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Zughausen
Im Westen war es besser. Natürlich waren die meisten Erwachsenen dort drogensüchtig oder arbeitslos – aber wie schlimm konnte das schon sein, wenn es Ritter-Sport-Schokolade gab und Apfelsinen und Spielzeug von Mattell, das so toll war, dass man es nur flüstern durfte: von Mattell, und sogar das Haarshampoo war so herrlich, dass im Fernsehen Lieder darüber gesungen wurden. Da wäre ich gerne gewesen, im Westen, aber noch viel lieber war ich in diesen Ferien bei meiner Oma, die auf einem richtigen Dorf wohnte, wo Hühner herumflatterten und Schweine mit Matsch und zerdrückten Kartoffeln gefüttert wurden und wo es Kühe gab, die ihre dampfenden Fladen einfach auf die staubige Straße fallen ließen, wenn sie zur Weide spazierten. Aber vor allem gab es Frank, der einen Welpen auf dem Arm hielt und mich schief angrinste, als er am Haus meiner Oma vorbeikam.
„Zeig mal!“, sagte ich. Es war ein kleiner schwarz-brauner Mischling, weich und warm und so lieb, dass ich fast geheult hätte.
„Den hab ich gerettet“, sagte Frank. „Die wollten den ertränken.“
Ich war sieben Jahre alt und sofort restlos verliebt.
„Der ist sitzengeblieben“, sagte Oma und guckte so, als wäre damit alles gesagt. „Du kannst vielleicht mal mit der Enkelin vom Bürgermeister spielen, die ist ja auch gerade zu Besuch. Übrigens, hier ist Post für dich, mein Schnuffel!“ Es war eine Postkarte aus der Tschechoslowakei, Vysoke Tatry stand darauf und auf dem Foto waren richtig hohe Berge zu sehen, wie in der Toblerone-Werbung. Dort machten Mama, Papa und Benny Urlaub, sie zelteten an einem See und gingen im Gebirge wandern. Wir hatten entschieden, dass ich in diesem Sommer bei Oma bleiben würde, weil es mir hier ja sowieso immer am besten gefiel und weil mir bei langen Autofahrten meistens schlecht wurde. Ich war gar nicht neidisch, und Benny war froh, dass er mehr Platz hatte hinten im Auto und im Zelt – allerdings hatte er jetzt auch niemanden, mit dem er stänkern konnte. Geschah ihm recht!
Bestimmt würden sie mir etwas echt Tschechoslowakisches mitbringen - ich war ganz gespannt und freute mich schon - aber vor allem war ich einfach nur glücklich, dass ich hiergeblieben war, wegen Frank und wegen Rocky. So nannten wir den kleinen Hund.
„Wir brauchen noch einen Zug“, sagte ich und Frank rannte ins Haus und kam mit einer Streichholzschachtel wieder.
„Das ist unser Matchbox-Zug“, sagte er. „Matchbox heißt auf Englisch Streichholzschachtel.“
Dafür, dass er ein Sitzenbleiber war, wusste er ganz schön viel.
„Die im Westen haben’s gut, mit richtigen Matchboxen und so“, sagte er, „und die Leute dürfen dort alles laut sagen, was sie wollen.“
„Auch Scheiße?“, fragte ich.
„Ja“, sagte Frank, „sogar Arschloch.“
Als wir Hunger hatten, gingen wir in die große Küche, in der es nach runzligen Äpfeln und getrocknetem Brot roch, und nahmen uns ein paar Stücke von dem angebrannten Kuchen, der dort immer auf der Anrichte stand.
Unser Dorf war vollkommen. Wir nannten es Zughausen.
„Woher kommt der Zug?“, fragte ich mit vollem Mund, als Frank die Streichholzschachtel auf das Gleisstück legte.
„Amerika“, sagte er. Das gefiel mir.
„Und wohin fährt der?“
„Gar nicht weiter“, sagte Frank, „der hört hier auf. Zughausen, das reicht.“
An diesem Nachmittag musste ich mit der Enkelin vom Bürgermeister spielen. Oma hatte das so verabredet.
Mir tat es leid um die schöne Zeit, die ich nicht mit Frank in Zughausen sein konnte, und vorsichtshalber steckte ich das Eisenbahngleis ein und die Kuh und den Cowboy, um mit dem Mädchen überhaupt etwas spielen zu können, falls sie bei ihren Großeltern nur Omaspielzeug haben sollte.
Zuerst aßen wir im Bürgermeistergarten Kuchen, ganz ordentlich am Tisch und mit Geschirr, und wir wussten beide nicht, was wir sagen sollten, außer Bitte und Hm.
Sie hatte eine Barbie-Puppe aus dem Westen. Nina zuhause hatte auch so eine und ich kannte Barbies natürlich aus dem Fernsehen und fand sie absolut toll. Begeistert packte ich mein Zughausen-Zubehör aus und erklärte dem Mädchen alles und schlug vor, dass die Barbie den Cowboy und die Kuh besuchen käme, egal, dass sie etwas größer wäre, sie könnte ja sitzen, wir würden nur noch einen Zug brauchen und müssten vielleicht ein paar Bäume pflanzen …
„Ich kann doch hier nicht einfach Zweige abreißen“, sagte sie, und als ich die Barbie auf den Boden setzen wollte, meckerte sie: „Nicht! Die wird ja ganz schmutzig!“, und dann schüttelte sie den Kopf und sagte: „Zughausen ist doof!“
„Und Barbies sind bescheuert!“, rief ich und stieß meine Schuhspitze in den Boden, sodass die Enkelin vom Bürgermeister und ihre Barbie eine richtige kleine Staubwolke abbekamen.
Am Abend schaute ich mit Oma Fernsehen. Das Schönste war die Werbung, ich konnte das meiste auswendig und sagte es ganz schnell auf, bevor die im Fernsehen damit fertig waren, um Oma zu beeindrucken. Zuhause spielte ich das ja immer mit Benny: wer es am schnellsten sagen konnte. Ich war richtig gut: Fruchtzwerge von Gervais – so wertvoll wie ein kleines Steak, Auf diese Steine können Sie bauen – Schwäbisch Hall, Barbie, Barbie – der große Barbie-Modesommer …
„Oma, versprichst du mir, dass ich nicht mehr mit der blöden Kuh spielen muss?"
„Musst du nicht, mein Schnuffel, spiel du mal lieber mit deinem Frank", lachte Oma und zerwuselte mir die Haare, und dann kam die Tagesschau. Da durfte ich meistens nicht sprechen, und wenn ich es tat, runzelte Oma manchmal richtig streng die Stirn wie eine alte Lehrerin. Ich malte weiter an meinem Bild von Zughausen, das ich Mama und Papa schenken wollte. Ich hatte noch nie einen Indianer gemalt, das war ziemlich schwer, mit dem komplizierten Federschmuck und der fransigen Kleidung. Der Nachrichtensprecher redete die meiste Zeit von einer Botschaft in Prag, in der sich ganz viele Leute aus der DDR versammelt hatten, weil sie in den Westen wollten. Ich fand das komisch – eine Botschaft war ja eigentlich so etwas wie eine Nachricht oder ein Brief …
„Oma, wieso sagen die denn Botschaft, wenn das doch eigentlich ein ganz normales Haus ist?“
„Psst!“
Zu sehen war ja nur ein altes Haus, fast wie ein Schloss, mit großen Fenstern und Zelten hinter einem hohen Zaun, in denen wahrscheinlich diejenigen Leute schliefen, die nicht mehr in diese Botschaft gepasst hatten. Das ging ja auch gar nicht. Der Indianer war mir wirklich nicht sehr gut gelungen, aber Mama und Papa würden das sicher nicht so schlimm finden, der Rest war ja schön.
Manchmal kam Rocky angerannt, wild und begeistert und tapsig, wedelte mit seinem Schwanz die Bäume um, stieß mit den Pfoten gegen alles andere und trank den See leer, und wir kitzelten ihn durch, bis er nicht mehr konnte, und bauten das Dorf wieder auf.
Wir sammelten Marienkäfer und setzten sie in ein kleines Viereck neben dem Holzhaus, das wir mit einem Zaun aus dünnen Zweigen abgegrenzt hatten und das jetzt der Hühnerhof von Zughausen war.
Wir hörten die Käfer leise gackern, der Soldat sammelte die Eier ein und der Indianer kam zum Füttern und streute ein bisschen Sand über die Hühner. Sie liefen umher und putzten ihr rot-schwarzes Gefieder, bis eines nach dem anderen seine Schwingen ausbreitete und davonflog.
„Alle abgehauen“, sagte Frank, als kein Huhn mehr da war.
Am Wochenende würde Papa kommen und mich wieder nach Hause holen. Ich hatte ihnen so viel zu erzählen - ich freute mich jetzt sogar auf Benny! Doch dann sagte mir Oma, dass sich etwas ergeben hätte wegen einer besonders seltenen Gesteinsart, die Papa beim Wandern in der Hohen Tatra entdeckt hatte. Er war ja Geologe, und nun müsste er mit den tschechoslowakischen Kollegen noch einige Zeit über diese Entdeckung reden und alles Mögliche aufschreiben und Vorträge halten.
Benny würde für ein paar Wochen dort zur Schule gehen, ja, es gäbe da auch eine für deutsche Kinder, Mama verlängerte ihren Urlaub und ich müsste für diese Zeit eben hier die Schule besuchen.
Zughausen verschwamm im Regen, meine Tränen fielen auf das Papier – ich war fast fertig mit der Zeichnung, aber nun liefen die Farben ineinander und verwischten die Konturen und alles war vermatscht.
Ich zerknüllte das dämliche Bild. Es taugte nichts und der blöde Indianer sah sowieso ganz beschissen aus. Beschissener Scheiß-Arschloch-Indianer!
Irgendwann zerfaserte meine Traurigkeit wie die Farben auf der Zeichnung, als sich ein Tropfen Freude dazwischen mischte, der sich immer weiter ausbreitete: Ich würde mit Frank zusammen in die Schule gehen! Er erzählte mir vom Musiklehrer, der kein bisschen singen konnte, von der Deutschlehrerin, die manchmal Kirschen mitbrachte, und von Anja, die weiter spucken konnte als alle Jungs.
Wir rasten auf alten Fahrrädern über holprige Dorfstraßen in den Nachbarort, unsere Schutzbleche schepperten laut und wir sangen dazu Mars macht Mobil, bei Arbeit, Sport und Spiel, ich lernte, freihändig zu fahren, manchmal jagten wir ein paar Hühner, die nicht schnell genug abhauen konnten, fuhren absichtlich durch Pfützen und einmal blieben wir im Stau stecken und kamen zu spät zur Schule, weil eine riesige Schafherde blökend die Straße entlangbummelte.
Frank wurde richtig gut im Lesen und Schreiben und manchmal sogar im Rechnen, weil er ja jetzt mich zum Vorsagen hatte.
„Tief im Westen“, sangen wir auf der Heimfahrt, „wo die Sonne verstaucht, ist es besser, viel besser als man glaubt, tief im Westehehen, tief im Westehehen“ – aber so tief schafften es unsere Stimmen einfach nicht und wir machten lieber weiter mit Klingelingeling, Klingelingeling, hier kommt der Eiermann.
Als wir nach Hause kamen, flitzte Rocky vor Freude im Kreis herum, stolperte über seine eigenen Pfoten, sprang an uns hoch bis zu den Nasen und versuchte, uns vollständig abzulecken.
Latz Lieblingsknochen – Latz und Liebe lassen Tiere lange leben!
Ob die Westhunde eigentlich wussten, dass sie so tolles Futter hatten? Zum Glück war Rocky auch mit seinem Ostfressen ein wunderschöner, gesunder Hund und würde bestimmt uralt werden.
Mein neues Bild von Zughausen war fast fertig. Ich hatte den Indianer ein paarmal auf Schmierpapier ausprobiert und erst dann in das richtige Bild hineingemalt. Er sah wie echt aus. Vielleicht würde ich ja später einmal eine berühmte Indianermalerin sein.
„Oma, wie alt können Hunde eigent…“
„Psssssst!“
„ … mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“
Oma war doof – das konnte ja sowieso niemand verstehen, was der langweilige Anzugmann von dem Schlossbalkon herunter rief, weil die ganzen Jeans-Leute plötzlich johlten und pfiffen und herumtanzten wie eine riesige Erwachsenenschulklasse beim letzten Pausenklingeln vor den Sommerferien.
Man sah die ganze Zeit nur Züge, vollgestopft mit Leuten, die aus den Fenstern schauten und winkten und sich freuten, weil sie jetzt in den Westen fahren durften und nicht mehr in der doofen Botschaft bleiben mussten, und ich freute mich ein bisschen für sie mit, weil sie alle so glücklich und begeistert aussahen, und die schönsten Gesichter wurden ganz groß gezeigt und passten kaum noch in den Fernsehapparat.
„Mama …? … Oma …! Da ist Mama!!! Oma - warum ist Mama im Westfernsehen in einem Zug?“
Oma sagte nichts, nicht einmal Psst, aber sie nahm mich plötzlich in den Arm und die Falten auf ihren Wangen glänzten nass.
Mama sah in Schwarzweiß noch hübscher aus, wie eine Schauspielerin von früher, ihr Geruch kam aus dem Fernseher und ich liebte sie mehr als ich vorher gewusst hatte, und ich fragte mich, wann sie anfangen würde zu singen Schönes Haar ist dir gegeben, aber dann war sie weg.
„Sie holen dich nach“, sagte Oma immer wieder.
„Sie werden dafür sorgen, dass du nachkommen kannst.“
Ich glaubte ihr nicht.
Mama und Papa und Benny waren jetzt eine andere Familie. Eine Westfamilie, die joghurtleichte Schokolade zu sich nahm und Chipsletten von Bahlsen - die oder keine, eine Familie, die wundervolle Zahnpasta benutzte, damit sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen konnte. Bestimmt hatten sie jetzt eine Moulinette, um endlich alles perfekt zu pürieren und passieren, und sicher sagten sie den ganzen Tag Scheiße und Drecksau, sie waren tief im Westen mit einem Pulsschlag aus Stahl, und vielleicht waren sie auch längst drogensüchtig, und wozu brauchten sie dann noch ein staubiges Ostkind?
Ich würde für immer hierbleiben.
Ich würde mit Frank zusammen sitzenbleiben und dann würden wir heiraten und in Zughausen wohnen und Indianerbilder verkaufen, wir hätten viele Kinder und könnten mit Rocky spielen und bei schönem Wetter am Abend zusammen auf dem Gleis vor unserem Haus hocken, verbrannten Kuchen essen und der Sonne beim Untergehen zusehen.
Sonntags würden wir die Enkelin vom Bürgermeister mit Dreck bewerfen.