht?
Schliesslich genügt es meistens, einfach nur in die Richtung zu zeigen, gehen muss jeder für sich, jeder entscheidet zu welchem zeitpunkt er gehen will/ kann, und wie weit ... dafür sind doch unsere Geschichten auch da... füreinander sprechen und erzählen, aufzeigen, nachdenklich machen... nicht um zu zeigen, wie toll wir sind...
l.G. Lord

 

Hallo Lord,
dazu bleibt mir nichts mehr zu sagen.
Dein Optimismus macht dich aus, denke ich. Bewahre ihn dir, auch wenn ich ihn nicht gefährdet sehe.
Liebe Grüße,
para

 

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