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Zu spät
Du sagtest du hättest keine Zeit und bist an mir vorbei gehastet. Ich habe dir nur nachgeschaut und nichts gesagt. Du wußtest nicht, dass du wenige Minuten später sterben würdest.
Ich wußte es auch nicht.
Du hattest keine Zeit für mich. Du warst zu beschäftigt. Aber nicht zu beschäftigt um zu sterben. Jetzt liegst du auf der Straße. Deine Augen sind weit aufgerissen, deine Hände zu Fäusten verkrampft. Um dich herum liegen Splitter von Glas und Plastik und der Inhalt deines Rucksacks. In der Ferne kann ich näher kommende Sirenen hören. Sie sind schnell, aber zu spät. Der Fahrer des Wagens sitzt apathisch am Straßenrand und starrt ins Leere.
Ich lächle traurig. Deine Pupillen sind weit. Aus der Menge scheinst du nur mich anzuschauen. Dein Atem geht stoßweise, mühsam. Ich vermute ein paar deiner gebrochenen Rippen haben sich in deine Lunge gebohrt und machen dir das Atmen schwer.
Du hast Angst. Ich sehe es in deinen Augen. Und du bist alleine. So furchtbar einsam. Ich möchte zu dir hingehen und dir die Haarsträhne aus dem blutigen Gesicht streichen. Doch ich tue es nicht.
Du warst hübsch. Jetzt verunziert die Panik und eine klaffende Wunde auf deiner Schläfe deine Züge. Sie werden es nähen müssen, wenn du tot bist. Man kann deinen Eltern ja nicht das zerschnittene Gesicht ihrer toten Tochter zeigen. Deine Lippen formen lautlose Worte. Langsam fließt das Leben in roten Rinnsalen aus deinem Körper.
Deine Lider flattern sanft. Als wärest du müde. Bist du müde? Du hattest es so eilig. Hattest du Zeit zum schlafen? Keine Sorge, jetzt hast du die Ewigkeit. Kraftlos hebst du deine Hand und läßt sie wieder sinken. Die Sirenen sind näher gekommen. Sie werden gleich hier sein. Aber sie sind zu spät. Das weißt du doch, oder?
Der Ausdruck deiner Augen sagt mir deutlicher als jedes Wort, dass du es weißt. Sanft streichle ich deine Wange mit meinen Blicken. Du schließt kurz die Augen. Es könnte endgültig sein. Die Dunkelheit könnte bleiben. Das ist dir doch klar, oder? Deine Lider fliegen wieder auf. Die rote lache um dich herum breitet sich immer weiter aus. Deine Zunge leckt kurz über deine Lippen. So rot. Sie bringt einen Schwall von Blut mit sich. Hab keine Angst. Es wird bald vorbei sein, weißt du?
Der Schmerz wird gleich schwinden und dann kannst du schlafen. Die Sirenen sind da. Männer in roten Anzügen springen aus dem Auto. Einer kniet neben dir nieder und spricht dich an. Doch du siehst ihn nicht. Du siehst nur mein Gesicht in der Menge. Er fühlt deinen Puls. Schwach aber vorhanden. Ein anderer kommt mit einer Trage. Dann verschwindet die Panik aus deinen Augen. Ich nicke dir freundlich zu. Es ist als hättest du auf diesen Wink gewartet. Du richtest dich halb auf. Dein Gesicht ist der Straße zugewandt, deine Hände flach gestützt in die Lache deines eigenen Lebens auf dem Teer. Du würgst und erbrichst einen Schwall von Blut. Ein Krampf schüttelt deinen gesamten Körper. Gleich ist es vorbei. Dann hast du Zeit. Du knickst wieder ein.
Der Mann fängt dich auf. Er weiß noch nicht, dass du jetzt endlich schläfst. Er fühlt erneut deinen Puls und Schrecken breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er ruft nach den anderen, gibt Anweisungen.
Schlaf nur, schlaf.
Verzweifelt versuchen die Männer das Herz in deiner zerschmetterten Brust zum Schlagen zu bringen. Sie verstehen nicht, dass du jetzt ruhst. Ich kann dein Gesicht nicht sehen. Es ist mir abgewandt und mit deinem Blut beschmiert. Doch ich weiß, dass du mich ansiehst. Ich wende mich ab und gehe.
Und du bekommst die Ruhe, nach der du dich schon immer gesehnt hast am Grunde des Herzens, das jetzt stumm in deiner Brust liegt.