Zugvögel
Der Regen tropfte gegen die Scheiben und verwischte die Bäume und die Felder draußen. Ich beobachtete die Tropfen, wie sie sich sammelten und dann in kleinen Bächen von den Scheiben flossen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten liebe ich den Regen. Er hat so etwas befreiendes, als würde er alle schlechten Gefühle einfach fortspülen.
Die Frau, die mir in dem Zugabteil gegenüber saß sang leise, fast verträumt ein französisches Kinderlied. und schaukelte dabei ihren Sohn auf ihrem Schoß. Ihre raue Stimme hatte eine Art innerer Ruhe, obwohl der Frau anzusehen war, dass sie sehr temperamentvoll sein konnte. Das Lied erinnerte mich an meine eigene Kindheit, an die Unbeschwertheit, das Herumtollen und abends mit einer Honigmilch einschlafen. Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich zurück und genoss den Moment der Ruhe und Zufriedenheit.
Nach einer Weile war der Junge eingeschlafen und die Frau hörte auf zu singen. Ich lächelte ihr zu und sie lächelte zurück.
Als der Zug hielt, guckte ich durch die nassen Scheiben auf das Bahnhofsschild. Jena Paradies. Ein bezaubernder Grund zum Lächeln. Noch ca. vier Stunden bis München.
München- eine Stadt die all meine Träume verwirklichen sollte.
Ich schreibe Kinderbücher- kurze Geschichten mit Abenteuern und Kindern und Wäldern. Ein Verlag in München hatte Interesse gezeigt. Stolz blickte ich auf meinen Aktenkoffer voller Manuskripte. Man stelle sich vor, Marla Rosenwein, die berühmte Schriftstellerin deren Kinderbücher auch Erwachsene bewegen... Ich sah die Schlagzeilen ganz deutlich vor mir. Auf dem Boden der Vernunft zurückgekommen blickte ich direkt in die Augen eines weiteren Fahrgastes in meinem Abteil. Er sah mich ebenfalls an und lächelte spitzbubig wie ein kleiner Junge. Etwas überrascht drehte ich meinen Kopf schnell weg. Der Zug kam wieder ins Rollen und die Felder flogen an mir vorbei, als würden sie so schnell wir möglich die Welt kennen lernen wollen. Erst als ich sicher war, dass der neue Fahrgast mich nicht mehr beobachtete, wagte ich einen erneuten Blick auf ihn. Er sah unanzweifelbar gut aus, obwohl er keine klassische Schönheit war. Seine schwarzen Haare scheinen keinen Regeln zu befolgen und lagen Kreuz und quer. Er war braun gebrannt und hatte etwas von einem Abenteurer aus längst vergessenen Zeiten. In seinen Händen hielt er ein Buch über Zugvögel, das er fasziniert las. Doch plötzlich sah er kurz auf und unsere Blicke streiften sich. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Französin mit ihrem Sohn nicht mehr im Abteil saß.
„Hallo“, sagte er mit einer tiefen, angenehmen Stimme. Ich lächelte etwas unsicher. Dann wendete er sich wieder seinem Buch zu. Sein Gesicht wirkte unrasiert, ohne dass er einen Bart hatte. Es hatte aufgehört zu regnen, stattdessen kämpfte sich jetzt die Sonne durch die Wolken. Mit der Sonne kroch mein Mut zurück. Ich wendete mich an den lesenden Mann. „Sie sind Naturforscher?“ Er sah etwas erstaunt auf. „Nein, ich interessiere mich nur für Zugvögel. Es ist die Freiheit, die mich so an ihnen fasziniert.“ Er machte eine kurze Pause. Ich guckte ihn interessiert an. Er fuhr fort. „Wissen sie, Zugvögel fliegen einfach los, wenn es ihnen zu kalt wird irgendwo und dann kommen sie irgendwo an, wo es wärmer ist und ihnen gefällt. Sie sind viel freier, als Menschen es jemals sein könnten. Hier, sehen sie sich den Kranich an“ Er zeigte mir eine Seite aus seinem Buch, auf dem ein großer weißer Vogel abgebildet war. „Bevor Kraniche in den Süden ziehen, sammeln sie sich in riesigen Scharen auf den Sammelplätzen bei Rügen und Stralsund. Von dort aus ziehen sie in Schwärmen nach Spanien oder Portugal. Einfach ins Warme, ohne sich vorher Urlaub nehmen zu müssen oder die Haushaltskasse auf den Kopf zu stellen. Das ist Freiheit für mich“, betonte er strahlend, „genau das ist die wirkliche und vollkommene Freiheit.“ Ich legte den Kopf schief und sah in seine glänzenden Augen. „Und Sie wollen genauso frei sein und sind deswegen in diesen Zug gestiegen?“ Sein Blick verschleierte sich etwas, doch dann sah er auf, als sei ihm etwas besonders wichtiges eingefallen. „Genau!“ jauchzte er begeistert. „Ich fahre solange, bis mir ein Ort gefällt und dann schlage ich mein Zelt auf. Und wenn es mir dort nicht mehr gefällt, ziehe ich eben weiter. Ich lasse mich einfach von diesem Leben treiben, nehme ab und zu einen Aushilfsjob an. Und ich werde nirgendwo..“ Er atmete tief ein und strahlte mich an „nirgendwo länger bleiben als drei Wochen. Ich werde beinahe so frei sein wie diese Zugvögel.“ Er zeigte mit einer Handbewegung auf sein Buch. „Na ja..“ antwortete ich belustigt von seinem Freudensausbruch, „gewissermaßen sind Sie ja schon fast ein Zugvogel. Immerhin sitzen sie in einem Zug. Und Sie sind frei.“ Er lachte laut und schallend auf. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er aufgesprungen wäre, um einen Tanz aufzuführen, so glücklich schien er. Vielleicht ist die Freiheit das, was uns Menschen wirklich glücklich macht. Etwas wehmütig betrachtete ich mein Leben. Es war schön, meistens jedenfalls, aber es war geplant und würde nie mehr so frei sein wie das Leben, des Mannes mir gegenüber. Etwas wie Eifersucht kroch mir den Hals hoch. „Ich werde es genießen.“ schloss er seine Rede. „Ich werde es genießen und für den Rest meins Lebens glücklich sein.“ In diesem Moment bewunderte und beneidete ich ihn, wie ich es noch nie getan hatte. Neid ist des Glückes Ende hatte meine Sprichwort-fanatische Großtante immer gesagt. Und: Von einer Reise kommt man nie so zurück, wie man fortgefahren ist. Der Mann, von dem ich immer noch nicht den Namen erfahren hatte, guckte auf einen leeren Punkt links über mir. Seine Augen glänzten, wie die eines kleinen Jungen der seine Weihnachtsgeschenke betrachten durfte. Als die Schiebetür des Abteils geöffnet wurde, zuckten wir beide erschrocken zusammen. In derTür stand eine relativ große und schlanke Frau. Ihre Haare hatte sie wild zusammengesteckt und als sie den Mann sah, verzog sich ihr Gesicht genervt. „Schatz, was tust du denn hier? Die Kinder quengeln und wollen die Kekse aufessen, Ich habe ihnen jetzt schon zum dritten mal erklärt, das deine Mutter sicher für uns gekocht hat und sie dann kein Hunger mehr haben.“ Sie redete erstaunlich schnell und schien sehr gestresst. Mir warf sie einen kurzen, verächtlichen Blick zu.. Zu meiner Überraschung stand der Mann auf, gab ihr einen kurzen, aber liebevollen Kuss auf den Mund und schob sie dann in den Gang. Mir warf er ein bedauerndes Lächeln zu und zuckte leicht mit den Achseln. Dann waren beide verschwunden. Unbewegt sah ich ihnen hinterher. Erst dann wurde mir klar, was eben geschehen war . Plötzlich freute ich mich wahnsinnig auf München und über mein Leben und über die Welt. Ich fing an zu lachen und blinzelte der Sonne zu, die letztendlich gegen die Wolken gewonnen hatte und strahlte, als wollte sie den Rest der Welt auch noch glücklich machen.