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Zugvögel
Es hatte schon länger in der stickigen Luft zwischen uns gelegen; insofern gesellte sich zu meiner Überraschung auch eine gewisse Form der Erleichterung, als sie es endlich aussprach:
„Wenn das Leben aufhören sollte, deines zu sein, solltest du aufhören, es zu leben.“
Seltsam. Meine Mundwinkel zuckten, doch zu meiner eigenen Überraschung lachte ich nicht. Soviel wehtuende Erkenntnis... hatte sie mich überrumpelt?
Oft genug bin ich Schmerzen ausgewichen, doch immer wieder werde ich von ihnen eingeholt. Ich kann dem ganzen Dreck wohl nie entkommen, denn er ist immer Teil meiner selbst gewesen, klebt an mir, egal wie weit ich renne. Von Linn hätte ich jedoch nie erwartet, dass sie jemals so etwas sagen würde.
Vielleicht hatte sie es aus irgendeiner einer Zeitschrift, oder sonst wo aufgeschnappt.
„Wie meinst du das?“, werfe ich in die entstehende Stille, suche ihre Augen und hänge mich an meine Zigarette.
„So wie ich´s sag,“ lächelt sie, schaut auf den schmutzigen Boden. Ihre Blicke weichen aus.
Abermals nehme ich einen tiefen Zug.
„Meinst du, du hast genug?“, frage ich, und in mir wächst Unbehagen, diesem Gespräch nicht gewachsen zu sein. Erst jetzt sieht sie auf. In ihren Pupillen spiegelt sich der Abfall wider.
Nun ist es an mir, ihrem Blick auszuweichen. Ihre Stimme zittert unmerklich, wirkt viel zu schwach. „Wir machen uns doch was vor, Mark... wir haben uns die ganze Zeit was vorgemacht...“, sie greift nach einer Zigarette, streicht sich das Haar aus dem Gesicht, kramt eine Weile nach ihrem Feuerzeug.
„Sag, ist das dein Leben? Willst du, dass es so weitergeht für immer?“
Wieder dieses Lächeln, dann zieht sie an der Glut und starrt an meinem Kopf vorbei.
„Darüber hab ich echt noch nie nachgedacht,“ lüge ich.
Die Tür wird aufgerissen –
„Guten Tag, ist jemand zugestiegen?“
„Nein,“ antworten wir beide, automatisch, routiniert lächelnd, und der Kontrolleur verschwindet wieder.
„Hey Linn, Baby, was ist los?“
„Du verstehst mich nicht, oder? Du kannst es gar nicht anders, hm? Immer nur der Zug, immer auf dem Sprung, das ist doch kein Leben!“
Unsere Asche fällt zu Boden, wir schauen ihr hinterher.
„Besser als Straße,“ erwidere ich schließlich. Das hat bisher immer geholfen, aber irgendetwas sagt mir, dass es aus ist. Schnell setzte ich nach: „Du willst wieder zurück?“
Es ist unfair, verletzend, aber ich weiß sonst nichts mehr zu sagen.
Ich würde gerne das Fenster öffnen, zwinge mich stattdessen, sie anzusehen.
Schmerz, meine Zigarette ist abgebrannt, die Glut berührt fast meine Finger.
„Ich geh mal aufs Klo,“ sagt sie tonlos und doch irgendwie seufzend, steht auf, nimmt ihre Sachen, geht. Schließt die Tür hinter sich, ohne zurückzusehen, und lässt mich alleine.
Ich lasse den Zigarettenstummel fallen, zertrete ihn und bilde mir ein, sie aufatmen hören zu können, durch das Abteil hindurch, schließe die Augen.
Die Toilette ist schmierig und die Fahrt unruhig.
Sie wird sich ihren Schuss setzen und danach wiederkommen, rede ich mir ein.
Sie wird sich ihren gottverdammten Schuss setzen, wirken lassen, zurückkommen.
Dann ist alles gut.
Und doch kann ich mich nicht entspannen.
„Und wenn das Leben aufhören sollte, deines zu sein,“ so oder so ähnlich hatte sie es gesagt,
„solltest du aufhören, es zu leben.“
Ich sitze da und warte.
Nach einer Weile schmeiße ich mein letztes Teilchen. Ich weiß nicht, worauf ich warte, sehe durch das Glas nach draußen.
Es ist Abend, die Sterne ziehen Schnitte in das Schwarz des Himmels, fallen herab und verglühen neben den Gleisen.
Ich könnte nachschauen, ob sie noch da ist, doch wie viele Bahnhöfe sind schon verflogen?
Ich beschließe, beim nächsten auszusteigen und mir einen neuen Stern zu suchen.