Zugfahren
Es lief alles wunderbar. Zwei Minuten bevor der Zug abfuhr hatte ich es geschafft einzusteigen. Ich fand sogar ein nettes (für DB-Verhältnisse) Abteil, das ich bis Kassel-Wilhelmshöhe für mich ganz allein hatte. Also holte ich mein Vorlesungs-Skript hervor und tauchte in die Tiefen der Logik ein. Natürlich nicht ohne ab und zu die komplett weiße Landschaft und die Sonne in aller Ruhe zu genießen.
Selbst in Kassel verschlechterte sich meine Lage nicht, denn die zugestiegenen Fahrgäste machten komischer Weise auch keine Geräusche. Die ältere Frau, deren Kopf ab und zu zuckte, fand ich sogar recht lustig, aber das Highlight war sowieso die junge Frau, die mir gegenüber saß. Oah, hatte die ein niedliches Gesicht! Ich hatte also Arbeit, Aufheiterung und nette Gesellschaft. Was will man mehr im Zug (von der Verringerung der Geräuschkulisse, sauberen Sitzen, einer funktionierenden Heizung, etc. mal abgesehen)? Leider machte es auch keinen Sinn mit meinem Gegenüber ein Gespräch anzufangen, da ich nur noch weniger als eine halbe Stunde bleiben würde. (Hey, irgendeine Ausrede muss man sich ja einfallen lassen!) Alles war so schön bis ich in Altenbeken ausstieg.
Aus dem Zug ausgestiegen, musste ich erst einmal der zu den Türen stürmenden Horde in den Schnee ausweichen. Na gut, ich verstehe ja diese Leute. Sie haben immerhin eine Weile in Altenbeken auf dem Bahnhof gewartet. Ich glaube dort verwandelt sich jeder zu einem notorischen Drängler und ich frage mich wie viele Schlägereien es dort wohl schon um den ersten Platz zum Einstieg gegeben hat. Da ich nichts zu trinken mit hatte, besorgte ich mir eine Flasche Kakao an dem winzigen Kiosk – für 1,40€, scheiß Bahnhöfe! In der winzigen Bahnhofshalle (Halle?) traf ich dann noch einige Leidensgenossen. Alte Menschen, Mutter und Vater mit vermummten Michelin-Männchen-Kleinkind und Schlitten, ein verliebtes Pärchen und andere Gestalten. Zum Glück blieb mir meine Arbeit, die die 30 Minuten Wartezeit fast verfliegen ließen. Zwischendurch störte mich das Kind, indem es mit weit ausgestreckten Armen mit hoher Frequenz auf den Rucksack des Vaters einprügelte, so als wäre das Ding sein erster Todfeind im Leben. Doch so sehr es sich auch anstrengte, der Rucksack wollte nicht in seine atomaren Bestandteile zerfallen. Worauf die Mutter sich zum Vater wandte und fragte: "Woher hat er bloß diese Aggressivität?" "Keine Ahnung! Das muss von deiner Seite kommen!"
Als ich mich wieder raus in die Kälte wagte, waren die meisten Leute schon wieder mit anderen Zügen abgefahren. Am Bahnsteig sah ich die Familie und dachte: 'Ok, setz dich nicht in deren Nähe, Kleinkinder sind unberechenbar, besonders dieses!' Dann kam auch schon der Nahverkehrszug um die Ecke und die Mutter kündigte noch einmal allen die es noch nicht wussten, an: "Da kommt der Zug!" und weil es der Sohn wohl noch nicht ganz verstanden hatte (oder es ihn nicht interessierte): "Guck, da kommt der Zug! Oah!" Jaja, der Zug das mystische Wesen. Aber erinnern wir uns: Altenbeken, da freut sich jeder, dass er weiter kommt, sogar mit der Bahn. Die Wagen rollten also ein. Ich hatte mir schon einen Sitzplatz von außen ausgesucht, doch stand dann vor verschlossenen Türen mit gelben Zettel daran: "Tür unbenutzbar!" Aber ich bin ja flexibel, weswegen ich sofort meinen Schritt beschleunigte, um zur nächsten Tür zu eilen (Hey, gerannt bin ich nicht, schließlich sind wir zivilisiert!). Als ich mein Gepäck verstaut, meine Jacke aufgehangen und mich niedergelassen hatte, bemerkte ich, wer hinter mir saß. Dann rauschte auch schon das Kind an mir vorbei und der Vater hinterher. Wenig später, ich hatte Logik schon wieder auf meinen Kien liegen, kamen die beiden wieder vorbei. Der Vater sprach mit entgeistertem Gesicht zu seiner Frau: "Das da hinten ist auch zu!" "Wie zu?" "Naja dicht, da kommt keiner rein!" "Also bis Osnabrück geht das nicht! Wo ist der Schaffner? Das hält der doch nie aus!" Der Schaffner war nirgends zu finden. Doch was viel schlimmer war: die wollten auch nach Osnabrück und die ganze Zeit im Zug bleiben! Nach einer Weile hin und her positionierten sich Vater und Kind mit dem Rücken zu mir am gegenüberliegenden Fenster vor dem Mülleimer. Der Vater entpackte sein Kind ausreichend, beugte sich von hinten über ihn und hielt irgendetwas in Hüfthöhe des Kindes. Ich sah etwas auf den Boden tropfen und dachte: 'Äah, nicht auf den Boden! Das stinkt doch! Wieso habe ich mich hierhin gesetzt? Idiot! Ich hab's gewusst!' Doch es schien nicht mehr zu werden. Schließlich drehte sich der Vater verdutzt, ein mittelgroßes Tupperware-Behältnis in der Hand haltend, welches nur geringfügig mit Urin des Kindes gefüllt war, zu seiner Frau und stellte es dann unter einen Sitz. Und wegen so einem bisschen Pisse hatten die jetzt so einen Aufriss gemacht? Hätten die den Jungen nicht zukleben können? Doch das eigentliche Problem war jetzt: was wenn der Zug in eine starke Kurve fährt, das Zeug in einem Affentempo auf mich zukommt, an meinem Schuh abrupt gestoppt wird und sich die ganze Suppe dann über meine Füße ergießt? Zumindest roch man nichts. Beim nächsten Halt, der zum Glück nicht lange auf sich warten ließ, war der Vater so nett das störende Objekt zu entsorgen. Mögen die Penner viel Spaß mit ihrer neuen Dose haben.
Zu meinem Erstaunen wurde es dann ruhig im Abteil. Ja, selbst Kleinkinder können sich ruhig verhalten. Irgendwie zu ruhig. Bedrückend, spannungsaufbauend ruhig. Man hörte nur die Luft draußen vorbei ziehen und die Räder auf den Schienen gleisen. Monoton surrend, schlafeinflößend. Dann setzte, leise, ein Gesang ein. Zwei junge Männer klangen wie Mönche, begleitet von einer Flöte. Das war der Moment in dem ich realisierte, dass ich tot sein musste und mich im renovierten Wagen zur Hölle befand. Je näher wir dem Ziel unserer Reise kamen, desto ehrfürchtiger und ruhiger wurden die Menschen und die letzten Klagegesänge wurden angestimmt. Es fehlte nur noch, dass das Kind angefangen hätte zu weinen.
Ein alter Bekannter riss mich aus dieser seligen Vision. Wir hatten uns schon einmal auf dieser Strecke getroffen. Er ist wirklich freundlich, aber nur um seine Aufdringlichkeit darunter zu verstecken. Damals hatte er sich an meinen Sitzplatz gestellt und meinte: "Guten Tag, schöner Tag nicht?" Nachdem man darauf geantwortet hatte, setzte er nach: "Hätten sie vielleicht noch 2 DM für ein Ticket?" Mit dieser Masche hätte er sich das letzte Mal fast bei mir durchsetzen können, doch letztendlich hatte ich standgehalten, woraufhin er sich sogar noch freundlich verabschiedete. Ein Teil seines Plans besteht auch darin einfach vor seinem Opfer stehen zu bleiben, bis sich dieses zu Wort meldet. Aber nicht mit mir! Also da stand er nun wieder mit seiner alten, oliven, wollgefütterten Jacke, den weißen Haaren und dem roten Gesicht. Es ist unglaublich wie konzentriert man auf einen Logik-Zettel schauen kann, wenn man nicht will, dass man angesprochen wird. Ich beobachtete ihn eine ganze Weile in meinen Augenwinkeln. Er war offensichtlich überrascht von meinem unbeugsamen Willen zur Ignoranz, aber er ist ein Profi und was sollte schon passieren, außer, dass ich ihn anspringe, zu Boden werfe und ihm dann ein Ohr abbeiße? Also tat er den ersten Schritt: "Guten Tag. Hätten sie vielleicht noch 2 €?" Unverschämtheit! Unverschämtheit! Da soll mir noch mal jemand sagen, dass die Euro-Umstellung keine Preissteigerungen gebracht hat! Ausnahmsweise biss ich ihm nicht das Ohr ab, obwohl er es verdient hätte. "Nein!", war meine entschlossene, feststehende Antwort zu diesem Thema. Nicht mehr und nicht weniger. Das hatte er begriffen. Er kam zwar noch ein paar mal an mir vorbei, doch er sprach mich nicht noch einmal an, was sonst üblich gewesen wäre. Als er ausgestiegen war, wurde es wieder bedächtig. Die Endzeitstimmung stellte sich jedoch nicht wieder ein. Was aber nicht bedeutete, dass die Zugfahrt auf längere Sicht langweilig wurde, denn schon am nächsten Bahnhof bereitete mir ein neuer Fahrgast Freude.
Von draußen bäumte sich ein kleiner Mann mit riesiger Sporttasche, die zu einem Rucksack umfunktioniert war und ihm so seinen Rücken krümmte, vor der automatischen Tür auf. Er hatte dunkles, gewelltes, schulterlanges Haar, was mich zusammen mit seiner Körpergröße auf die Idee brachte: 'Italiener, oder was?' Es dauerte ungefähr eine Sekunde regungslosen Wartens bis er den "Öffnen-Knopf" fand und noch mal ungefähr zwei bis er feststellte, dass sich auch mit Betätigung dessen die Tür kein Stück rührte. Was bleibt einem in so einer Situation übrig, als den nicht-funktionierenden Türöffner noch ein bis drei mal zu bemühen? Richtig, man liest den großen gelben Zettel mit der Aufschrift: "Tür unbenutzbar!" und sucht die nächste. Aber so dachte mein kleiner Freund wohl nicht, denn als er dann endlich eingesehen hatte, dass der Knopf nichts am Zustand der Tür ändern würde, richtete sich sein ganzer Hass gegen sie. Er trommelte mit seinen Fäusten ein paar mal auf sie ein, doch auch sie zerfiel nicht in ihre atomaren Bestandteile. Daraufhin tat er kurz so, als würde er sich abwenden nur um dann so schnell, wie es sein Gepäck zuließ, einen Satz auf diesen Eingang zu machen und seine Hände im dichten Spalt zwischen den zwei Türflügeln zu versenken. Die Feuerwehr-Spreizer sind irgendwie effektiver. Mit denen hätten sich die Teile vielleicht ein bisschen bewegt. Er gab auf, doch setzte mit einem abschließenden Faustschlag noch einmal nach. Dann ging er den Weg des geringeren Widerstandes, nämlich durch den 10m entfernten, offenen Eingang des Zuges.
Wie es das Schicksal wollte, gesellte sich der Quasi-Italiener zu mir ins Abteil. Meine "italienische" Annahme hatte sich bis dahin auch schon erhärtet. Immerhin war es offensichtlich, dass der Mensch Deutsch nicht lesen konnte und Englisch und Französisch auch nicht (standen auch drauf) und wenn doch, dann muss er so bescheuert gewesen sein, dass es besser ist anzunehmen, er sei italienischer Herkunft. Man sagt: "Was sich neckt, das liebt sich!". Wahrscheinlich trifft das auch auf diesen Typ Mensch zu, denn er gesellte sich zugleich zu seiner Lieblingspforte. Wenige Sekunden später rollte der Zug los. Damit sah man förmlich die Zweifel im Italiener wachsen. Gespannt beobachtete er die kleine digitale Anzeige an der Decke. "Scheiße!" Das Wort hatte er also schon gelernt. Jetzt die Notbremse zu ziehen war wirklich keine Alternative, was er ausnahmsweise schon von sich aus begriffen hatte. - Und das ohne die nötige Erfahrung gemacht zu haben! Naja, wer weiß, was da schon passiert ist? - Ruhe kehrte ein, denn er hatte sich damit abfinden müssen. Die nächsten, kleinen Bahnhöfe auf der Strecke wurden nur von dieser Regionalbahn jede Stunde einmal angefahren. Es dauerte nicht lange, da kamen wir im ersten an. Es bestand ja ein Bruchteil einer Möglichkeit, dass ein anderes Nahverkehrsmittel den kleinen, lustigen Mann am Sonntag um 18:45 Uhr in die größere Stadt zurückbringen könnte. Vielleicht war es auch noch nicht zu weit weg zum Laufen. Ich traute ihm alles zu, denn mit der überdimensionierten Tasche auf dem Rücken sah er aus wie ein richtiger Trecker auf der Suche nach Abenteuern, die er sich anscheinend künstlich schuf. Natürlich versuchte er hier auszusteigen, aber das bemerkenswerte war, dass er es an der so lieb gewonnenen Stelle probierte. Das nenne ich Treue! Die gelben Zettel müssen wahnsinnig anziehend auf ihn gewirkt haben. Aber das wird verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass es ja auch hätte sein können, dass diese Tür eine Art exklusiven Modus hatte. Was heißen soll, dass die Bahn eine neue Strategie im Umgang mit ihren Kunden entwickelt haben könnte, die dem Zweck der Sauberhaltung ihrer Züge dienen sollte: Lass keinen rein, denn der macht Dreck, aber raus dürfen sie, damit wir sauber machen können! Natürlich gibt es da ein oder zwei Punkte, die nicht gerade für diese Theorie sprechen. Zum Beispiel, dass die Aufschrift auf den gelben Zetteln von innen genauso gut lesbar war: "Tür unbenutzbar!" Das konnte selbst ich ohne Opernglas von meinem Platz aus erkennen. Also beobachtete ich das alte Spiel. Herausfinden, dass der Öffner nicht funktioniert, Schläge, Spreizer, und dann setzte sich der Zug schon wieder in Bewegung. Ich hatte noch überlegt, ob ich nicht noch etwas sagen sollte, aber ich war wie gelähmt. Das ist vergleichbar mit einem Kinobesuch. Wird man dort gut unterhalten, muss man auch nicht darüber sprechen. Man genießt halt einfach. Und dieser Italiener kam mir gerade recht, meine Zugfahrt etwas aufzuheitern. Allerdings tat er mir dann doch irgendwie leid, als ich mit ansehen musste, wie seine Wut immer mehr der Gleichgültigkeit weichen musste und er sich verzweifelt in eine Ecke verkroch. Zumindest bis der nächste Bahnhof kam, denn Bahnhof bedeutet eben manchmal auch Hoffnung.
Dieses Mal war der Bahnsteig auf der gegenüberliegenden Seite des Zuges. Dummerweise funktionierte dieser Ausgang auch nicht, was aber noch lange kein Grund war, es nicht wenigstens einmal ausprobiert zu haben. Im selben Moment sprachen dann ich und ein anderer Mann, der das ganze von einer anderen Seite mit ansehen konnte, auf den Italiener ein: "Die Tür funktioniert nicht!" Er drehte sich kurz um und ich wusste, dass er uns gehört hatte. Jedoch zeigte es keine Wirkung. Noch einmal versuchte er die Türflügel auseinander zu pressen. Mit der Abfahrt des Zuges mit ihm als Passagier auch aus diesem Bahnhof war es nun nicht mehr lustig. Der arme Mann, aber das ist der Preis dafür, den man zahlt, wenn man sich dazu entschließt die Welt auf eigene Haut neu zu entdecken und jede Erfahrung die jemand vor einem schon einmal gemacht hat zu ignorieren. Er musste also doch ein Abenteurer sein und eines ist sicher: Er ist auf jeden Fall der glücklichste Entdecker dieser Erde, denn er gelangt garantiert jeden Tag zu neuen (für ihn) bahnbrechenden Erkenntnissen. Zum Beispiel hatte er an diesem Tag gelernt, dass Türen mit gelben Zetteln daran niemals aufgehen werden; auch nicht, wenn man sie sehr lange mit den eigenen Händen bearbeitet. An der nächsten Station schaffte er es dann endlich aus dem Zug zu kommen und er hatte Glück, dass es eine etwas größere Stadt war. Damit wandte ich mich wieder der Logik zu, einer Wissenschaft über die sich schon sehr viele Leute vor mir den Kopf zerbrachen. Es kann halt auch sehr schön sein in einem Gebiet zu arbeiten in dem ein anderer für einen im Notfall die Lösung parat hat.
Als ich in Osnabrück planmäßig ankam, waren trotz aller Unannehmlichkeiten die Logik-Aufgaben gemacht und ich konnte eine weitere ereignisreiche Reise zu meinem Erfahrungsschatz zählen.