Zu Besuch im Wildpark
Es dämmerte bereits an jenem Freitagabend im Februar, als Kommissar Knut Hansen auf der Bundesstraße Richtung Schweinfurt fuhr. Der Himmel war klar und es herrschte bereits seit Tagen eine schneidende Kälte. Er freute sich immer besonders auf die Besuche bei seinem alten Freund und ehemaligen Kollegen Klaas Petersen.
Als Knut vor zwei Jahren mit seiner Frau vom hohen Norden nach Oberfranken zog, entschloss sich Klaas dazu ihnen zu folgen. Seitdem bewohnt der alleinstehende, bereits pensionierte Kriminalbeamte eine kleine Wohnung inmitten eines Wildparks. Umringt von freilaufenden Rehen, Ziegen, Schafen, anderen Wildtieren und jeder Menge Natur, nennt er es gerne seine 'Oase der Ruhe'. Der Park ist weit über die Grenzen des Landkreises hinaus bekannt für seine Tiere, aber auch für das ausgezeichnete Wildbret aus eigener Schlachterei.
Kaum hatte Knut den altmodischen, runden Klingeltaster betätigt, meldete sich bereits der Türöffner mit lautem Brummen. Als er die schwere Eingangstür öffnete, schallte ihm ein freudiges "Hallo Knut! Na, endlich Feierabend? Das Weißbier ist schon eingeschenkt", entgegen.
Nach einer herzlichen Begrüßung machten sie es sich auf der großen, U-förmigen Ledercouch gemütlich und redeten über die aktuellen Fälle des Kommissars. Schon während ihrer gemeinsamen Zeit bei der Kripo Westerland hatte Klaas immer einen guten Rat auf Lager.
Knut Hansen blickte durch die große Fensterfront hinaus in den Wildpark. Auch wenn in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war, so löste allein die Vorstellung dieser Naturidylle wahre Glücksgefühle bei ihm aus.
Knut hatte sich gerade erhoben, um mit dem Weißbierglas in der Hand zum Fenster zu gehen, als er plötzlich wie angewurzelt stehenblieb. "Hast du das gehört". "Du musst dich endlich daran gewöhnen, dass in einem Wildpark auch Jäger unterwegs sind. Das ist nichts ungewöhnliches", antwortete Klaas belustigt. "Ja, Ja. Das weiß ich selbst. Aber hast du diesen gellenden Schrei direkt nach dem Schuss nicht gehört. Er verneinte, hob sein Glas und sagte: "Entspann dich, du hast Feierabend."
Der Kommissar ließ nicht locker: "Das Ganze lässt mir keine Ruhe. Jetzt ist doch Schonzeit?". "Du bist ja gut informiert, aber Frischlinge und Überläufer dürfen ganzjährig gejagt werden. Ich habe eine Idee: Lass uns einen Spaziergang durch den Park machen. Eher gibst du ja doch keine Ruhe"
Sie durchquerten das Gehege des Sika-Wilds und bogen auf den Weg ab, der zum Wolfsgehege führte. Hier in der Nähe musste der Schuss gefallen sein. Kurz bevor sie die letzte Biegung erreichten, hörten Sie einen Motor laut aufheulen. Kurz darauf rauschte ein Kleinwagen an Ihnen vorbei.
"Das war aber kein Auto eines Jägers", stellte Knut Hansen sofort fest. "Kennst du das Auto?". Klaas musste nicht lange überlegen, bis er antwortete: "Klar! Das war das Auto der Haushälterin des Grafen, dem das Alles hier gehört. Ihr Mann ist der Metzger der hauseigenen Wildschlachterei". "hier stimmt doch etwas nicht! Lass uns der Dame mal einen Besuch abstatten", sagte der Kommissar.
"Na gut, meinetwegen", bemerkte Klaas und ging geradewegs los in Richtung Parkausgang. Die Häuser der Bediensteten, mit daran angrenzender Metzgerei, lagen gegenüber des Wildparks, getrennt durch eine Bundesstraße. Selbst zu so später Stunde war die Straße stark frequentiert. Klaas nutze die kurze Wartezeit, um seinem Freund nochmals ins Gewissen zu reden: "Ich glaube du verrennst dich hier in etwas. Es gibt bestimmt eine ganz einfach Erklärung dafür". "Lass uns die Frau einfach kurz befragen, dann sehen wir weiter", antwortete Knut leicht genervt während sie die Straße überquerten.
"hier steht das Auto, es muss also jemand zuhause sein", kommentierte Kommissar Hansen das mit dem Kofferraum in Richtung Metzgerei geparkte Fahrzeug. In den gefliesten Schlachträumen und im Wohnhaus brannte Licht. Anstatt einer Klingel gab es am Wohnhaus nur einen altmodischen Türklopfer. Die beiden wollten gerade enttäuscht von dannen ziehen, als die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde und ein paar wache Augen daraus hervorfunkelten. "Wir kaufen nichts", schallte es aus dem Türspalt. Der Kommissar trat einen Schritt nach vorne. "Knut Hansen, guten Abend. Ich bin Polizist und hätte ein paar Fragen". Die schwere Holztür wurde kurz geschlossen, um die Sicherungskette zu lösen und anschließend langsam geöffnet. Nun stand eine gutaussehende Frau, wohl in den Vierzigern, in einer altmodisch aussehenden Hausschürze vor ihnen. Zwischen Ihren Beinen schaute ein kleiner Hund hervor und kläffte den Kommissar zähnefletschend an. "Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte die Haushälterin freundlich und der Hund verstummte nach einem kurzen "Psssst!".
"Wir haben vorhin einen Schuss und einen Schrei im Wildpark gehört und wollten anschließend nach dem Rechten sehen. In der Nähe des Wolfsgeheges kamen Sie uns mit ihrem Wagen entgegen. Können Sie uns etwas dazu sagen? Was haben Sie dort gemacht?".
"Einen Schuss oder Schrei habe ich nicht gehört. Aber was ich im Wildpark gemacht habe kann ich ihnen erklären", sagte die Frau mit einem unverbindlichen Gesichtsausdruck. "Unser kleiner Ausreißer hier", sie zeigte mit dem Finger nach unten zwischen ihre Beine. "Hat sich mal wieder selbstständig gemacht. Ich musste Ihn wie so oft am Wolfsgehege abholen". Knut nickte, er hatte keinerlei Anlass an dieser Aussage zu zweifeln. Er hatte wirklich schon viele Menschen lügen sehen, aber die Haushälterin zeigte keinerlei Anzeichen davon und wirkte auch sonst völlig entspannt. "Ein Frage noch", sagt der Kommissar schließlich. "Können wir vielleicht kurz mit ihrem Mann sprechen? Vielleicht hat er etwas gehört.". "Das wird schwer, der besucht seine Verwandtschaft in Kroatien, hier ist ja durch die Schonzeit momentan nicht allzu viel zu tun." Auch dies Aussage klang absolut glaubhaft, das musste sich selbst der Kommissar insgeheim eingestehen. Klaas beeilte sich, das Gespräch zu beenden: "Danke für Ihre Zeit. Einen schönen Abend noch".
"Ich glaube du hast recht, Klaas. Ich muss mir das eingebildet haben, es war einfach zu viel Arbeit in letzter Zeit." "Das glaube ich auch. Lass uns zurück gehen und noch ein paar ruhige Stunden verbringen, dein Weißbier ist mittlerweile auch schon warm."
Die Beiden gingen zurück in die mollig warme Wohnung von Klaas und machten dort weiter, wo sie vorher aufgehört hatten. Nach drei Weißbier war der, vermeintlich eingebildete, Vorfall bereits vergessen und Sie redeten bis tief in die Nacht über Sinn und Unsinn des Lebens.
Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte der Kommissar auf der Couch, auf der er schon öfters genächtigt hatte. Mit vorsichtigen Schritten, um seinen Freund nicht durch die knarzenden Holzdielen zu wecken, machte er sich auf den Weg nach draußen. Als er zu seinem Auto lief, dachte er noch einmal über den gestrigen Abend nach. Er war wohl wirklich überarbeitet und sollte etwas kürzer treten. Mit diesen Gedanken im Kopf bog er vom Parkplatz auf die Bundesstraße ein, um sich auf den Weg nach Hause zu machen.
Als er an den Häusern der Bediensteten vorbeikam erblickte er die Haushälterin und reduzierte seine Geschwindigkeit. Sie stellte gerade ein Schild an der Hauptstraße auf. Darauf war zu lesen: Wildbret - heute frisch