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Zu spaet
Zu spaet
Selina war immer ein sehr froehliches und lebhaftes junges Maedchen gewesen.
Sie hatte eine glueckliche Kindheit gehabt. Wenn ihre Mutter daran zurueckdachte,
sah sie ihre Tochter strahlend mit dem Fahrrad in der wenig befahrenen Spielstrasse. Ein anderes Mal war sie eifrig dabei, die Strasse mit bunten Kreidekunstwerken
zu verschoenern. Es gab unzaehlige Erinnerungen. Unzaehlbar viele, unzaehlbar schoene. Sie hatte immer viele, gute Freunde gehabt, und in der Schule gab es keine Probleme. Kurz: Es war ein friedliches, harmonisches Familienleben ohne gravierende Streitereien mit den Eltern. Sie fuehlten sich sehr wohl.
Zuerst nahm es Selina dann recht gelassen hin, als ihr Vater von der Arbeit nach Hause
kam und der Familie mitteilen musste, dass sie umziehen wuerden. Er war beruflich ver-
setzt worden, so dass ihr Wohnort von dem Vorort Hamburgs aus nach Muenchen wuerde wechseln muessen.
Der Abschied fiel Selina dann doch ziemlich schwer, aber sie war, genau wie ihre Eltern,
davon erzeugt, dass es nicht lange dauern wuerde, bis sie in Muenchen neue Freunde fand. Sie war jetzt vierzehn Jahre alt, und ging auf Menschen zu. Unbesorgt fand der Umzug statt.
Als der Alltag sich einspielte, stellte sich mit der Zeit allerdings heraus, dass es nicht so
einfach war, wie anfangs gedacht. Mit ihren Annaeherungsversuchen stiess Selina bei
den Jugendlichen aus unerklaerlichen Gruenden auf Stein. Sie wollte nicht aufgeben und
redete sich ein, `es wuerde schon noch kommen`. Aber nach Monaten war es eine geschriebene Regel: Sie verbrachte die Pausen allein, verabreden tat sie sich folglich auch nicht. Ihre Eltern merkten natuerlich, dass sie Probleme hatte, waren aber ratlos.
So war die Erleichterung gross, als sie eines Tages endlich das Laecheln auf dem Gesicht
ihrer Tochter sahen, das sie so vermisst hatten. Eine Gruppe von Jugendlichen sprach sie
an und lud sie sogleich zu einer Party ein. Von da an verbrachte Selina fast jeden Nachmittag und die Wochenenden komplett mit ihren neuen Freunden und ihren Eltern fiel ein Stein vom Herzen.
Doch mit der Zeit veraenderte sich Selina sehr. Sie zog sich immer mehr zurueck, wurde
stiller und befand sich in einer Art Schneckenhaus. Sie lebte in ihrer eigenen kleinen Welt, nahm agressive Eigenschaften und Verhaltensweisen an. Sie trug nur noch schwarze Kleidung, hoerte duestere Musik und verlor ihre vorher so froehliche
und angenehme Ausstrahlung. Selbstverstaendlich bemerkte ihre Mutter, in was fuer
eine Gruppe von `Freunden` ihre Tochter da hineingeraten war. Verzweifelt vesuchte
sie, ihre Tochter zu behalten, sie wollte sie nicht verlieren. Doch sie kam nicht mehr an
sie heran. Totale Abschottung...
Der Augenblick kam, an dem Selinas Mutter nicht mehr laenger warten wollte.
So klopfte sie an die Tuer des Zimmers ihrer Tochter und ging hinein, als keine
Antwort kam. Selina sass im Schneidersitz auf ihrem Bett, mit Kopfhoeren auf den
Ohren und sah ihre Mutter aus ihren dunkel geschminkten Augen genervt an. Diese setzte
sich ebenfalls auf das Bett und nahm die Kopfhoerer von Selinas Ohren. Ein agressives
„Hey!“ kam aus Selinas Mund, doch sie verstummte gleich wieder und blickte zu Boden.
„Ich bin nicht bloed. Ich weiss, was los ist!“, begann Selinas Mutter das Gespraech.
„Nichts weisst du!!!“, sagte ihre Tochter trocken.
„Ich lasse das nicht zu, Selina. Ich werde nicht zulassen, dass ich dich verliere. Auf keinen Fall und unter keinen Umstaenden. Ich liebe dich. Und du weisst es. Ich weiss,
dass du Probleme hattest, nach dem Umzug meine ich. Und ich weiss auch, dass ich dir mehr haette helfen sollen ich wusste nur nicht, wie. Ich fuehle mich schuldig. Wieder gut
machen kann ich das nicht, aber ich werde dich nicht kampflos aufgeben. Ich hoffe, dieses Mal ist es nicht zu spaet...“ Selina antwortete nicht und ihre Mutter verliess das
Zimmer mit den Worten: “Ich bin immer fuer dich da. Wenn du reden willst.“
Einige Tage spaeter sass Selinas Mutter im Wohnzimmer. Selina kam einfach herein,
setzte sich wortlos neben ihre Mutter und fing an zu weinen.
An dem Abend erzaehlte sie ihrer Mutter alles. Alle Erlebnisse mit ihren `Freunden`.
Ihre Mutter hoerte geschockt und fasziniert zu und liess sie einfach nur reden. Nur reden.
Am Ende sagte sie zu Selina: „Zusammen schaffen wir das. Du bist da raus.“
Der erste Schritt war, dass Selina die Schule wechselte. Sie trug jetzt wieder normale
Kleidung und alles normalisierte sich jetzt etwas. Und doch- ihre Mutter konnte sich
nicht erklaeren, was es war, doch da war noch etwas. Das wuerde sie bald herausfinden,
sie wuerde nciht aufgeben, bis sie ihre Tochter ganz wieder hatte.
Zum Abschied hinterliess Selina neben der geoeffneten- und leeren- Pillendose einen Brief:
„Es ist nicht eure Schuld. Ich musste es tun. Die geben nicht auf. Sie liessen mich nicht in Ruhe.Sie haben mich fast gekriegt...Ich war nur etwas schneller als sie...“