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Zu spät.
Schluss. Aus. Ende.
Stille. Dröhnen in meinen Ohren. Das „Amen“ hallt in meinem Kopf wider, übertönt alle Gedanken.
Rascheln hinter mir. Ein kleines Mädchen. Was macht sie hier? Kleine Kinder sollten spielen, fröhlich sein, sollten so etwas nicht sehen müssen.
Sie weint. Warum weint sie? Kannte sie dich, Sara? Ich weiß es nicht, sag du es mir.
Kann sie in ihrer kleinen, naiven Welt begreifen, was endgültig bedeutet? Oder weint sie, weil alle um sie herum trauern?
Die vielen Gesichter um mich herum – verschlossen, abwesend, ernst.
Viele Schüler, viele Lehrer. Bekannte. Kaum Freunde. Wir hatten nur wenige echte Freunde. Wir hatten uns. Wir beide gegen den Rest der Welt. Schon immer. Es war immer genug. Und jetzt?
Einen Schlussstrich ziehen, würdest du jetzt sagen. Kurz und schmerzlos. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Einen Schlusspunkt setzen.
Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht geht. Nicht einmal für dich war es schmerzlos.
Orgelmusik in der Kirche, viel zu laut. Langsam, traurig, melancholisch. Klavier wäre schöner. Ich hätte für dich gespielt. River flows in you. Oder Requiem for a dream, das ist passender. Früher war es ein schönes Lied. Jetzt ist es dein Lied geworden.
Ich weine nicht. Ich habe schon zu viel geweint. Mir ist eiskalt. Ich spüre meine Zehen nicht mehr.
Ich bin nicht hier, ich bin weg. Weit, weit weg, so weit oben, dass mich nichts erreichten kann. Meine Seele schwebt im Himmel, bei dir. Eine Mauer um mich herum, eine zarte Hülle um mein Herz.
Meine Seele kann fliegen. Du bist auch geflogen. Wie ist das, zu fliegen? Hast du gewusst, dass du stirbst? Du warst stark, du hast nicht geschrieen, du hast überhaupt kein Geräusch gemacht.
Weißt du, ich will dich festhalten. Ich will deine Hand nehmen und dich nie wieder loslassen. Ich will dich sicher über die Straße bringen, über jede Straße. Zu spät.
Du bist bei mir, jede Nacht, so nah, dass ich dich berühren kann. Wir stehen an der Straße. Ich erkläre dir alles, ich sage dir, was passiert. Aber ich bin verflucht, wie Kassandra von Troja. Du lachst. Du verschwindest. Ich strecke meine Hand aus, aber ich kriege dich nie zu fassen. Es ist zu spät. Du bist verblasst. Du bist ein Geist. Es ist zu spät für mich. Es ist zu spät für dich.
In meinem Kopf, in meinen Ohren deine letzten Worte: „Endlich Ferien.“
Deine Ferien enden nicht. Meine sollen woanders enden. Ich will keine Straßen mehr sehen, keine Schule, keine Autos. Ich will kein Blut mehr sehen, keine Blumen.
Hier sind überall Blumen. Schön bunt. Sie passen in dein Zimmer. Sie passen zu dir. Aber du passt nicht hierher. Du warst so fröhlich, so unbeschwert. Jetzt bist du eingesperrt. Du hättest getobt, geschrieen, in dein Kissen geboxt, wärst du zuhause. Du warst impulsiv.
Jetzt ist es still. Keine Orgel. Kein Flüstern. Kein Rascheln. Einfach Stille.
Weißt du, dass Stille laut sein kann? Laut wie die Orgel vorher, wie das Auto.
Weißt du, dass Stille schwer sein kann? Schwer wie Blei, wie mein Herz.
Stille gehört nicht zu dir, sie gehört zu mir. Es ist falsch hier, alles falsch. Ungerecht. Unwirklich.
Der Pfarrer redet. Es sind bedeutungslose Worte, ich kann sie nicht verstehen. Ich bin weg. Weit, weit weg. Meine Seele fliegt. Meine Seele hört ihn nicht. Im Himmel hört man keine Pfarrer. Du hättest ihm sowieso nicht zugehört. Gott gehört nicht zu deiner Welt.
Ich will ein Gewitter, heute Nacht. Gewitternächte gehören uns. Dann bist du vielleicht bei mir, eingehüllt in eine Decke, den Kopf an das Fenster gelehnt. Fasziniert. Wir beide haben nie im Regen getanzt. So viel verpasst. Es ist zu spät für dich.
Orgeln, viel zu traurig. Ich höre fast deinen Protest. Sie tragen dich trotzdem nach draußen, langsam, so langsam. Ich bin genauso ungeduldig wie du.
Sie stellen den Sarg vorsichtig ab. Jetzt darfst du die Radieschen von unten ansehen. Oder vielmehr die Blumen. Das sagen die Leute so, aber es ist Blödsinn. Der Himmel ist oben, das weiß jeder.
Der Sarg ist weiß. Unschuldig weiß. Die Erde ist hässlich, aber sie gehört dazu. Die Blumen sind schön. Genau richtig viele.
Der Sarg ist wie deine Seele. Am Anfang unschuldig weiß, dann kommen die bösen Momente, die Erde, die guten Momente, die Blumen.
Mein Kleid ist schwarz. Ich wollte ein lila Kleid, für dich, aber das macht man nicht. Stattdessen schwarz. Ein schwarzer Mantel aus Gleichgültigkeit um mein Herz. Eine schwarze Mauer um meine Gefühle. Du verstehst mich immer. Diesmal nicht. Es ist zu spät, um dir das zu erklären.
Beileidserklärungen. Ich lächle höflich. Eine Maske. Mein Gesicht ist schwer, mein Kopf ist schwer. Alles egal. Leer, ich bin leer. Meine Seele ist weg. Weit, weit weg. Sie erreichen mich nicht, auch wenn sie es versuchen. Meine Seele kann schweben.
Bald bin ich wieder zuhause. Zuhause ist meine Seele wieder da. Zuhause bist du wieder da.
Frische Erde. Feucht. Warm. Schmutzige Finger. Das bleibt übrig von dir.
Es ist zu spät. Du kannst dich nicht mehr um deine Beerdigung kümmern. Du kannst kein Testament mehr schreiben. Ich habe dein Tagebuch. Wenn du das nicht willst, ist es zu spät, um es mir zu sagen. Punkt.
Mama mag es nicht, wenn ich das sage. Ich glaube, es ist, weil Punkt. dir gehört. Basta. gehört Papa.
Es ist komisch, hier zu sein, weißt du. Oma und Opa sind immer noch total fertig. Bald gehen sie auch. Noch gehen sie nur zu deinem Grab. Bald muss ich drei Gräber besuchen. Du bist dann wieder bei Oma und Opa.
Pass gut auf sie auf. Pass gut auf dich auf. Pass auf Autos auf.
Vielleicht hast du im Himmel noch eine Chance. Hier ist es zu spät für dich.
Ich schreibe Briefe an dich. Ich verbrenne sie wieder. Die Flammen steigen in den Himmel. Sie können die Buchstaben zu dir mitnehmen. Hoffentlich kommen sie in der richtigen Reihenfolge an.
Wenn nicht, dann musst du eben puzzlen. Du hast ja jetzt Zeit. Dafür ist es nicht zu spät. Nur zum Reden. Und für WhatsApp. Das könnte schwierig werden.
Weißt du, Sara, ich vermisse dich. Wir sind leise geworden, Mama und Papa und ich. Ich mag keine Stille mehr.
Wir fahren nicht weg. Du bist alleine weggefahren. Das ist genug. Und ich will keine Autos mehr.
Wir sind eine Bilderbuchfamilie geworden, Mama und Papa und Tochter. Die Großeltern. Wenn man unsere Gesichter nicht ansieht, müsste man meinen, wir sind glücklich.
Irgendwann bin ich das wieder. Ich weiß das und du weißt das.
Meine Seele kommt langsam wieder zurück, sie fällt. Manche Leute können sie langsamer machen, aber niemand kann sie aufhalten.
Ich traue mich nicht, in dein Zimmer zu gehen. Es ist falsch, wenn es leer ist.
Ich weiß, dass ich seltsam bin. Das ist eben so. Punkt.
Ich brauche dich. Für immer.
Ich vermisse dich, so sehr, dass es wehtut.
Ich bleibe deine Schwester, und du bleibst meine Schwester. Für immer.
Punkt.