Zug der Liebe
ZUG DER LIEBE
Ich sitze im Zug. Ich stand genug im Leben.
Der Zug fährt nach Norden in Richtung Süden. Ich liebe den Süden, vor allem, wenn man durch den Norden dahin kommt. Das hilft mir, das Ziel nicht zu verlieren. Es ist eine sehr lange Strecke. Dies ist das Drama meiner Kindheit, das mich zum besten Wurstverkäufer der Stadt gemacht hat.
Meine Eltern kauften mir keine elektrische Eisenbahn. Seit diesen Tagen habe ich einen Längenkomplex. Ich mag alles, was lang ist, lang im Vergleich zu dem, was ich verpasst habe. Ein Zug ohne elterliche Liebe funktioniert nicht. Eine väterliche Liebe ohne Batterien oder Strom ... zündet nicht. Ich sitze im Zug. In der zweiten Klasse. Zug Nr. B52.
Es ist ein roter Zug. Der Lokführer muss ein Baron oder ein ehemaliger Präsident sein. Ich bin allein in einem Wagen für sechzig Fahrgäste. Die Sitze sind blau mit schwarzen Flecken. Die Bepolsterung sieht aus wie ein verstopfter Tiger und die potenziellen Passagiere kennen bestimmt das Sprichwort: "Berühren Sie nie den Rücken eines Tigers, dessen Darm streikt“.
Sicherlich bin ich deswegen allein.
Zum Frühstück habe ich zu viel Bier getrunken. Mein Innenraum wird gründlich gereinigt. Ich muss auf die Toilette gehen. Das blinkende Licht ist rot. Besetzt. Doch ich habe niemandem dorthin gehen sehen.
Ich war allein in meinem Abteil, allein im Waggon und sicherlich allein im Zug. Ich versuche, die Tür zu öffnen. "Es ist besetzt", antworte eine Stimme. Der Zug hat einen Geist und ich denke an meinem Kampf gegen den Längenkomplex und möchte nicht mit einer tiefen Geschichte konfrontiert werden...
Die Länge bezeichnet die Ausdehnung physikalischer Objekte oder die Abstände physikalischer Objekte zueinander. Die Länge eines Objektes ist, sagen wir, der Abstand zwischen den zwei Enden dieses Objektes, die am weitesten voneinander entfernt sind. Die Länge als Abstand zweier Punkte wird in der klassischen Physik als konstant betrachtet. In der speziellen Relativitätstheorie ist die Länge jedoch abhängig vom relativen Bewegungszustand des jeweiligen Beobachters, man spricht von einer relativistischen Längenkontraktion. Die Länge ist keine unveränderliche Eigenschaft. Die Temperatur, die Zeit, die Stimmung, die Träume oder die Gegenwart eines anderen Objektes können sie beeinflussen. Die Wellenlänge regt mich auf. Ich fühle mich manchmal Zentimeter, Zoll, Spanne oder Fuß.
Ich bin in dem Nordzug Richtung Süden. Ich hätte auch einen längeren Weg nehmen können, durch Langendembach fahren. Entlang der Länge meiner Wirbelsäule, ohne Teleskop.
Ich sitze im Zug. Die Toilettentür öffnet sich. Eine junge Frau kommt heraus. Sie ist 1,65 m, wiegt 62,3 kg. Sie hat blondes Haar. Ich mag Blondinen. Sie sind die Zusammenfassung aller Farben. Sie sind weder braun noch rot noch braun noch blond ... und sie sind alle diese auf einmal. Sie setzt sich mir gegenüber und lächelt. Ein Lächeln in der Länge. Ich mag Frauen, die in die Länge lächeln. Ich fühle mich dadurch auch länger. Ich denke zurück an den Wettbewerb der besten Wurstverkäufer in meinem Dorf. Nach einem sehr engen Kampf trugen mich 49 Leute im Triumph. So kam ich der Lösung meines Längenproblems näher.
Die blonde Dame äußert sich überrascht darüber, jemanden in diesem Zug zu finden. Sie verreist oft und ist immer allein. Sie hatte sich an die Einsamkeit des Zuges gewöhnt. Sie fragt, was ich in dem Zug tue. Ich erzähle ihr von meinem Längenproblem. Sie erzählt mir von ihrem Tiefenproblem. Ihre Schwierigkeiten mit dem Ausmaß der Dinge vom Boden der Öffnung bis zu ihrer Kante. Sie weiß nie, wann man mit dem Sturz aufhören soll. Sie kommt aus Tiefensee aber lernte nie zu schwimmen. Nach vielen Stürzen, Schrammen, Wunden, Knochenbrüchen, ausgerenkten Wirbeln entschied sie sich, die Sache tiefer zu ergründen. Tiefenpsychologie war nötig. Die Länge der Tiefe.
Sie sagt mir, dass sie Lokih heißt. Lokih mit einem "H" am Ende. Also nichts zu tun mit dem germanischen Gott Loki, der in der Tat ein Wesen zwischen Gott und Dämon war. Er hatte bestimmt auch Definitionsprobleme.
Lokih mit einem "H" ist ein mir unbekannter Vorname. Jeder weiß, dass Frauen oft falsche Namen nennen, wenn sie auf unbekannte Männer treffen. Auf den Straßen, in Zügen, Taxis, Tankstellen, Garagen, Booten, Flugzeugen, auf Rolltreppen, in Aufzügen, gemischten Toiletten, Diskotheken, Bars, Swimming Pools, Seen, auf Autobahnen, Parkplätzen, in Parks, am Rande des aufzählerischen Infarkts.
Ich öffne mein Wörterbuch der deutschen Namen - natürlich sind wir in Deutschland. Ich habe so ein Wörterbuch für alle Länder, mit Ausnahme Bangladeshs. Ich blättere und finde kein „Lokih“. In einem anderen Land wäre dies unerheblich gewesen, aber nicht in Deutschland. Hier darf man nicht erfinden, was nicht schon existiert. Ich schließe daraus, dass sie einfach eine Außerirdische ist. Außerdem spielt es keine Rolle. Wir sind allein in diesem Nordzug in Richtung Süden. Wir sind allein, sitzen Angesicht zu Angesicht. Ihre Augen sind in meiner Zukunft verloren. Ich würde gern ihren Blick verstehen, aber anscheinend habe ich am Rand meiner Längenprobleme auch Tiefenschwierigkeiten.
Ich fange an, sie für drei Jahre zu lieben. Ich fange an zu denken, dass wir Länge und Tiefe verbinden können. In die Tiefe der Länge gehen bis zur Bodenlosigkeit, bis zum Höhepunkt. Ja, ich muss an diesen Punkt kommen, um weiterzukommen. Die Tiefe unserer Wesen erkunden. Sie schaut mich an und lächelt. Ich fühle mich länger als je zuvor. Ich fühle mich breiter. Ich bin nur Höllentiefe, flüstert sie. Ihr Haar ist nicht mehr blond. Nur leer.
Ich sitze im Zug. Wir fahren nach Norden, Richtung Süden. Der Lokführer ist sicherlich ein Graf oder ein ehemalige Priester. Ich möchte beichten.
Samuel A. Wilsi
2015
Lomé (Togo); Bonn