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Zu erleben, was man hat (Samstag)
Zu erleben, was man hat
Nach Ernas Tod hatte ihm niemand gesagt, dass der samstagmorgendliche Gang zum Bäcker sein größtes Problem sein würde. Um die Sauberkeit der Wohnung sorgte man sich. Um den Fall, dass er sich verletzen und keine Hilfe rufen könne, weil er nicht zum Telefon kam. Selbst um das Wohl der Orchideen und des Hibiskus hatten sie sich Gedanken gemacht, aber niemand – weder die Pflegerin, noch die Pfarrerin, noch seine eigenen Söhne hatten an den Bäcker gedacht.
Samstagmorgens, so war es bei ihnen Tradition gewesen, war Siegfried Moosbach um halb acht aufgestanden, hatte Kaffee aufgesetzt und einen Spaziergang zum Altstadt-Bäcker angetreten. Der letzte echte Backwarenladen in der Stadt, der es noch verstand, Geschmack in seine Waren zu bringen – nicht so ein Massenabfertigungskram, der möglichst billig unter die Leute gebracht wurde.
Bei diesem Bäcker hatte er sich immer mit der freundlichen alten Verkäuferin unterhalten, die ihn nach seinem Knie fragte und nach Ernas Herzen. Jedes Mal wünschte sie ihnen beiden einen schönen Samstag und natürlich gute Besserung, auch wenn man damit nicht rechnen konnte und obwohl sie Erna nicht mal persönlich kannte. Selbst in Begleitung war sie seit Jahren schon nicht mehr weiter als ein paar Schritte außer Haus gegangen.
Bei diesem Bäcker hatte er immer zwei Brötchen gekauft, meistens Mehrkornbrötchen, manchmal Roggenbrötchen und sehr selten die weißen Schnittbrötchen. Ein paar Mal ließ er sich von der freundlichen Verkäuferin zu einem Brötchen aus brandneuer Rezeptur überreden, aber Erna und er mochten die traditionellen lieber.
Zusätzlich zu den zwei Brötchen hatte er immer noch einen süßen Nachtisch mitgebracht, den sie sich teilten. Im Sommer war das meistens ein Stück Erdbeerkuchen gewesen, denn Erna hatte Erdbeeren über alles geliebt – nur nicht über Siegfried selbst, so sagten sie jedes Mal, sobald jemand Ernas Erdbeer-Vernarrtheit zur Sprache brachte.
Wenn gerade kein Sommer war und es auch keinen Erdbeerkuchen gab, hatte er es geliebt, sie mit anderen süßen Köstlichkeiten zu überraschen und anders als bei den Brötchen durfte es bei den Kuchen und Teilchen sehr gerne auch mal etwas Ausgefallenes sein.
Kurzum: diese samstagmorgendliche Tradition stellte fünfunddreißig Jahre lang für sie beide den Höhepunkt der Woche dar und nur selten musste ihr geliebtes Ritual ausfallen. Und ebendiese Tradition würde jetzt wegen dieser einen unliebsamen, permanenten Ungewöhnlichkeit nie wieder stattfinden können. Nie wieder, das war für Siegfried ein schwer verständlicher, im Grunde unakzeptabler Ausdruck, aber ein Stück für sich allein zu kaufen, kam für ihn wiederum auch nicht in Frage. Ohne Erna schmeckte der beste Erdbeerkuchen nach altem Pappkarton und überhaupt verstand er den Sinn eines ausgiebigen Frühstücks nicht, wenn er es mit niemandem teilen konnte.
Am ersten Samstag ohne gemeinsames Frühstück hatte er sich gewohnheitsgemäß um Viertel vor acht auf den Weg gemacht, obwohl er bereits nach dem Aufstehen keinen Appetit verspürte.
Am zweiten Samstag ohne gemeinsames Frühstück raffte er sich erst um neun auf, zum Bäcker zu spazieren und am dritten Samstag und am vierten und fünften war er gar nicht mehr hingegangen. Stattdessen hatte sich eine Stulle geschmiert, an der er dann lustlos herumknabberte. Der Geschmack war fad gewesen und die Scheiben trotz Butter staubtrocken. Keine Stulle der Welt konnte nur annähernd an die Stullen herankommen, die Erna mittags für ihn gemacht hatte und allein das Wort trieb ihn nun in den Wahnsinn.
„Stulle“; das klang nicht nur wie das langweiligste Essen auf der Welt, es hörte sich auf einmal auch noch so unglaublich unappetitlich an, dass er das Gesicht verziehen musste und die angebissenen Scheiben lieblos auf den Teller fallen ließ. Nein, auch das wollte er nicht mehr essen. Keine Brötchen, keinen Kuchen, keine Teilchen und erst recht keine Stullen!
Am sechsten Samstag stand Siegfried um zehn Uhr auf und ignorierte die Küche vollkommen, sondern setzte sich gleich in seinen Sessel im Fernsehzimmer und starrte gewohnheitsgemäß auf den Bildschirm, ohne dass er ihn vorher angeschaltet hätte, aber das merkte er gar nicht so recht. Auch das Läuten an der Tür, etwa anderthalb Stunden nachdem er sich niedergelassen hatte, bekam er nicht mit; und so läutete es einmal, dann zweimal und dann gleich fünfmal, ehe der Besucher es aufgab und wieder Stille in der Wohnung einkehrte.
Am Nachmittag des sechsten Samstags ohne Erna erhob Siegfried Moosbach sich aus seinem Fernsehsessel und ging zur Wohnungstür, öffnete sie und trat nach draußen in das kühle Treppenhaus. Vielleicht hatte ihn ein Anflug von Pflichtbewusstsein hinausgetrieben, damit er mal wieder seinen Briefkasten leerte oder ihn zu einem Mittagsspaziergang aufforderte. Beiden Dingen kam er nicht nach, stattdessen zog ein kleines Päckchen an der Türschwelle seine Aufmerksamkeit auf sich, auf dem ein zusammengefaltetes Blatt Papier lag. Gleich daneben entdeckte er eine beige Thermoskanne mit Blümchenmuster. Ein Duft von Erdbeerkuchen und Kaffee hing in der Luft. Der alte Mann bückte sich nach dem Paket und hob es behutsam auf.
Es ist ein wunderschöner Tag und die Sonne scheint auch (oder ganz besonders) für Sie! Nehmen Sie den Kuchen, packen Sie die Thermoskanne ein und gehen Sie an die frische Luft; suchen Sie sich ein Fleckchen, an dem Sie sich wohlfühlen und nehmen Sie so viel wie möglich wahr: schmecken Sie, hören Sie, riechen Sie! Erleben Sie Ihr Leben, fühlen Sie, dass Ihr Herz schlägt und erfreuen Sie sich daran! Ihre Freundin und besorgte Bäckerin
Denken Sie an all die schönen Tage, die Sie mit Erna verbracht haben und halten Sie sie sich gut in Erinnerung – aber vergessen Sie nicht, dass die Zukunft ebenfalls ein paar ganz wundervolle Dinge für Sie bereithalten kann!
Ich hoffe, am nächsten Samstag haben Sie mir wieder einiges zu erzählen – Ich würde mich freuen!