Zu Besuch
Hannes war auf dem Weg zu seinen Eltern. Er wohnte leider etwas weiter weg und musste jedesmal gut und gerne zwei Stunden Autofahrt hinter sich bringen, wenn er die Beiden besuchen wollte. Doch das nahm er jeweils gerne auf sich. Er mochte die Besuche bei seinen Eltern sehr. Es brachte stets viele Erinnerungen hoch und oft kamen ihm dabei Dinge in den Sinn, die er längst vergessen zu haben glaubte.
Er drehte das Radio auf. Passenderweise lief ein Song von den Rolling Stones. Seine Eltern liebten die Musik der Stones. Sie waren in ihren jungen Jahren öfters zusammen an Konzerte gegangen und hatten sich ja schliesslich auch an einem kennengelernt. Das war im Sommer 1967, soweit sich Hannes erinnern konnte. Ein Jahr später hatten die Beiden dann geheiratet. Das war damals durchaus ziemlich unüblich, dass nach so kurzer Zeit geheiratet wurde. Sein Vater sagte dazu immer schnippisch, dass man halt „zuschlagen muss, solange das Essen noch heiss ist“. Immer wenn er das sagte, musste seine Mutter herzhaft lachen und verdrehte die Augen.
Hannes war inzwischen selber verheiratet und hatte zwei kleine Kinder, Finn und Kevin. Und es war tatsächlich so, wie man immer sagt. Man erkennt erst, was die eigenen Eltern für einen getan haben, wenn man selber zum Elternteil wird. Zuvor realisiert man nicht mal annähernd, was für eine bedingungslose Liebe und Hingabe dahintersteckt.
Sie liebten seine zwei Jungs abgöttisch und hatten sie jeweils zu Weihnachten und Geburtstagen mit mehr Geschenken eingedeckt, als wirklich gut war. Aber das war schon okay so. Dieses Recht durften sich Grosseltern wohl einfach rausnehmen. Als Hannes heute aus dem Haus ging und sich verabschiedete, wollten Finn und Kevin auch mitkommen. Aber er musste ablehnen, heute wollte er seine Eltern mal wieder ganz alleine besuchen und über alte Zeiten sprechen. Und nicht nur darüber, was die Kinder die letzten Wochen so alles erlebt hatten.
Er nahm nun die nächste Ausfahrt und fuhr nach einem kurzen Landstrassenabschnitt in das Dorf, in dem er aufgewachsen war. Seine Eltern waren immer hier geblieben und hatten auch nie das Bedürfnis, irgendwo sonst hinzugehen. Warum auch, es gefiel ihnen hier und es gab keinen Grund zur Veränderung.
Hannes fuhr weiter und kam an seiner alten Schule vorbei. Es kamen immer dieselben Erinnerungen hoch, wenn er hier vorbeifuhr und hinter den Bäumen das Schulhaus auftauchen sah. Einerseits, dass er auf dem Pausenplatz ständig von Peter und seinen Kumpels verprügelt wurde und andererseits, dass er hier mit Marie seinen ersten Kuss erleben durfte. Da hinten an diesem alten grossen Baum, der da immer noch stand.
Seltsamerweise hatte er mit Peter noch immer regen Kontakt, mit Marie aber nicht mehr. Er hatte sie schon ziemlich bald nach dem Ende der Schulzeit aus den Augen verloren und nie mehr wieder etwas von ihr gehört. Wie es ihr wohl erging? Mit Peter ging er ab und an ein Bier trinken und quatschte vornehmlich über Fussball. Die Prügeleien von früher sprach keiner jemals an.
Hannes näherte sich seinem Zielort, bog links ab und parkierte sein Auto. Er öffnete die Wagentüre und stieg aus. Nachdem er seinen Wagen mit einem Druck auf die Funkfernbedienung abgeschlossen hatte, lief er zwischen grossen Bäumen hindurch einen kurzen Kiesweg entlang, bis er zu einem gusseisernen schwarzen Tor kam. Er öffnete es und trat auf den gepflasterten Weg. Einige hundert Meter weiter blieb er stehen, ging langsam in die Knie und berührte sanft die beiden Grabsteine.
„Hallo Mama. Hallo Papa.“