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zugfahrt
Zugfahrt
von "nachgedanken"
Das Abteil des Zuges, der mich einige Kilometer von dem Ort fort bringt, den Eltern immer „Dein Zuhause“ nennen, wird soeben von einem neuen und somit übereifrigen Zugbegleiter betreten.
Zugestiegene Fahrgäste, die Fahrscheine bitte,
tönt es mir mehr schüchtern als autoritär entgegen.
Mein Fahrticket ist ebenso gültig wie nichtssagend.
Danke sehr.
Nicht umsonst schreiben sie „Einstieg nur mit gültigem Ticket“ auf die Außentüren des Abteils.
Beim nächsten Mal 40 Euro!
Ja tut mir leid, der Fahrscheinautomat war defekt ...
Alltag.
Auf meinem Fahrticket stehen ein Abfahrtsbahnhof und ein Zielbahnhof, und zwischen diesen liegen fast genau 50 Euro. 50 Euro pro Monat, abgehoben von einem nicht leeren, aber strapaziertem Konto. Ein Bildschirm mit Zahlen drauf, die mich einsortieren, in die gesellschaftlichen Grundstrukturen, die klar die Frage nach dem Wer bin ich durch die Frage Was bin ich tauscht.
Die Landschaft fliegt vorbei. Der Tag erwacht langsam, und ich nähere mich meinem Fahrtziel. In meinem Rucksack, es ist gerade soviel, wie ich zum Arbeiten brauche und so wenig, wie ich problemlos transportieren kann, ertaste ich ganz unten meine Wasserflasche. Zu dumm sie zuerst eingeräumt zu haben. Mir gegenüber sitzt ein junges Mädchen. Haare durchs Färben dunkelbraun bis schwarz; Augen mehr geschminkt, als das man sagen könnte unterstreichend; die Lippen mit Glanz; die Fingernägel ebenso. Ich frage mich, wann sie beginnt, an ihrem Geist Glanz aufzutragen. Ihr Oberteil läßt keine Fragen nach Form, Farbe, Format offen. Ihr Gesicht macht einen abgekämpften Eindruck. Wohl Streß im Büro, oder die lange Arbeit gestern, in der Nachtschicht des Krankenhauses. Als sie jedoch in ihren trendy Rucksack greift, um sich Ohrstöpsel mit rhythmischen Maschinentönen anzulegen, rutscht eines ihrer Englischschulbücher heraus. Ich blicke ihr lange auf ihre aus dem Fenster starrenden Augen, bis sie es bemerkt. Ein kurzer Blick in meine Augen, dann einer an mir hinab, und wieder in die Augen. Es folgt der typische Blick der ebenso abfällig wie ignorant erscheinen soll.
Oberflächlichkeit.
Ich schiebe sie in meinen Gedanken fort und überlege mir, wo wir gerade sind. Plötzlich hält der Zug abrupt an, und das unverkennbar schrille Pfeifen des Signalhorns ertönt laut herüber. Die Vollbremsung ist harsch und erscheint brenzlig. Vermutlich jemand, dem Schule, Eltern und alles ziemlich zugesetz haben müssen. Der Zug steht, das Mädchen auch. Sie stiert aus dem hastig heruntergezogenem Fenster und versucht gierig etwas zu sehen. Später wird sie ihren Freundinnen erzählen, wie widerlich die Leiche des armen Jungen aussah, der in der Mitte durchtrennt in der Blutlache des aus ihm herausgeflossenen Lebenssaftes starb.
Sensationsgier.
Die Stimme aus dem Bordlautsprecher gibt blechern bekannt:
Meine Damen und Herren, leider verspätet sich die Weiterfahrt um ungewisse Zeit wegen eines Personenschadens. Wir bitten um ihr Verständnis.
Das Miene des Mädchens erhellt sich, sie wird wohl ihre Englischarbeit verpassen. Hastig pult sie ihr Handy aus der engen Designerhose und tippt mit ihren beiden Daumen blitzartig auf den schwarzen Eingabefeldern herum. Ich erwarte, das der in einer halben Stunde folgende Zug uns auf dem Nachbargleis mitnehmen wird. Polizeisirenen und Krankenwagen-Lalülala komplettieren das Unglück. Morgen wird es in allen Regionalzeitungen stehen. Eine ältere Dame, die nicht öfter als einmal pro Jahr Zug fährt, macht sich lauthals und ziemlich resolut Luft, wie so etwas denn geschehen könne.
Deswegen sind die Züge auch immer zu spät.
Eine andere Dame fällt mit ein.
Kaffeefahrt.
Jaja, das man die Bahnübergänge nicht besser absichert.
Ich höre weg.
Ich komme mir vor, als sitze ich in einer unsichtbaren Blase, und alles außerhalb ist fremd. Ich bin ein Fremder im eigenen Land, gedanklich weit ab von der gesellschaftlichen Norm.
Störfaktor.
Während die Minuten dahin ziehen, wie Wolken an einem schönen, fast windstillen Morgen, passiert nichts im Abteil. Die neugierigen Blicke des Mädchens sind wieder auf ihr Handy gerichtet, sie sitzt mit gespreizten Beinen auf der auf Dauer ungemütlichen Sitzbank, und gibt klare Einsichten. Ich bin zu alt um durch zu drehen, aber noch nicht zu jung um ins Träumen zu geraten. Das Wort mit x am Ende, das Gefühl das mit L anfängt und so weiter, man ist abgehärtet in dieser Zeit. Es springt dich an wie große Reklameschilder an den Häusern, das Wort mit dem drei Buchstaben, bei dem nur noch die ganz prüden aus der Fassung geraten. Durch die Video und Filmindustrie wird jeder Normalo zum Urologen und Gynäkologen. Die Magie, das Besondere, fehlt irgendwie. Aus der Zauber, nur nacktes, rasiertes und ständig bereitwilliges Fleisch, bearbeitet von Superheros. Griechenland hatte Odysseus, Rom Caesar und wir den fettarmen Astralkörper.
Abgestumpftheit.
Nach 25 Minuten werden wir alle gebeten in Fahrtrichtung links auszusteigen. Die Weiterfahrt erfolgt am Nebengleis mit einem anderen Zug.
Regelwidrig.
Meine Fahrt ist am übernächsten Bahnhof zu Ende. Der Bahnhof ist ziemlich groß, und voller Menschen. Seltsamerweise sind Bahnhöfe immer auch Orte, an denen Menschen sich abhetzen. Links und rechts schleifen eilige Reisende ihre Koffer und Taschen mühevoll durch die Unterführungen, nach dem richtigen Gleis suchend. Eine junge Mutter zerrt ihre beiden quengeligen Sprößlinge gereizt hinter sich her und schimpft über alles mögliche. Mein restliches Kleingeld von drei Euro und siebzehn Cent gebe ich dem Obdachlosen, der am Haupteingang sitzt. Ob er erbettelt oder ergaunert spielt für mich keine Rolle.
Hilfsbereitschaft.
Mich empfängt am Ausgang des Bahnhofsgeländes die bekannte Emsigkeit, die Großstädten immer innewohnt. Städte wie diese schlafen nicht, sie leben, pulsieren. Und sie stinken. Der Geruch von Autoabgasen, 10 oder 20 Schnellimbißständen und kleinen Stuben und Industrie, ist penetrant. Der Autolärm, die klingelnden und rasselnden S-Bahnen, das Geräusch wenn sich 100 Menschen im Umkreis von 50 Metern durcheinander unterhalten und das Surren und Rauschen der Ventilatoren setzt mir zu. Leben nennen es die einen, überleben ich.
Aber in der Großstadt kann man alles kaufen, hat die volle Auswahl.
Ja, Kinos, Theater, Opern und Musicals, Galaabende, Tanzbälle, Vereine und Sportmöglichkeiten, das kann einem das Land nicht bieten.
Kulturschock.
Selten trifft man Orte, an denen so viele Menschen leben, und an denen so viele Menschen doch einsam sind. Auf meinen alltäglichen Weg muß ich jetzt die S-Bahn nehmen, die mich aus diesem organisierten Durcheinander hinausbefördert. Die Bahn kommt. Drinnen ist es stickig, ich greife nach Halt und finde ihn, wie unzählige Menschen vor mir.
Hygiene.
Eine ältere Dame steht an einer Stange, und ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass sie lieber sitzen würde. Die Gesichter der anderen Fahrgäste sehen schlimmer aus - nur unecht. Ich frage nach einem Platz direkt neben der alten Dame, und gebe vor, einen Sportunfall gehabt zu haben. Ich lasse Oma Platz nehmen und genieße ebenso ihren dankenden Ausdruck im Gesicht wie das verdutze, leicht verärgerte des vertrieben Fahrgastes. Traurig, wenn man nach allem, was selbstverständlich ist ausdrücklich fragen muß.
Höflichkeit.
Nach 17 Minuten Fahrt steige ich aus und sehe mich um. Ein netter Vorort zur Metropole. Ich folge der Straße und betrete nach einigen Metern die Agentur.
Arbeitsbeginn.