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Zucker
Das Café liegt an einer Ecke zweier sich kreuzender Gassen der Altstadt, draußen Tische, ich sitze jedoch stets im Café.
Schrieb ich 'das Café'?
Es ist 'mein Café'; ich halte mich hier beinahe jeden Tag auf, außer sonntags, denn dann hat es geschlossen.
Ich habe keinen Hund, keine Zimmerpflanzen und meine Frau liegt längst auf dem Hauptfriedhof, ein natürlicher Tod, Sie verstehen.
Hunde dürfen nicht ins Café, Frauen schon. Eine vernünftige Anordnung, man sollte nicht nur die Kirche im Dorf lassen, sondern auch Tier und Ungetier vor den Toren.
Es dürfte Ihnen nicht allzu schwerfallen, zu ermessen, dass ich ein recht unterhaltsamer Zeitgenosse bin.
Obwohl ich Zimmerpflanzen nicht sonderlich schätze, pflege ich im Café neben einer solchen zu sitzen, genauer, neben einem Gummibaum aus Echtblatt. Die Pflanze sieht dermaßen künstlich aus, dass ich Mal um Mal mit meinem Fingernagel Kerben in ihre dicken Blätter ritze, mich immer wieder aufs Neue zu vergewissern, ob sie tatsächlich natürlichen Wuchses ist. Sie hat unterdessen schon jede Menge bräunlich verfärbte Narben im Grün. Ich kann nicht sagen, dass ich das bedaure, im Gegenteil, es ist wie eine Art Signatur, mit der ich meinen Stammplatz oder überhaupt das Café markiere.
Aber wirklich mögen tue ich den kargen Baum nicht.
Eigentlich ist mir das ganze Café ziemlich zuwider, seine brave Bestuhlung, die teilnahmslose Bedienung, die albernen Tiffanylampen, der Ausblick, der nach fünf Metern an einer Betonwand zerschellt - ja sogar der Kaffee, der weder flau noch stark ist, sondern, wie ich es nennen würde: feige.
Nichts ändert sich hier von einem auf den anderen Tag, kaum etwas, alles bleibt und ich habe keine Ahnung, was mich stets und wieder in diesen mäßigen Stillstand verschlägt. Ich ertappe mich dabei, die hölzernen Beine der Tische und Stühle nach neuen Anstoßungen oder Ratschern hin abzusuchen.
Jede neue Herpeskruste der von hässlicher Routine gegerbten Bedienungen kenne ich aus dem Effeff. Den Existenzekel dieser Alleinerziehenden schmeckt man bis tief in den Mokka.
Manchmal habe ich dunkle Absichten, natürlich theoretischer Natur, nachts an diesen Ort zu schleichen, Benzin zu verschütten, eine Feuersbrunst zu entfesseln und abzuhauen.
Gut, dann wäre erstmal eine Weile Feierabend, die Versicherung würde irgendwann überweisen, das Café komplett renoviert, neue Wände, Böden, Stühle, Tische, Tresen und Zierpflanzen.
Ein Spaß, natürlich - ich halte mich an die Regeln.
Eines, ein einziges, vielleicht genau das, weswegen ich immer wieder einkehre, das ist ...
der Zuckerstreuer. Er hat eine unglaubliche Form und Grazie, sanfte Rillen im weichen Glas, eine silberne Krone, sich keck verjüngend - der süßeste Traum von einem Streuer!
Ich habe sinnliche Fantasien. Ich möchte ihn packen, in meinen beiden Händen halten, zärtlich, hart, ihn liebkosen, fühlen, überall belecken, vom Schaft bis zur Streuauslassung, in wilder Lust den tropenheißen Tanz der Liebe tanzen, ihn einführen, mich mit ihm vereinigen, verschmelzen, für immer - auf dass das nie ende!
Der Knackpunkt: Es ist eine weibliche Fantasie, und ich bin ein Mann, ein Exporteur. Ich sollte mich, Sie lachen bestimmt schon, sollte mich für die Vase mit den authentischen PVC-Blumen begeistern.
Sie steht genau neben dem Streuer. Aber sie lässt mich mehr als kalt; stets schiebe ich sie so weit weg, wie es mir möglich ist, ans andere Tischende. Gern würfe ich sie diesem Mittdreißiger und Caféinhaber an den Schädel, einem brillentragenden Schleimbeutel mit, worauf ich wette, BWL-Vergangenheit. Oft stelle ich mir vor, wie er im Hinterzimmer vor seiner gelangweilten Belegschaft herum doziert; Sachen wie:
'Ich bin der festen Ansicht, dass wir davon absehen können, Investitionen in das Interieur zu tätigen. Das macht nach wie vor einen guten Job.'
Gestern trug sich etwas zu, das mich davon ferngehalten hat, heute mein Café zu besuchen. Und ich fürchte, dass ich auch nicht morgen und übermorgen und jemals wiederkehren werde.
Ich trank meinen Kaffee, hatte bereits den Baum gekerbt und untersuchte die Tischdecke auf Gewebsverschleißspuren, als die Bedienung kam, 'Ich darf doch?' mehr sagte als fragte und im Begriff war, mir den Zuckerstreuer abzuräumen. Unsere Hände erreichten ihn zur gleichen Zeit.
Zur gleichen Zeit wurde er gehalten und an ihm gezogen.
"Ich ... ", sagte ich, obwohl ich 'Nein' dachte.
"Sie nehmen doch keinen Zucker zum Kaffee?", sagte die scheinbar verblüffte Schürzenfrau.
"Das ist nur die halbe Wahrheit", sagte ich, worauf sie mir hart den Streuer entwand und entgegnete: "Das ist mir bekannt, mein Herr. Und die andere Hälfte habe ich."
Es waren nicht ihre Worte, nicht nur. Es war das Gesicht, das diese Worte sprach, der Blick, der in mich drang.
Er ist in mir. Er kerbt mir mein Hirn.