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Zugfahrt
Zugfahrt
Ich hieve meinen Koffer das eiserne Treppchen hinauf in den Zug und suche nach einem freien Abteil. Endlich wieder einmal raus aus dieser Stadt. Mein Ziel ist ein kleiner Ort in den Bergen, wo ich ein Ferienhäuschen gemietet habe.
Der Zug rollt an und ich verliere das Gleichgewicht. Fluchend halte ich mich an einer Abteiltüre fest und gehe weiter. Auch im dritten Waggon finde ich kein freies Abteil, aber schließlich habe ich Erfolg und betrete ein Abteil, das bis auf einen Mann am Fenster unbesetzt ist. Erleichtert stemme ich den Koffer auf die Ablage und lasse mich auf einen Sitz in Fahrtrichtung fallen. Der Mann gegenüber, ich schätze ihn auf Mitte vierzig, gibt mit keiner Regung zu erkennen, dass er mich bemerkt hat.
Das Schweigen ist mir unangenehm, ich räuspere mich laut.
"Guten Tag". Ich versuche herzlich zu klingen, was mir aber irgendwie, es mag an der unangenehmen Ausstrahlung meines Gegenübers liegen, misslingt.
"Hm. Ihnen auch." Er sieht mich nicht an, während er spricht. Seine rauhe Stimme klingt unbeteiligt.
"Ähm... Wo fahren Sie hin?", versuche ich, ein Gespräch anzufangen.
"Feldkirch," erwidert er knapp.
"Darf ich fragen, was Sie dorthin treibt?" Es war noch nie meine Stärke gewesen, dezente Fragen zu stellen.
"Sie dürfen."
"Was treibt Sie dorthin?"
"Besuche meine Schwester".
"Ah, ich habe auch Verwandte dort. Wo wohnt sie denn?"
"Friedhof".
"Oh." Ich senke den Blick.
"Hm."
Unangenehme Stille.
"Entschuldigen Sie, wenn ich frage, aber wie ist sie gestorben?"
Er schluckt. "Es war ein Autounfall."
"Das tut mir leid", sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.
"Vor einem Monat", fügt er hinzu. Seine Stimme klingt verbittert. "Seitdem besuche ich sie jeden Tag."
"Jeden Tag?"
"Um mich zu erinnern." Ein Ausdruck von Traurigkeit legt sich um seine Mundwinkel.
"..."
"An das blaugrün karierte Muster der Sitze im Zugabteil. An die gelben Felder, die hinter den Fenstern vorbeiziehen, an die Masten neben den Gleisen." Er wendet den Kopf dem Fenster zu. "An die Linden, die hinter den Feldern stehen."
Verwirrt sehe ich ihn an und hätte gern eine Frage, nach dem Warum gestellt, doch mir fallen nicht die Worte dazu ein. "Es sind Birken", sagte ich dann.
"Birken..." Das Wort scheint für ihn eine große Bedeutung zu haben, er hebt den Kopf und ein konzentrierter Ausdruck tritt auf sein Gesicht.
Ich setze zu einer Frage an. "Warum..."
"Diese Strecke bin ich mit meiner Schwester oft gefahren", unterbricht er mich.
Ich sage nichts mehr. Wir schweigen eine Weile gemeinsam.
"Sie saß auf dem Beifahrersitz", beendet er schließlich das Schweigen mit verbitterter Stimme. "Als sie verunglückte."
"Oh... Und was... ist mit dem Fahrer?"
"Er hat überlebt". Ich sehe, wie sich seine Muskeln anspannen, wie sich seine Fäuste ballen und sich ein harter Ausdruck auf sein Gesicht legt. "Er hat überlebt, und sie starb. Er hätte den Tod verdient, er hätte sterben sollen, doch er überlebte. Er erblindete nur."
Erschrocken von dem blanken Hass in seinen Worten beisse ich mir auf die Lippen und lehne mich zurück.
"Aber... es war ein Unfall..."
Ich hätte lieber den Mund halten sollen. Er setzt sich ruckartig auf seinem Sitz weiter nach vorne, seine Lippen nur mehr ein dünner weißer Strich.
"Er ist der Alleinschuldige. Er hat meine Schwester getötet. Er hätte den Tod verdient.". Plötzlich ist seine Stimme laut und gnadenlos.
Keiner von uns beiden spricht mehr, bis eine Durchsage ertönt.
"Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen in Kürze Feldkirch."
Mein Gegenüber steht auf, ergreift seinen Stock und dreht sich um. Überrascht starre ich auf seinen rechten Arm, und auf die Binde mit den drei schwarzen Punkten.