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Zu Hause
„Es ist nicht so schlimm einen Menschen umzubringen.“
„Wie bitte?“
„Es ist nicht so schlimm.“
„Du hast einen MENSCHEN getötet.“
„Es ist Krieg.“
„Aber das war kein Soldat. Es war ein Mensch. Ein Mensch, der Hunger hatte.“
„Und wenn der Nächste kommt und uns bedroht, werde ich es wieder tun.“
„Er hatte nur Hunger.“
„Ja.“
„Ich glaube ich kenne Dich gar nicht.“
„Hör mir mal jetzt gut zu! Das hier ist meine Familie. Mein Haus. Gut – vielleicht gehört das Haus der Bank, oder wer auch immer unseren Kredit ersteigert hat. Aber das ist jetzt alles egal. Du hast die Nachrichten gehört, wie es zu Tumulten in den Städten kam. In München, Hamburg und hier in Berlin gab es Anschläge. Es gab Explosionen. Viele. Vor drei Tagen ist der Strom ausgefallen. Nur mal angenommen, dass sich das in den nächsten Tagen nicht bessern wird, dann kann ich nicht mal einen ungebetenen Typen hier dulden. Ich kann nicht unser Essen an Fremde ausgeben – dann werden wir nämlich verhungern. Aber das ist noch das kleinste Problem. Wir werden eher verdursten. Es kommt nämlich auch kein Wasser mehr aus dem Wasserhahn - ist dir das schon aufgefallen?“
„Ja, aber..“
„Wir müssen mit den acht Wasserflaschen auskommen, die wir letzte Woche noch gekauft hatten. Willst du zusehen, wie unser Sohn verdurstet? Ich nicht. Ich werde das solange verhindern, wie ich kann.“
„Aber…“
„Aber was?“
„Du hast einen Menschen ermordet.“
„Das weiß ich.“
„Aber…“
„Worauf willst du hinaus? Menschenwürde? Das fünfte Gebot? Gesetze?“
„Ja.“
„Ja, was?“
„…“
„Gut. Dann gehen wir die Punkte mal durch. Dieser Typ ist in unser Haus eingebrochen. Er hatte unseren Sohn als Geisel, oder wollte ihm schlimmeres antun. Menschenwürde? Respekt? Er war wie ein wildes Tier. Ich musste in seine Augen blicken – da war nichts menschliches mehr übrig. Menschenwürde und Moral sind untergegangen. Es ist Krieg. Es geht um das reine Überleben. Und wenn es um ‚er oder wir‘ geht, dann entscheide ich mich für uns.“
„Und das andere?“
„Oh ja. Du sollst nicht töten. Wir sind Christen. Stimmt. Aber ich habe auch schon mal gelogen. Und du weißt was die Kirche zum Sex vor der Ehe sagt.“
„Aber das ist doch nicht das gleiche.“
„Ach nein? Ich finde schon. Gott hat übrigens nur das erste Gebot als wichtiger definiert. Alle anderen sind gleichwertig. Ich werde beim nächsten Abendgebet um Vergebung bitte. Ist dann damit gut?
„Das ist nicht richtig.“
„Stimmt. Es ist falsch und es fühlt sich falsch an. Das ist aber nicht unsere Schuld. Es ist nun mal jetzt so.“
„Es ist so? Sollen wir uns einfach damit abfinden?“
„Wenn ich mich damit abfinden würde, würde der Mann noch leben und wir wären spätestens übermorgen tot. Ich kämpfe.“
„Du tötest einen Menschen, damit wir unser Haus behalten?“
„Was? Nein. So habe ich das nicht gemeint. Bald kommt sowieso der nächste, schmeißt die Fensterscheiben ein und plündert was er für richtig hält. Das Haus ist mir egal, aber hier kennen wir uns aus. Hier weiß ich, wo wir uns verstecken können, wo wir eine Chance haben.“
„Und wenn die Polizei kommt?“
„Deshalb haben wir ihn ja vergraben und nicht im Flur liegen lassen. Ich verstehe ja deine Angst. Die habe ich auch. Aber wir sind jetzt auf uns allein gestellt.“
„Wir müssen hier weg!“
„Was?“
„Wir haben doch jahrelang Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt sind wir dran. Flüchten wir irgendwohin wo es keinen Krieg gibt.“
„Und wo soll das sein?“
„Schweden, Russland. Von mir aus flüchten wir nach Syrien oder Afrika. Was weiß denn ich?“
„Das ist zu weit. Das schaffen wir nicht.“
„Wieso denn nicht?
„Weil ich leider letzte Woche nicht getankt habe. Wir würden es kaum nach Polen schaffen, geschweige denn an die Nordsee oder ans Mittelmeer. Und ich bin mir sicher, dass kein Zug oder Flug mehr hier weggeht.“
„Was sollen wir denn machen?“
„Wir müssen einfach durchhalten und überleben. “
„Wie lange denn?“
„Das weiß ich auch nicht. Vielleicht eine Woche oder so.“
„Eine Woche?“
„Ja. Entweder sind dann die meisten verdurstet oder haben sich gegenseitig umgebracht.“
„Was passiert denn hier nur?“
„Hör auf zu weinen.“
„Aber…“
„Ich weiß. Komm her!“
„Ich kann das nicht aushalten.“
„Doch, das kannst du.“
„Nein.“
„Denk an unseren Sohn. Du kannst es.“
„Da kommen Leute.“
„Wo?“
„Da hinten.“
„Verdammt. Los, gib mir den Spaten und geh nach oben!“