Zu wahr, um schön zu sein – Alles ist unmöglich
„Ach du Scheiße! Sieh dir diesen riesen Berg Fleischsalat da vorne an!“ sagt er zu mir mit aufgerissenen Augen, die mich entsetzt aus seinem schweißperligen Gesicht anstarren, während er mit dem Finger auf den Strand zeigt. Meine Augen folgen seinem Fingerzeig und tatsächlich: Eine schier undendliche Masse von Menschen bevölkert den Strand. Oft nur einen Fingerbreit voneinander entfernt liegen sie da rum. Wie eine Horde träger See-Elefanten im gleißenden Licht der Sonne, das Besch von Sand und Menschenhaut verschmilzt optisch zu einer Einheit, durchsetzt von kleinen Farbsprenkeln unzähliger Badehosen, Bikinis und Badeanzügen. Es ist nirgendwo eine etwas größere, freiere Stelle für uns im Fleischsalat auszumachen. „Da müssen wir jetzt wohl durch“ sage ich zu ihm mit resignierter Gebärde. Wir packen unsere Badematten unter die Arme, begeben uns in den Menschenpulk und schlagen unser beengtes Lager auf.
Direkt neben mir liegt eine adipöse Frau. Sie trägt einen pinken Badeanzug mit weißen Rüschen, ihre kinnlose Physiognomie ist eingerahmt von blonden Locken und ihr Mund und die langen Fingernägel sind in monströsem Rot angemalt. Ihre in der Sonne glänzende fettige Haut leuchtet in verbranntem Rot. An ihren wulstigen schuppigen Beinen löst sich bereits die Haut ab und rohes Fleisch und sogar Knochen kommen zum Vorschein. Sie liegt dort in Seitenlage und ihre trostlosen kalten Augen starren mich an und ich spüre in mir die sternenlose Kühle des gesamten Universums. Sie rückt immer näher und näher an mich heran, bis sie sich schließlich mit ihrem gesamten Gewicht in Bauchlage auf meinen Körper legt. Unsere Nasenspitzen berühren sich und ich versinke in dem Moloch ihrer schwarz-sumpfigen Totenaugen. Hilfesuchend und in nackter Panik versuche ich nach meinem Freund zu greifen, doch ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bin ihr ausgeliefert. Dies ist meine Todesfuge hier im sandigen Strand. Und immer diese irren abgründigen Augen! Die Sonne schaut zu. Nicht tatenlos, nein. Sie ist aus ihrer Entfernung plötzlich ganz nah an den Menschenbergen am Strand und ein einziges brennendes Inferno. Sie entfacht ein alles vernichtendes Feuer, welches sich durch die unzähligen Körper am Strand frisst. Menschenfackeln. Schreie. Geruch von verbranntem Fleisch. Ich kann nicht mehr atmen und der monströse rote Mund in diesem brennenden Totengesicht direkt vor meinen Augen, verzieht sich zu einem hässlichen verrückten Lachen und entblößt tiefschwarze Zähne, die aussehen wie Kohlestücke. In einer wahnsinnigen Raserei vibriert ihr ganzer Körper unter der sengenden Hitze des Feuers, das jetzt auch meinen bewegungsunfähigen Körper erreicht hat. Ich schreie unter Qualen und blicke direkt in die kalte Glut der geöffneten Höllenpforte. Plötzlich mischt sich unter das infernalische Gelächter meines entflammten Todesengels ein schrilles Piepen. Es wird immer lauter und penetranter. Piep-piep-piep...
Mein Herz rast, mein Oberkörper schnellt nach vorne und reflexartig verpasse ich dem Wecker einen Bud Spencer Gedächtnis-Faustschlag. Ich bin nass geschwitzt und versuche mich mit pochenden Kopfschmerzen zu orientieren. Da ist ein Dunkelheit einrahmendes Fenster. Eine Kommode mit darauf thronender Buddha-Figur. Ein kleiner Vorleger mit Schachbrett-Muster vor dem Bett auf dem Boden. Weiße Raufaser-Tapete. Schwarz-weißer Schwebetüren-Kleiderschrank. Ein Beatles-Poster vor mir an der Wand. Schuhe. Eine halbleere Bierflasche neben dem Bett. Eine Hose liegt auf dem Boden. Ich bin zu Hause. Das ist die gute Nachricht. Mein Hals brennt vor Trockenheit und es stinkt nach kaltem Zigarettenrauch. Langsam begebe ich mich in die Waagerechte. 17:45 Uhr. 3. Dezember. Es ist also nicht NOCH, sondern WIEDER dunkel. Ich stehe auf und gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Meine Deckenlampe ist kaputt und ich nutze die Lampe meines Smartphones als kalte Lichtquelle. Draußen vor dem Fenster lauert bleiern verdichtete Schwärze. Nur ab und zu sieht man vereinzelt Lichter von Autoscheinwerfern, die sich an der von der Smartphone LED nur sehr schwach beleuchteten Küchenwand entlang schlängeln. Nachdem ich eine Aspirin eingeworfen habe, setzte ich mich mit meinem Kaffee an den Küchentisch und denke über diesen beängstigenden Traum nach. Was würde wohl der überzeugte Freudianer dazu sagen?
Am gestrigen Freitag hat meine Freundin Schluss gemacht. Mit mir. Mit uns. Schluss war in stillem, beidseitigem Einvernehmen schon lange. Das wussten wir beide. Aber niemand hatte den Schneid es auszusprechen. Man kann sich so schön bequem wie selbstbetrügerisch auf dieser Insel der Liebes-Illusion einrichten. Aufkommende selbstreflexive Gedanken werden SOFORT, fast schon panikartig im umgebenden Alltags-Meer ertränkt. Bis sie gestern mit diesem alles zerstörenden und schwer zu ertragenden Blick im Türrahmen stand und es getan hat. Die Stille war vorbei und an ihre Stelle trat ausgesprochene laute Wahrheit, die den mindestens schon seit einem Jahr währenden Abstiegskampf unserer Beziehung endgültig beendete. Schluss mit Selbstsabotage. Schluss mit gemeinsam einsam. Eigentlich sollte ich ihr dankbar sein für diese längst überfällige Zäsur. Zuvor hatte sie schon während ich auf der Arbeit war, ihre Sachen gepackt und ins Auto geladen. Weg war sie. Zu ihren Eltern. Und ich saß darauf hin im Wohnzimmer und hatte nichts besseres zu tun, als die vor Jahren von ihr gestrichene Wand anzustarren. Mir fiel Kästners „Sachliche Romanze“ ein. War unsere Liebe schon immer eine von Sehnsüchten genährte Illusion gewesen? Projektionsfläche und Schimäre? Oder ist sie uns plötzlich abhanden gekommen? Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut?
Wenn man sich Liebe als Selbstdarstellung im Blick des anderen vorstellt, gab es bei uns schon lange keine Liebe mehr. Ein um Aufmerksamkeit bemühtes Gefallenwollen war nicht mehr existent. Statt Selbstdarstellung, läuternde Resignation. Statt Blick des anderen, die Mattscheibe des laufenden Fernsehers. Liebe will nichts VON dem anderen. Sie will alles FÜR den anderen. Wenn man aber nichts mehr sein will für den anderen, sollte man sich Gedanken machen.
Es half nichts. Nachdem ich fertig war, mit starren und sinnieren, griff ich zum Telefon. Ich brauchte jetzt einen Trinkkumpanen, um meine aufgewühlte und durcheinandergeratene Berg- und Tal- Innenwelt zu nivellieren. Alkohol kann da sehr hilfreich sein.
Ich rief Toni an. Toni kannte ich schon einige Jahre. Unsere Bekanntschaft ging aber nie über pseudo philosophische und an der Oberfläche bleibende Kneipengespräche hinaus. Und genau so etwas brauchte ich jetzt. Keine tiefgründigen Verhaltensanalysen eines guten Freundes, sondern eine seichte, biergeschwängerte Unterhaltung in der verrauchten Pinte an der Ecke. Toni war seit jeher einsam. Das war in seine Augen eingraviert und schwer zu übersehen. Oft unternahm er den ungeschickten Versuch, über seine Familie zu sprechen oder den Verlust seiner Freundin vor einigen Jahren zu thematisieren. Sobald ich diesen Anflug von Tiefgang und Sentimentalität bemerkte, steuerte ich sofort gegen, indem ich mit einer flapsigen Bemerkung das Thema wechselte und einen Runde Korn ausgab. Das mich beinah schon flehentlich anschauende und um Anteilnahme bettelnde Toni-Augenpaar ignorierte ich immer wieder, mit einer von mir nicht gekannten Hartherzigkeit, die mich selbst überraschte und gleichermaßen anwiderte. Wir kamen überein, uns um 22 Uhr im Meiers zu treffen.
Das Meiers. Der Laden selbst ist so einzigartig wie sein Name. Meier, Müller, Schmidt. Linda stand hinter der Theke und drehte ständig an irgendwelchen Verschlüssen und Hebeln herum. Ich saß auf der anderen Seite mit meiner Flasche Astra und sah ihr zu. Es ist Lindas Zweitjob. Tagsüber arbeitet sie im Lager eines Erotik-Versandhandels und macht Dildos, Handschellen, Gleitgels und Penisringe versandfertig. Abends steht sie dann im Meiers und hört sich die Verbal-Diarrhoe der besoffenen Kundschaft an. Die fruchtlosen Schlachtrufe im Abstiegskampf des Lebens. Und trotzdem fühle ich mich im Zwielicht dieses abseitigen Ladens wohl. Wo die Verwundeten wohnen...Dort will ich sein...Denn dort pass ich rein.
Es war sehr viel los. Schließlich war Freitag und Anfang des Monats. Die Leute hatten Lohn, Sozialhilfe, Waisenrente, Witwenrente oder weiß der Teufel was bekommen und waren ganz heiß drauf, den Sold schnellstmöglich in etwas Sinnvolles anzulegen. Es gab also viel zu drehen und zu zapfen für Linda. Die U-förmige Theke befindet sich im Zentrum des Ladens. Die Kommandozentrale im Konsumraum. Stakkatoartig prasseln hier die Bestellungskommandos auf Linda ein. Ein paar alte Barhocker mit abgewetztem Stoffbezug stehen am Tresen und es gibt einige Sitzecken mit nackten und abgegriffenen Tischen und ungepolsterten Stühlen. Eiche rustikal Sperrmüll Flair. Die omnipräsente Atmosphäre des Verfalls und der ungehemmten Vernachlässigungs-Egal-Mentalität macht einem das Trinken noch leichter und spiegelt nur das wider, was auch in vielen Gesichtern in diesem Laden geschrieben steht. Die rohe Lieblosigkeit stimuliert den Flucht- ergo Schluckreflex und führt zur radikalen Auslöschung des Selbsterhaltungstriebes. An den Wänden hängen ein paar schief mit Tesafilm befestigte Poster. Vergilbte Astra Bier Werbung und Phil Collins Poster, von dem der frühere Kneipenbesitzer mal Fan war. Als er noch lebte. Und über der raumfordernden Ödnis dieser Endzeit-Szenerie hängen immer dichte Nebelschwaden, verursacht von unzähligen Glimmstängeln, die in das Halbdunkel des Raumes hineinleuchten wie kranke Glühwürmchen. In einer hinteren Ecke hängen zwei immer okkupierte Spielautomaten, die rund um die Uhr ihr Gedudel absondern. Ich werde nie verstehen, wie man Stunden lang vor diesen bunten Kästen sitzen kann, um sich dann diebisch zu freuen, wenn man von den zuvor versenkten Hunderten von Euros, 20 in Form von Kleingeld wieder bekommt.
Ich sah auf die Uhr. Zehn vor zehn. Die Tür ging auf und Toni kam rein. Mit leicht geduckter Körperhaltung sah er sich unsicher im Laden um, bis er mich und meinen winkenden Arm bemerkte. Wir begrüßten uns mit Handschlag und er setzte sich neben mich an den Tresen. „Zwei Korn“ plärrte ich über die Theke. Toni war fast zwei Meter groß und hatte schwarze, fettige, lange Haare, die er sich immer hinter seine Ohren strich. An der rechten Seite der Unterlippe hatte er ein Piercing. Einen Ring, auf dem er ständig herum kaute. Er trug ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und blaue Jeans. Dazu neongelbe Sportschuhe von einer Marke, die ich nicht kannte. Dass ich wieder Single bin, beziehungsweise Beziehungswaise, hatte ich ihm gar nicht erzählt. Wahrscheinlich hätte er es zum Anlass genommen, mir womöglich noch Ratschläge erteilen zu wollen. So saßen wir da. Rauchten, redeten, tranken, pissten und atmeten.
Gegen halb zwei spürte ich eine große Welle aufbrandender Langeweile in mir und mein Bedarf an stumpfsinniger aber ablenkender Unterhaltung war gedeckt. Ich zahlte beide Deckel. Nicht aus einer Gönnerlaune heraus, sondern aus reinem Pragmatismus. Ging schneller. Wir wankten durch die kalte Nacht ins Amadeus. Die nächstgelegene Discothek. Eine wirkliche Unterhaltung war hier aufgrund der dröhnenden Musik glücklicherweise so gut wie unmöglich. Vor dem Laden war erfreulicherweise keine Schlange und wir konnten nach den obligatorischen, uns musternden Türsteher-Blicken direkt ins Ladeninnere. Wobei diese Musterung eine reine Formsache zu sein scheint und eher dem persönlichen Vergnügen der Security-Abteilung dient. Solange man nicht gerade eine Bombenweste trägt oder „Heil Hitler“ auf die Stirn tätowiert hat, kommt jeder ins Amadeus. Auch Toni mit seinen neongelben Schuhen und fettiger Frisur. Ich selber trug eine schwarze Cordhose, dunkelblaues Radiohead Shirt, schwarze verschlissene Nike Air Max und schwarze Kappe.
Der Tanzschuppen selbst besteht aus zwei Räumen und erinnert mit seinem minimalistischen bzw. gar nicht vorhandenem Raumkonzept an das Meiers. In dem ersten Raum gibt es in der Mitte eine Tanzfläche mit darüber angebrachter Disco-Kugel. Ihr mangelt es an Reflektionsfläche, da viele der kleinen Spiegel-Mosaike bereits abgeplatzt sind. An der Seite des Raumes befindet sich die Bar. Ein paar Meter gegenüber der Bar ist eine kleine Empore, auf der sich der DJ mit seinem Technikkrams eingerichtet hat. Gestern war kein DJ am Werk, sondern eine DJane. Mit so einem neongrünen, bauchfreien Top und zwei im Rhythmus der Musik wippenden Haarzöpfen hampelte sie auf ihrer Kanzel herum und drehte bedeutungsschwanger an irgendwelchen Knöpfchen rum. Dabei ist die Musik in diesem Laden immer die gleiche. Die einzigen Parameter die sich ändern sind Lautstärke und Reihenfolge. Man könnte auch einfach den überflüssigen menschlichen Knöpfe-Dreher durch einen alten PC mit Winamp als Abspielprogramm ersetzen, den FETENHITS-Sampler von vor 10 Jahren als PLAYLIST da rein laden und auf Zufallswiedergabe drücken.
Toni und ich drängelten uns also durch das aus allen Nähten platzende und stickige Tanzlokal. Ab und zu wurde ich von verschwommenen Figuren begrüßt, die ich scheinbar von irgendwoher kannte. Kurzer Austausch der gängigen, sinnentleerten Floskeln, besoffene pseudoherzliche Umarmungen und weiter gings. Wir waren beide schon gut hinüber. Aber den Weg zur Theke findet man immer. Eine von Gott oder wem auch immer im Menschen angelegte genetische Disposition. Ein Automatismus, den der Körper im Falle des Falles abruft, auch wenn die Beine kaum noch gehorchen. An der Bar bestellten wir Whiskey-Cola. Die Cola war schal und Eis gab es auch keines. Mein unscharfer Blick ging wieder in Richtung Verursacherin der in meinen Ohren schmerzenden Tonabfolgen. Ich sah wieder dieses exaltierte und bunte Knopfdrehrumgezappel. Ich musste unweigerlich an die Techno-Braut Marusha aus einem scheinbar anderen Leben denken und wurde schlagartig in meine Jugend sprich in die 90er zurück versetzt. Auch sie fummelte vor sich hin zappelnd an irgendwelchen Knöpfen rum und irgendwie machte das auch Sinn. In den 90ern. „Somewheeeeere, ooooover the raaaainbow“. Bum Bum Bum. Und ganz heimlich war ich in Marusha verliebt. Da mochte ich dieses unbeschwerte Rumgezappel. Aber heute? Während PUR gespielt wird? An Knöpfen drehen? Mit ins Abenteuerland kommen? Das machte nun wirklich keinen Sinn!
Der zweite Raum des Ladens besteht eigentlich nur aus zwei zusammen gewürfelten Couchgarnituren, noch schummrigerem Licht und einem Billardtisch, für den es nur EINEN Queue gibt. Kugeln fehlen auch einige. Hier gibt es keine Musik. Man hört nur den hier noch dumpferen Rest-Klangbrei aus dem Nachbar-Raum.
Wir standen immer noch an der Bar. Ich blickte zu Toni. Der Autofokus meines Sehapparats funktionierte nicht mehr richtig, Scharfstellung und Unschärfe wechselten sich ab. Toni hatte sich mit dem Rücken an die Theke gelehnt und seine Arme verschränkt. Sein Kopf hatte den Kampf gegen die Schwerkraft aufgegeben und hing vorne über. Das Kinn auf seiner Brust. Seine Haaren fielen ihm ins Gesicht. Ich hatte eh genug von ihm für heute. Mein Blick wanderte zur Tanzfläche. Auch hier buntes Rumgezappel. Eine einzige Aneinanderreihung von FEHLTRITTEN. In jeglicher Hinsicht. Die Masse tobte zu dieser Plastikmusik aus schlechten Boxen. Es gab auch einige, die nur noch da rum standen und scheinbar wie Toni im Stehen eingeschlafen waren. Ab und zu ein leichtes Schlingern und Straucheln. Dann gab es die Typen, die mit einem Ausdruck verzweifelter Einsamkeit in den Augen versuchten, sich noch etwas Fickbares mit nach Hause zu nehmen. Diese flehenden Blicke sagten: „Bitte lass mich nicht alleine durch diese kaputte Nacht leben! Lass mich nicht mit mir alleine!“ Wie angeschossene, würdelose und entmenschlichte Zombies taumelten sie zu den Klängen von Haddaway über den Dancefloor. „What is love? Baby don´t hurt me, don´t hurt me, no more!“ Der Laden typische Billigfusel kann einen sehr ernüchternden Erkenntnisgewinn mit sich bringen, was das gewahr werden deiner sozialen Stellung in dieser Nacht, an diesem Ort, in diesem Leben betrifft. Der Suff treibt dir den Stachel der Einsamkeit immer tiefer in die Brust.
Plötzlich stieß mich jemand von der Seite an. Ich dachte erst, Toni wäre aus seinem Koma erwacht, aber nachdem ENDLICH die nicht mehr in meinem Einflussbereich liegende SCHARFSTELLUNG meiner Augen wieder an der Reihe war, sah ich, dass es jemand anderes war. Eine mir unbekannte Frau beugte sich zu mir vor und lallte Spucke in mein Ohr:
„Kannsu mir ein ausgeben? Ich bin blank!“
Warum nicht, dachte ich mir und sah an ihr herunter. Sie trug hochhackige Schuhe, schwarze Strumpfhose zu schwarzem Rock und weißer Bluse. Ihre Haare hingen in wirren Locken in ihrem sommersprossigen Gesicht. Ihre Figur ordnete ich mit nicht mehr vorhandenem Urteilsvermögen als ganz passabel ein.
„Was willstn haben?“ fragte ich sie.
„Wodka EEEEE“ brüllte sie mir ins Gesicht.
Ich bestellte, gab ihr diese Karikatur eines Drinks in die Hand und als Dankeschön bekam ich ihre raue Zunge zu schmecken. Ich war etwas überrascht, ob dieses unangekündigten Frontal-Akts der Intimität. Ich hatte lange Zeit immer nur dieselbe Frau geküsst und fühlte mich zunächst mit einem seltsamen Gefühl der Beklemmung unwohl. Aber der Alkohol als soziales Schmiermittel in mir kümmerte sich zuverlässig um diese lächerlichen Gefühlsduseleien und ich ließ es geschehen. So standen wir da, in dieser kalten Dezembernacht, an diesem Tresen, in diesem gottverlassenen schwitzenden Schuppen, schmeckten Wodka-E, Whiskey-Cola und verzweifelte Küsse, während Toni neben uns selig schlummerte. Sie schien mich auffressen zu wollen in ihrer versoffenen, alle Hemmschwellen vernichtenden Gier und fragte mich nach einer Weile, während sie mir mit ihrer Hand über meinen Hosenlatz strich, ob wir zu mir gehen könnten. Seltsamerweise schaute ich nach dieser Frage erst einmal auf meine Uhr. Als ob Zeit in dem Moment eine tragende Rolle gespielt hätte. Der Laden ist ein schwarzes Loch in einer Art Paralleluniversum. Da ticken die Uhren anders. Halb sieben.
„Geht klar“ sagte ich kurz und knapp und schaute zu Toni rüber. Unveränderte Körperhaltung. Ich ließ ihn einfach als Beschäftigungstherapie für die Security-Zunft da stehen. Arm in Arm strauchelten wir über ein Trümmerfeld von Glasscherben und ausgetretenen Kippen durch den mittlerweile recht leer gewordenen Laden nach draußen. Der Tanzschuppen spie uns aus. Hier und da sah man noch vereinzelt Menschen, oder das was die Nacht von ihnen übrig gelassen hatte, herum laufen. Es dämmerte bereits und man hörte den Singsang der Vögel. Ich hasste es. Diese morgendliche betriebsame Aufbruchstimmung der Natur, des anbrechenden Tages, kollidierte in erheblichen Maße mit meiner inneren zeitvergessenen Abbruchstimmung und irritierte mich. Bis ich wieder diese ZUNGE zu schmecken bekam. Ich winkte ein Taxi heran und sie versuchte noch im Taxi den Reißverschluss meiner Cordhose zu öffnen. Aber der Alkohol und der rasante Fahrstil des Taxifahrers hatten sich gemeinsam gegen ihre motorischen Fähigkeiten verschworen und es gelang ihr nicht. In meiner Wohnung angekommen wurde mir wieder schlagartig bewusst, dass ich ja jetzt ALLEINE in dieser für mich viel zu großen Wohnung wohne. ALLEINE! Überall existieren noch Zeugnisse unserer jüngst beendeten gemeinsamen Zweisamkeit. Auch einige von ihr selbst gemalten Bilder hängen noch an der Wand und erst jetzt wunderte ich mich, warum sie nicht auch die mitgenommen hat.
Ich ging erst mal auf die Toilette. Bier, Korn und Whiskey-Cola überforderten mein Verdauungssystem und rumorten in mir rum. „Wenigstens musst du nicht kotzen“ dachte ich noch, während ich vor mich hin dämmernd und scheißend auf der Kloschüssel saß. Besser mit dem Arsch AUF der Schüssel, als auf den Knien DAVOR. Als ich fertig war, ging ich zurück zu ihr ins Wohnzimmer. Niemand da. Ich ging ins Schlafzimmer. Sie lag nackt auf dem Bett und fummelte mit seltsamen Grunzgeräuschen an sich rum. Ich zog mich aus und legte mich zu ihr. Sofort machte sie sich daran mit ihren Händen meinen halbschlaffen, indolenten Schwanz zu bearbeiten. Dann nahm sie ihren Mund zu Hilfe, um alkoholbedingten Erektionsstörungen entgegenzuwirken. Wie die schlecht justierte Mechanik einer Maschine glitt ihre Mundöffnung auf meinem Schwanz auf und ab. Paul McCartney schaute zu. Von meinem Poster an der Wand sah er mich die ganze Zeit mit einem wissenden Blick an. Auch wenn sie sich mehr als ungeschickt anstellte, war ihr verzweifeltes Bemühen von Erfolg gekrönt. Sie setzte sich auf mich und wir trieben es. Sie vergrub ihre langen roten Fingernägel in meinen Oberschenkeln. Ich spürte nichts. Ich weiß nicht mehr wie lange wir uns abrackerten. Im Rückspiegel der Erinnerung sehe ich nur noch ihre grellen Fingernägel und Paul McCartneys traurige Augen.
Irgendwann schliefen wir wohl ein. Gegen Mittag weckte sie mich mit einem unsanften Rütteln. Sie müsse weg. Einer Freundin beim Umziehen helfen. Ich stellte keine Fragen und brachte sie zur Tür. Keine Verabschiedung. Nur das hallende Klackern ihrer Absätze im Treppenhaus.
Ich schloss die Tür und legte mich wieder ins Bett. In einem Akt sinnlos ritualisierter Angewohnheit stellte ich den Wecker. Und dann erklang immer wieder derselbe Satz in mir: ALLEINE sein tut mir nicht gut, deshalb benutz ich DICH als LIEBESSUBSTITUT. Wie in einer Endlosschleife fräste sich dieser Satz durch mein Hirn, wurde jedoch mit der Zeit immer leiser und leiser, bis ich mich endlich mit einem Gefühl totalster Erschöpfung in die ausgebreiteten Arme des Schlafs fallen ließ. Und dann träumte ich mich durch die Wirrnisse eines wahnsinnigen Traums.