Zu Besuch auf der Erde
Xan spürte, wie ein eigenartiges Kribbeln in ihm aufstieg, als er durch das Sichtfenster des Raumschiffs die Erde immer näher kommen sah. Von dem blauen Planeten mit seinen Kontinenten, die unter Wolkenschleiern hervorblitzten (und nicht einmal ihr schmutziges Grau konnte die majestätische Ausstrahlung mindern), schien ein geheimnisvoller Schimmer auszugehen, der ihn magisch anzog. Dieser Anblick, obwohl neu für Xan, weckte in ihm uralte Erinnerungen. Das Erbe der Erdlinge?
So musste es wohl sein. Denn Xan war ein auf dem Mars geborener Nachkomme von Raumfahrern, die sich vor Jahrhunderten auf dem roten Planeten niedergelassen und Siedlungen gegründet hatten. Nach einem Brauch der „Marsmenschen“ war das Geschenk zu seinem 18. Geburtstag der Besuch auf dem Planeten, von dem er stammte. Zum ersten Mal kam Xan auf die Erde. Dabei empfand er diese Art von Aufregung, wie wenn man Angst hat, aber sich gleichzeitig freut.
Er fragte sich, wie es würde, die Welt seiner Vorfahren zu betreten. Aus den Erzählungen seiner Freunde, die diese Reise schon hinter sich hatten, wusste er, dass sich das Leben auf der Erde sehr stark von dem behüteten Dasein auf dem Mars unterschied. Wilder sollte es vor allem sein, wenn man den Erlebnisberichten der volljährigen „Marsmenschen“ glaubte; und rauer, nicht so gemessen. Die Denkweise der Erdlinge war angeblich eine ganz andere. „Jeder für sich“ war die Devise, also das Gegenteil der friedvollen Zusammenarbeit und Solidarität, die unter den Marsmenschen herrschte.
Das erschreckte Xan in der Tat ein wenig, also beschloss er, lieber nicht alles für bare Münze zu nehmen. Vor allem die älteren Jugendlichen neigten ja dazu, ihre Reiseberichte auszuschmücken. Lieber hielt er die Erde, wie es die meisten anderen Heranwachsenden vom Mars taten, erst einmal für eine Art verlorenes Paradies und hoffte inständig, dass ihn die Realität nicht eines Besseren belehren würde.
Die Stimme des Reiseleiters riss den jungen Mann aus den Grübeleien, als er über die Lautsprecher verkündete: „An alle Mitglieder der Gruppe Alpha 2, bereitet euch bitte auf die Landung vor, die in einer halben Stunde stattfindet.“
Die jungen Touristen, die den blauen Planeten besuchten, wussten, was das hieß. Sich in den Vorbereitungsraum begeben, die Ausrüstung mitnehmen und die Vorträge des Reiseleiters bezüglich Sicherheits- und Verhaltensregeln auf der Erde über sich ergehen zu lassen.
Neu war für Xan allerdings, was sie alles an Ausrüstung mitnehmen mussten. Er hatte vermutet, sie würde nicht mehr als eine Kamera (wahrscheinlich das wichtigste Artefakt für einen Touristen!), Sonnencreme und ein Mini-Navigationssystem brauchen.
Die Atmosphäre der Erde war ja so zusammengesetzt, dass man dort – in der Heimat! – theoretisch ohne technische Hilfsmittel überleben konnte. Umso erstaunter und enttäuschter war Xan, als ihm gesagt wurde, er solle wieder seinen Raumanzug anziehen. Zwar war er an das Ding gewohnt, hatte er es doch sein ganzes Leben lang auf dem Mars getragen, wenn er sich nicht gerade unter der Wohnkuppel aufhielt, doch er hatte erwartet, es wenigstens „zu Hause“ einmal abnehmen zu können.
Er hatte sich ausgemalt, wie es sein würde, echte, nicht aufbereitete und gefilterte Luft zu atmen; den Wind und die Sonne – der die Erde so viel näher war – auf seiner Haut zu spüren. Jetzt stellte sich heraus, dass ihm dieses simple Vergnügen vorenthalten wurde. Die Realität auf der Erde unterschied sich wirklich von dem, was Träumer des roten Planeten erzählten. Die Luft hier enthielt, den Worten des Reiseleiters nach, mehr Abgase denn Sauerstoff, und da die Ozonschicht fast schon ein einziges Loch war, konnte man ohne einen Strahlen reflektierenden Schutzanzug oder eine zentimeterdicke Schicht Sunblocker keine zehn Minuten durchhalten – außer, falls man als Grillhähnchen enden wollte.
Bis jetzt war wirklich nicht viel von dem „Paradies“ zu spüren, das die Erde einmal gewesen sein sollte. Hoffentlich war es das einzige Problem, dachte Xan, als er sich zusammen mit den restlichen Mitgliedern der Gruppe Alpha 2 vor der Ausstiegsluke versammelte.
***
Xans erster Eindruck von der Erde war: Enge. Menschen, so viele Menschen, wie er sie noch nie auf einmal gesehen hatte, drängelten, schubsten, bahnten sich einen Weg durch ihr hartes Leben. Es schien, als wäre eine Milliarde Einwohner auf der Fläche von einem Quadratkilometer zusammengepfercht.
Diese Enge war etwas ganz Neues für Xan: so ganz anders als sein dünn besiedelter Herkunftsplanet, auf dem jeder genug Platz fand, um auch mal für sich zu sein.
Er hatte es für etwas Wunderbares gehalten, so dicht mit anderen Menschen zusammenzuleben. Doch zu frequentiert drang hier Gekeife wie „Passen Sie auf, wohin Sie gehen!“, „Sie sind nicht alleine auf dem Planeten!“, „Platz da!“ und „Haben Sie diesen Fleck etwa gekauft?!“ an Xans Ohren; und er war nicht naiv genug, als dass er glaubte, die Leute würden sich so wohl fühlen. Er konnte es sich nicht vorstellen, die ganze Zeit auf diese Weise zu leben. Die Menschen, die theoretisch zu der gleichen Spezies gehörten wie seine Landsleute, ähnelten mehr einer gewaltigen Herde terrorisierter Tiere, die auf der Flucht waren vor ihrer eigenen Welt.
Scheinbar sahen sie in Xan ein Hindernis auf ihrer Flucht – ständig wurde er angerempelt und hatte keine Chance, um stehen zu bleiben, weil er von der Menge sofort weiter geschoben wurde. Alle beeilten sich irgendwohin, alle hatten etwas zu tun, was ihnen offensichtlich keine Freude bereitete. An einem Ort, wo mehr Hektik in der Luft lag als Sauerstoff, war eben kein Platz für einen Marsmenschen, der die Landschaft bewunderte.
Den Himmel konnte man an diesem Ort kaum mehr sehen, weil Wolkenkratzer mit bis zu zweitausend Stockwerken bis in die düsteren Wolken hinaufragten und die Sicht versperrten. Das Wort „himmelblau“ musste den Erdlingen nur noch aus Lexika und alten Filmen bekannt sein, weil es überall auf dem Planeten von dem schmutzigen Grau der Smogwolken ersetzt wurde.
Verloren kam sich Xan in dieser chaotischen Welt vor. Fehl am Platz, ein unwillkommener Gast auf einem Planeten, wo jeder Schritt zu einem Kampf wurde. Und eingesperrt; ihm kam es vor, als würden ihn die wuchtigen Gebäude und die Menschenmassen gleich erdrücken. Welch ein Unterschied zu der sanften Hügellandschaft des Mars, deren idyllischer Anblick nur durch ein paar Wohnkuppeln und Versorgungsanlagen gestört wurde!
Blieb nur zu hoffen, dass sein erster Eindruck“ täuschte. Vielleicht irrte er sich, vielleicht schaute er in die falsche Richtung und konnte deswegen dem Leben hier keine angenehmen Seiten abgewinnen. Schließlich war er ja erst seit einer halben Stunde auf der Erde! Seine Beobachtung dauerte zu kurz, als dass er irgendetwas schlussfolgern konnte. Die Menschen, die hier ihr ganzes Leben verbrachten, waren das alles im Gegensatz zu ihm gewohnt, höchstwahrscheinlich war ihr gehetztes Verhalten nur eine Illusion.
Darum beschloss Xan, erst einmal weiterzugehen und sich alles genauer anzusehen. Er konnte nur dann eins mit dieser so fremden und doch so vertrauten Welt werden, wenn er sie durch die Augen ihrer Bewohner zu sehen versuchte. Erst dann wurde er einer von ihnen, wenn er sich in der Menschenmenge auflöste, zu einem Teil von ihr wurde, anstatt sich wie ein Fremdkörper abzugrenzen.
Xan blieb vor einer mit bunten Leuchtreklamen verzierten Imbissbude stehen, vor der sich, wie überall, unzählige Menschen drängelten. Nur zufällig gelang es ihm, einen Blick auf die Preise der hermetisch verpackten Snacks zu werfen. Bevor der junge Marsianer auf die Erde flog, wurde er auch im Umgang mit der hiesigen Währung unterwiesen. Er fragte sich trotzdem, aus welchem kostbaren Material ein Hotdog – der nicht einmal besonders frisch oder appetitlich aussah – gefertigt sein musste, damit sein Wert 350 $ betrug.
Das ließ sich nur damit erklären, welcher Lebensmittelmangel auf der Erde herrschte. Es gab keine Tiere oder Fische mehr, die man für ihr Fleisch erlegen konnte; und der Platz war zu knapp, um Nutztiere zu halten oder gar Felder zu bestellen. Ersatzprodukte, die annähernd wie die Originale schmeckten, waren teuer und kompliziert herzustellen, zudem verpestete ihre Produktion die gebeutelte Umwelt noch mehr. Nein, es machte keinen Sinn. Allmählich musste die gesamte Erdbevölkerung auf künstliche Ernährung mit Nährstoffpillen umsteigen; und die noch übrig gebliebenen normalen Lebensmittel wurden durch Geldscheine aufgewogen, von denen es deutlich mehr gab.
Die Kunden prügelten sich beinahe um die übrig gebliebenen beiden Hotdogs; ihr Erwerb wurde langsam zu einer Versteigerung. Schließlich trug ein besonders gut betuchter Käufer die Delikatesse in einem Plastikbehälter nach Hause – für das Doppelte des ursprünglichen Preises.
So etwas hatte der junge Mann nie gesehen. Auf dem Mars wurde unter speziellen Treibhauskuppeln genügend aufgebaut, um die wenige Bevölkerung zu ernähren; hier auf der Erde schien es nicht genug für alle zu geben. In Xans Augen ähnelten die Erdlinge noch mehr einer Meute hungriger, wilder Tiere… nein! Er schämte sich fast schon selbst für seine herablassende Meinung. So etwas von Angehörigen derselben Rasse zu denken, war normalerweise nicht seine Art.
Xan blickte auf, um eine riesige holografische Werbefläche an der Wand eines Wolkenkratzers zu betrachten. Ein etwas makabrer Spot flimmerte über dem gewaltigen Monitor. Vor dem Hintergrund eines gigantischen Friedhofs wurden die Worte eingeblendet: „Gepflegt sterben mit der Firma Nex: Für nur 55.000 $ können Sie sich bei uns einen Platz auf dem Friedhof reservieren, damit Sie nach dem Tod nicht einfach eingeäschert oder zu einem Hygieneprodukt verarbeitet werden.“
Die Annonce wurde nun ausgewechselt, und zwar durch das Bild einer Kundin, die so aussah, als könnte sie es sich leisten, ihren modisch geschnittenen Schutzanzug mit einer Schicht Blattgold überziehen zu lassen.
„Diese Dame hat sich gerade ihr würdiges Begräbnis gesichert“, wurde das Ganze durch die penetrante Stimme eines Werbeagenten kommentiert, der sich dann an die Lady wendete. „Wie fühlen Sie sich als frisch gebackene Besitzerin einer Parzelle auf einem Friedhof des Bestattungsinstituts Nex?“
„Ich fühle mich… gesichert, so als hätte ich gerade für ein Leben nach dem Tod gesorgt. Wissen Sie, so weiß ich, dass man mich nicht zu einem Stück Seife verarbeitet oder so“, erwiderte die würdig Begrabene in spe. Obwohl sie dazu die zufriedenste Grimasse aufgesetzt hatte, wirkte ihr Text selbst auf Xan etwas einstudiert. Vor allem dann, als die Dame melodramatisch ausrief: „In der modernen Welt ist ja kaum Platz für Tote!“
Kaum hatte sich der junge Marsianer von seinem Schock angesichts dieses Platzmangels erholt, der auf der Erde groteske Ausmaße anzunehmen schien, da spürte er eine fremde Hand an seine Schulter tippen.
Ein zwielichtig wirkender Mann in einem schmuddeligen Schutzanzug grinste ihn verschwörerisch an und fragte: „Interessierst dich wohl für ’ne Parzelle auf ’m Gottesacker, was? Bist doch viel zu jung für, Bürschchen. Aber wie du willst… ich kann dir ein gutes Angebot machen, ein schönes Plätzchen, nicht so spießig wie das, was da grad gezeigt wird…“ Er zwinkerte Xan verschwörerisch zu und öffnete einen kleinen, ebenso schmuddeligen Koffer, der mit Medikamenten aller Art gefüllt war. „Und wenn du möglichst schnell da hinkommen willst, hab ich auch die passenden… Hilfsmittel für dich. Für 250 Dollar, kurz und schmerzlos…“
„Nein danke, ich will vorerst weiterleben“, unterbrach ihn Xan erschrocken und setzte seinen Weg etwas schneller fort.
Der junge Mann beeilte sich, den morbiden Händler abzuschütteln und ging in einem Laufschritt, bis eine gewaltige Glaskuppel in Sicht kam. Vor Xan baute sich die überdachte Parkanlage auf – der einzige Ort in der Großstadt, wo noch die gleichen Bedingungen herrschten wie vor Jahrhunderten; mit frischer Luft, Pflanzen und sogar kleinen Tieren, vor denen es hier angeblich wimmelte. Auf dem Mars gab es viele solcher künstlich angelegter Grünflächen, trotzdem oder gerade deswegen überraschte es Xan, auf einem Planeten mit passenden Lebensbedingungen auf die gleichen Kuppeln zu treffen.
Er zog seinen tragbaren Minicomputer zu Rate, dessen Datenbank als elektronischer Fremdenführer fungierte, und erfuhr noch etwas unglaublich Glaubwürdiges über seine „Heimat“. Die Ökologie auf der Erde war so schlecht, dass in der verschmutzten Umwelt weder Pflanzen noch Tiere ohne speziellen Schutz überleben konnten. Einzig und allein unter den Kuppeln war die Luft noch sauber genug, damit Leben auf natürliche Weise gedeihen konnte.
Es war ein befremdlicher Anblick: Inmitten der grauen Betonriesen wirkte der gläserne Hügel mit dem darin eingeschlossenen Grün wie ein Überbleibsel aus einer fremden Welt. Ein langer Korridor zog sich von dem Park bis zum Eingang. Dorthin begab sich Xan und warf einen Blick auf die Digitalanzeige über dem Gerät, welches elektronische Eintrittskarten verkaufte. Zu 80% waren die Erholungskapazitäten des Parks ausgelastet, also hatte er noch eine Chance, hineinzukommen.
In den überdachten Anlagen war nämlich nur eine begrenzte Besucherzahl erlaubt, damit wenigstens hier nicht das gleiche Gedrängel herrschte wie überall sonst auf dem Planeten. Durch eine komplizierte Formel wurde vom Eingangscomputer die zulässige Zahl Menschen pro Quadratmeter ausgerechnet. Falls sie schon erreicht oder gar überschritten wurde, mussten die neuen Besucher warten, bis die anderen den Park verließen.
Nach dem Bezahlen des Eintritts stellte Xan ernüchtert fest, dass seine gesamten Ersparnisse bereits zu einem Drittel verbraucht waren. Er seufzte. Das Leben auf der Erde war nicht nur hektisch, sondern auch teuer, damit musste auch er sich abfinden – hatten es seine Vorfahren doch auch getan. Wenn schon zu ihrer Zeit der blaue Planet ein so unwirtlicher Ort voller Ausbeutung war, ließ sich ihre Umsiedlung auf den Mars, die manche als feige Flucht ansahen, leicht verstehen.
Das Zischen der Eingangsluke, die sich nun für Xan öffnete, riss ihn aus den Gedanken. Schnell trat er ein, damit die Tür hinter ihm wieder hermetisch verschlossen werden konnte. Der Korridor, der zum Park führte, ähnelte nämlich sehr der Luftschleuse in einem Raumschiff, von der das Prinzip auch abgeguckt war. Durch solch strenge Sicherheitsmaßnahmen wurde verhindert, dass etwas von der verschmutzen Stadtluft nach innen gelang. In der Isolation würde die Flora und Fauna sofort an den darin enthaltenen Giftstoffen und Krankheitserregern sterben.
Da er gleich endlich reine Luft atmen durfte, konnte Xan nun endlich seinen Schutzanzug abnehmen und an der Garderobe hinterlassen. In Jeans und T-Shirt ging er weiter. Nachdem er durch einen gelblichen Nebel aus desinfizierenden Dämpfen getreten war, öffnete sich die letzte Tür und er befand sich innerhalb des Parks.
Xan atmete den natürlichen Geruch der mit Blütenstaub geschwängerten Luft ein, die so ganz anders roch als die aufbereitete und gefilterte Atemluft, mit der ihn sein Schutzanzug versorgt hatte. So roch die Freiheit – doch kaum fand er dieses Wort passend, während er sich unter einer Glaskuppel befand. Von seiner Position konnte der junge Marsianer schon zur gewölbten Grenze der Grünfläche blicken. Obwohl diese Anlage von außen riesig wirkte, war der Platz drinnen doch begrenzt und betrug bestimmt kaum mehr als ein Ar – eine größere Fläche wollten die Stadtväter den Umweltschützern nicht überlassen.
Menschen wandelten einzeln oder in Pärchen die mit Kies gestreuten Wege entlang, die sich gerade zwischen geometrisch geformten Grasflächen zogen. Büsche und Bäume, säuberlich in Kugel- oder Würfelform zurechtgestutzt, waren die Wege entlang gepflanzt, ebenso wie kunstvolle Beete, deren Blumen in komplizierten Mustern angeordnet waren. Dazwischen standen Bänke, auf denen Erdlinge saßen und sich bemühten, den Alltagsstress wenigstens für einige Augenblicke abzuschütteln. Das allgegenwärtige Dröhnen und Rauschen der Metropole war ausgetauscht durch angenehm klingende Töne, die Xan als Vogelzwitschern identifizierte.
Obwohl der junge Marsianer diese Umgebung nicht anders kannte, sagte ihm doch eine innere Stimme, dass es unmöglich die gleiche Natur wie vor Jahrhunderten sein konnte. Zu ordentlich war alles, auch hier merkte man die Hand des Menschen, die alles zu kontrollieren suchte. Trotzdem tat diese Umgebung nach den einengenden Wolkenkratzern mehr als gut.
Er drang tiefer in die Parkanlage vor, erkundete dieses kleine Stück andere Welt, welches gleichzeitig so vertraut und doch künstlich wirkte – ein wachsender, duftender und zwitschernder Beweis dafür, dass es die Menschen nicht lassen konnten, ihre Kontrolle über Flora und Fauna unter Beweis zu stellen.
Obwohl Xan in Gedanken versunken war, entging seinen Augen nicht, wie ein von rotbraunem Fell bedecktes, kleines Etwas zwischen Bäumen und Blumenbeeten vorbeihuschte. Er blieb stehen und sah genauer hin. Das Tierchen hielt kurz inne, wie um dem Marsmenschen die Gelegenheit zu geben, es zu erkennen. Ein Eichhörnchen! Es grenzte an ein Wunder, dass es die Erdlinge nicht geschafft haben, all diese niedlichen Wesen bis auf das letzte Tier auszurotten. Und doch… irgendetwas kam Xan an diesem Eichhörnchen seltsam vor, als gehörte dieser Nager gar nicht hierher. Oder umgekehrt – als würde das Eichhörnchen verdächtig gut in die gestutzte, geordnete, erzwungen lebendige Umgebung passen.
Doch das war wahrscheinlich Einbildung, genau wie viele andere von Xans Wahrnehmungen seit seiner Ankunft auf der Erde. Neugierig trat er näher, um den flinken, geschäftigen Bewegungen des Eichhörnchens zu folgen. Als dieses Anstalten machte, auf einen Kugelbaum zu klettern, passierte etwas Seltsames: Das Tierchen begann, wie in Agonie zu zucken! Panisch und hilflos sah Xan zu, wie es sich, von unnatürlich wirkenden Krämpfen geschüttelt, inmitten des Rasens wand. Von irgendwoher meinte Xan, ein vertrautes Knistern zu hören: Ein derartiges Geräusch verursachten Maschinen bei einem Kurzschluss.
Und da sah er es: Das schöne, rotbraune Fell des Eichhörnchens platzte stellenweise auf; es sprühte Funken, Drähte und Metallteile kamen zum Vorschein. Nun ging dem Marsmenschen ein Licht auf. Dieses Wesen war nichts als ein Roboter! Ein elektronisches Haustier, wie sie auch manche Kinder auf dem Mars hatten. Ein täuschend echt gemachtes Fake!
Nur eine Kleinigkeit, doch fühlte sich Xan so enttäuscht wie selten in seinen achtzehn Lebensjahren. Auf einmal kam ihm die gesamte Parkanlage wie eine riesengroße Lüge vor. Die schillernden Blütenköpfe schienen ihn in ihren Beeten auszulachen, ebenso wie die verlogen perfekt gewachsenen Bäume. Dass er aber auch glauben konnte, irgendwo auf dieser barbarischen Welt könnte noch ein Hauch Natur übrig bleiben!
Von einem neuen Verdacht ergriffen, tat Xan etwas Verbotenes: Er ging über den Rasen (selbst die Struktur desselben kam ihm jetzt künstlich vor) bis zu einem dieser geometrischen Gewächse, griff nach dem Laub eines Baums. Nur kurz musste er ein Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger fühlen, um zu begreifen: Auch diese waren nicht echt. Grünes Plastik! Zwar hochwertig, aber doch tot, unecht; das gleiche Material, aus dem die Essensbehälter gemacht wurden. Eine greifbare Beleidigung der Natur.
Nach noch einem letzten Beweis suchend, legte der Marsmensch den Kopf in den Nacken, um die Kuppel selbst zu betrachten. In regelmäßigen Abständen waren Minikameras angebracht, die die Umgebung überwachten. Doch was waren das für Geräte, die sich hinter den Kameras zu verstecken schienen? Bei genauerem Hinsehen erkannte Xan, was er schon erwartet hatte: Es waren Lautsprecher. Er hatte auch die Quelle des entzückenden Vogelzwitscherns gefunden.
„Was tun Sie da?“, riss eine weibliche Stimme Xan aus seinen Gedanken. Er sah eine junge Frau in grüner Uniform auf sich zugehen. Offensichtlich gehörte sie zum Wartungspersonal dieses künstlichen Paradieses. Die Strenge in ihrem – eigentlich recht hübschen – Gesicht passte zu der Art, wie ihr hellbraunes Haar zurückgebunden und hochgesteckt war. „Sind Sie etwa nicht über die Verhaltensregeln innerhalb der Parkanlage informiert?“
„Nein… ich meine… ja, doch, aber…“, stammelte Xan, den das autoritäre Verhalten der Dame einschüchterte. Bekam er jetzt eine Strafe oder so etwas in der Art?
Die Angestellte musterte ihn von Kopf bis Fuß; ihre türkisblauen Mandelaugen schienen den Marsmenschen zu scannen. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie ein Tourist sind?“
Xan nickte. „Vom Mars.“
„Nun, das ist keine Entschuldigung. Sie sollten wissen, dass man hier weder die Rasenflächen betreten noch irgendetwas außerhalb der dafür vorgesehenen Gegenstände berühren darf, das schadet der Flora und…“
Beim Rest ihres Vortrags musste Xan Gelächter und Tränen zugleich unterdrücken. Herrgott, meinte diese Frau tatsächlich, die Illusion noch wahren zu können?
Solche Flora gibt es auch in jedem Souvenirladen, dachte er verbittert, traute sich aber nicht, es laut auszusprechen.
„Hören Sie, Ms.“ – er schielte auf ihr Namensschildchen – „Samantha Walter, ich wollte keinen Schaden anrichten. Sie sollten lieber schnell die Überreste ihres Eichhörnchen-Roboters wegräumen.“
„Was?!“ Da bemerkte sie auch das kaputte Spielzeug, das unter dem Kugelbaum lag. „Haven Sie das angerichtet?“
Xan schüttelte den Kopf. Die Technik hier musste äußerst sensibel sein, wenn sie schon vom Ansehen den Geist aufgab. Oder sie war ganz einfach nicht marsmenschen-tauglich.
Auf einmal spürte er Samanthas Griff am Arm. „Kommen Sie mit.“ Sie führte ihn in eine abgelegene Ecke des Parks, wo die beiden Sicherheitsabstand von allen Ruhesuchenden hatten. Nur eine einsame Kamera summte über ihren Köpfen.
„Was Sie hier gesehen haben, dürfen Sie niemandem weitererzählen!“, platzte sie heraus, wobei Xan sich Mühe gab, nicht die Augen zu verdrehen. Es war allgemein bekannt, dass Erdlinge Marsianer für üble Plaudertaschen hielten, die alles beschwatzten, was sie sahen oder auch nur dachten.
„Warum denn nicht?“, erkundigte er sich in einem möglichst gleichgültigen Tonfall. Doch diese Frage schien Samantha Walter aus dem Konzept zu bringen. Die professionelle Überlegenheit war auf einen Schlag von ihr abgefallen – sie musste ja nicht auf seine Frage antworten und rang dennoch nach einer Erklärung. Mochte sie Xan, oder war sie einfach nur nervös?
„Denken Sie doch einmal selbst nach! Wie würden die Menschen reagieren, welche Haltung würden sie den Konzernen gegenüber einnehmen, wenn sie erfahren, dass es gar nichts mehr gibt?“
„Nichts?“
„Keine Tiere, keine Pflanzen – Sie haben es ja selbst gesehen.“
Las er in Samanthas Miene etwa eine Art Schuldgefühl?