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Zu Tisch
"Papa, die anderen lachen über mich."
Der Vater blickte den Sohn mit einem durchdringenden Blick an, fast als würde er ihm nicht glauben, fast als wäre das keine angemessene Antwort auf die Frage, wie es in der Schule war, fast als hätte er die Frage lieber nicht gestellt. Die Augen hefteten sekundenlang auf dem kleinen Jungen und in rasender Geschwindigkeit überkamen den Mann Gedanken, auf die er am Abend nicht stolz sein sollte. Natürlich war er etwas kleiner als die meisten in seinem Alter und nicht so sportlich, wie die meisten seiner Schulkameraden und da war natürlich die unschöne Narbe am Mundwinkel... Natürlich wusste er, dass man für weniger ausgelacht und ausgestoßen werden konnte aber bis jetzt war doch alles gut. Oder nicht?
"Was hast Du gesagt? Seit wann? Bis jetzt war doch alles gut, oder nicht?"
"Ach, seit ein paar Wochen."
"Wie bitte? Warum sagst Du denn nichts?"
"Mach ich doch."
"Ja, aber warum sagst Du denn nichts früher?"
Der Junge zuckte mit den Schultern und blickte den Vater verständnislos an.
"Ist doch egal."
"Nein, das ist nicht egal, überhaupt nicht egal! Wenn Du gemobbt wirst, muss ich das wissen, damit ich Dir helfen kann."
"Ich will doch gar keine Hilfe."
"Was? Wieso das nicht?"
"Die lachen doch."
"Die lachen nur? Schatz, so fängt das ganz oft an, erst lachen sie und wenn man dann nichts dagegen unternimmt, machen sie langsam mehr. Verstehst Du? Also, wieso lachen die Anderen Dich aus?"
Der Junge blickte von seinem Essen zu seinem Vater, wieder zurück und schob den Teller mit einem leisen Seufzen von sich weg.
"Die lachen, weil ich lache."
"Weil Du lachst?"
"Ja! Die Menschen lachen so wenig. Alle schauen immer so traurig oder genervt. Weißt Du noch, als Du mich mit in die Stadt genommen hast? In diese eine Straße, die große, ich hab den Namen vergessen."
"Ist doch nicht so wichtig, welche Straße Du meinst."
"Doch, die sieht so schön aus und da sind überall Menschen. Das ist die Straße, wo Du die Hemden gekauft hast."
"In der Kaufingerstraße?"
"Ja, genau, die meine ich."
"Also, was ist denn mit der?"
"Was meinst Du, wie viele Menschen waren an dem Tag dort, als Du mich dahin mitgenommen hast?"
"Viele.. keine Ahnung, das ist doch völlig egal! Was hat das mit den Kindern zu tun, die Dich auslachen?" Der Vater blickte auf die Uhr.
"Das ist gar nicht egal. Was meinst Du, wie viele Menschen waren da?"
"Mein Gott! Vielleicht ein paar Tausend."
"Hast Du einen von denen lachen sehen?"
"Das weiß ich nicht mehr. Natürlich lachen die Menschen nicht andauernd, viele sind gestresst und wollen schnell irgendwo hin oder sind von den anderen Menschen genervt, weil es in den Straßen so voll ist."
"Ich habe ein Kind lachen sehen und zwei Erwachsene, die haben sich angelächelt und dann geküsst aber der Rest hatte nichts im Gesicht. Ich finde das richtig traurig und als ich das so lange gesehen habe und am Abend im Bett nicht einschlafen konnte, habe ich gesagt, dass ich dagegen etwas tun möchte. Also bin ich am nächsten Morgen aufgewacht und rausgegangen und habe jeden Menschen angelacht. Es hat wirklich geholfen, denn so viele Menschen haben zurück gelacht und viele, die nicht gelacht haben, haben hinterher gelächelt, das hab ich gesehen, wenn ich mich umgedreht habe."
"Okay, das ist doch sehr schön. Erwachsene freuen sich immer, wenn Kinder lachen."
"Ja und dann bin ich am nächsten Tag wieder in die Schule gegangen."
Der Vater fürchtete zu verstehen.
"Und Du hast da auch jeden angelacht?"
"Genau und da haben dann ganz oft alle angefangen zu lachen und weil ich nicht aufgehört habe zu versuchen, alle zum lachen zu bringen, haben die Anderen angefangen, mir Namen zu geben."
Der Vater schloss die Augen und vor seiner inneren Szenerie spielte sich ein allzu vertrautes Schauspiel ab. Da standen viele Kinder im Kreis, hauptsächlich Jungs aber natürlich auch ein paar Mädchen. Die meisten waren still und schauten schweigend und schweigend zustimmend zu, wie die Anführer der Gruppe, die immer ein bisschen größer waren als die Anderen, laut auf den kleineren Jungen in der Mitte einbrüllten. Und in den kurzen Pausen, in denen sie nicht auf den Jungen einbrüllten und ihn Narbenkind nannten, lachten sie ihn aus und die hinter ihnen, die mehrheitlich schwiegen, die lachten nicht, aber sie schmunzelten. Ein Mädchen trat vor und malte den beiden Lautesten mit rotem Lippenstift die Narbe des Narbenkindes nach. Hey, hat Dir Deine Mama gesagt, dass Du hässlich bist, mit Deiner Narbe, und dass Du mehr lächeln sollst? Richte ihr aus, das hilft nicht! Und der kleinere Junge in der Mitte, den der Vater nicht wirklich sehen konnte, lachte er immer noch?
"Papa?"
Der Vater musste sich kurz finden.
"Gott, das ist schrecklich, wie lange geht das jetzt schon mit Dir und den Anderen?"
"Ein paar Wochen."
"Und Du hast nie etwas sagen wollen? Vertraust Du mir nicht?"
"Doch, Papa, ich vertraue Dir."
"Dann sag doch früher etwas! Hast Du Wunden oder blaue Flecken, die Du Mama und mir nicht gezeigt hast?"
"Nein, habe ich nicht! Wieso sollte ich blaue Flecken haben?"
Verdutzt blickte der Vater den Sohn an.
"Schlagen Dich die anderen Jungs nicht?"
"Nein! Ich habe doch gesagt, sie lachen über mich und stehen manchmal zusammen und wenn ich an ihnen vorbei gehe, fragen sie, warum ich immer so traurig gucken muss und ob ich nicht mal lachen kann. Dann lache ich noch mehr und sie auch. Manchmal führe ich den einen Kartentrick von Opa vor oder versuche Bälle zu balancieren, weil ich weiß, dass die anderen Kinder das lustig finden und manchmal lasse ich die Bälle absichtlich fallen, weil ich weiß, dass die anderen Kinder das noch lustiger finden. Dann nennen sie mich einen ungeschickten Clown und wir lachen."
"Also.. geht es Dir gut?"
Der Vater konnte immer noch nicht glauben.
"Ja, sehr gut!"
"Und es stört Dich nicht, dass die anderen Kinder über Dich lachen?"
Der Vater fixierte die Augen des Sohnes auf der Suche nach jedem verräterischen Zucken, während der Sohn antwortete: "Nein, Papa, ich freue mich darüber. Dann lachen sie wenigstens."