Mitglied
- Beitritt
- 02.02.2018
- Beiträge
- 54
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Zug nach Wien
Gerne sitze ich hier am Rande des Bahnhofsgebäudes. Gerade noch nah genug, um unter dem Schutzdach sicher vor Regen zu sein. Aber weit weg genug vom Eingang, um nicht ständig von Wartenden umlagert zu werden. Ich bin früh dran, mein Lieblingszug, der ICE 91 kommt erst in fünfzig Minuten. Natürlich hält er nicht vor meinem Platz. Welcher ICE hält schon auf Gleis 1? Nein, die schnellen Langstreckenzüge Richtung Norden halten auf Gleis 3, die Züge Richtung Süden auf Gleis 5. Warum es kein Gleis mit der Nummer 4 gibt, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht ist das auf allen Bahnhöfen so.
In der Regel habe ich freie Sicht, wenn der ICE 91 pünktlich einläuft. Kein anderer Zug hält um diese Zeit. Ich kann die Aussteigenden und Einsteigenden nicht direkt beobachten. Sie steigen zur abgewandten Seite aus. Aber ich beobachte gerne die Wartenden. Ob sie alle bis zur Endstation nach Wien fahren. Sicher nicht! Aber ich stelle es mir gerne vor. Wie sie hier einsteigen, den reservierten Sitzplatz suchen, das Gepäck verstauen und es sich in ihrem Sitz gemütlich machen. Die Fahrt dauert nicht lange. Von hier aus benötigt der Zug genau zwei Stunden und vierunddreißig Minuten, um im Hauptbahnhof in Wien anzukommen. Ich habe es nachgeschlagen. Wäre ich im Zug, würde ich direkt den Speisewagen aufsuchen und einen Kaffee trinken.
Es ist sonnig und warm und ich lasse den Blick schweifen. Meine Füße schmerzen, vielleicht sind die Schuhe zu eng geschnürt. Ich habe meine Füße auf das Pflaster gestellt, schön nebeneinander. Neben den Füßen und schon fast unter meinem Sitz sind die Pflastersteine gebrochen. Es sind große Fugen entstanden, die mit der Zeit vermoost sind. Nichts Tolles, einfach grünes Moos. Allerdings ist es von einem satten dunklen Grün, das man gerne anschaut. Es wirkt wie ein Stück heile Welt. Ameisen bewegen sich entlang der Fugen, geschützt durch das überhängende Moos. Es geht emsig zu in ihrer Welt. Sicher liegt ihr Bau nicht weit entfernt, vielleicht sogar direkt unter meinem Sitz.
Meine Familie hat mich einmal für drei Tage nach Wien geschickt. Genau genommen hat eigentlich meine Familie meiner Oma eine Reise nach Wien geschenkt mit mir als Betreuerin und Reiseleiterin. Ich war jung, fit und gut zu Fuß und konnte Oma gut unterstützen. Ich habe ein einfaches und ziemlich stereotypes Programm zusammengestellt. Nichts davon ist mir wirklich in Erinnerung geblieben. Aber ich erinnere mich deutlich an das Gefühl totaler Überforderung. Drei Tage in einer so großen, einzigartigen Stadt. Ich wollte sie erleben, erkunden, einatmen, mit der Stadt und ihren Menschen verschmelzen, ihre geheimsten Seiten kennen lernen, Teil von Wien werden. Auf der Heimfahrt war ich unendlich traurig und mir sehr bewusst, wie winzig klein und wie absurd kurz mein Leben ist. Zu klein, zu kurz für solch eine mächtige, pulsierende, lebendige Stadt. Dieses Gefühl von Unzulänglichkeit und Nichtvermögen hat mich fast mein ganzes Leben begleitet. Und schlimmer, es hat sich über alles gelegt, was ich betrachtet habe. Die Alpen von meinem Fenster aus, den Strand im Urlaub, den Marktplatz in der Stadt, die Menschen um mich herum, den Hund vom Nachbarn. Egal ob Landschaft, Ort, Mensch, Tier oder Pflanze, egal wie groß oder wie klein, immer hat dieses Gefühl an mir genagt, ich könnte den Begegnungen nicht gerecht werden, das Gegenüber nie wirklich verstehen und erfassen. Immer würde ich etwas schuldig bleiben. Eine verstörenden Traurigkeit habe ich aus Wien mitgenommen.
Oma war glücklich, aber das war sie immer und überall und dafür habe ich sie bewundert.
Sie schaut jetzt vom Himmel aus herab. Ob sie wohl hin und wieder auf Wien schaut? Wenngleich Wien vom Himmel aus betrachtet wahrscheinlich gar nicht zu erkennen ist. Es heißt, dass man vom Weltraum aus die Große Mauer in China erkennen kann. Und natürlich die Kontinente und großen Meere. Wobei ich mich frage, ab welcher Entfernung auch diese nicht mehr erkennbar sind und die Erde zur kleinen, blauen Kugel wird. Und ab wann auch diese verschwindet. Wien wäre dann zwar immer noch da, aber ein Hauch von einem Nichts, völlig unbedeutend. Aber dann wären ja da noch die Sterne, die Milchstraße, unendliche Galaxien, farbenfrohe Spiralnebel, schwarze Löcher. Wie unendlich groß und gewaltig das Universum ist. Ich werde es nie erkennen können, selbst wenn ich ewig leben würde.
Lieber wende ich mich wieder dem Treiben der Ameisen zu meinen Füße zu. Ihr Bau könnte – aus Ameisensicht - sehr groß sein, mit vielen Wegen und Kammern. Vielleicht ist es ein alter Bau. Was mögen sich hier für Dramen abgespielt haben? Wie viele Ameisengenerationen haben hier gelebt? Je tiefer ich mich in die Ameisenburg versenken, desto mehr Details kann ich erkennen, desto komplexer wird die Umgebung, desto fantastischer die Leistung der Ameisen. Kann ein Leben, mein Leben ausreichen, um alles zu erkunden und zu erfassen!
Während der ICE nach Wien eingefahren ist, die Fahrgäste aus- oder eingestiegen sind und der Zug wieder abgefahren ist, hat sich die Sonne bis unter das Schutzdach ausgebreitet. Sie wärmt meinen Sitz und mich. Es wird nicht heiß aber warm genug, um mich hier wohl zu fühlen. Ich entspanne mich, lehne mich in meinen Rollstuhl zurück und seufze zufrieden. Nicht dort, nicht da. Hier.