Zoraya ob Throljan - Das Kind der Götter
Das Kind Zoraya ob Throljan konnte nicht ahnen, wozu es in der Stunde seiner Geburt bestimmt war. Selbst die Zeugung des Mädchens ließ die tratschenden Münder nicht still stehen, denn wie man aus sicherer Quelle erfahren hatte, war die junge Mutter vorher niemals mit einem Mann zusammen gewesen. Doch nun war es da, das Mädchen. Ohne einem einzigen Schrei erblickte es die Welt an jenem Morgen, an dem Baja sich gerade am Fluss unten ein Bad gönnte, um für die bevorstehende Geburt gerüstet zu sein. Es hätte auch gar nicht schreien können, denn es glitt beinahe schmerzlos aus dem Mutterleib mitten in das kühle Nass des Flusses, das Baja gerade in diesem Augenblick bis über ihren dicken Leib stand. So war also auch seine Ankunft in Throljan ein Anstoß für all die tratschenden Weiber und Taugenichtse, über nichts anderes mehr zu reden als über das Kind Zoraya ob Throljan.
Doch die junge Mutter, Baja war die einzige in der ganzen kleinen Ortschaft Throljan, die begriff, welch großes Geschenk sie von den Göttern empfangen hatte, seit jenem Abend, als sie ihr erschienen waren, um ihr die Ankunft dieses Kindes zu verkünden. Und es war nicht nur allein ihr Geschenk, sondern ein Geschenk für das Volk des ganzen großen Königreichs Auranien, das zu jenem Zeitpunkt unter der tyrannischen Herrschaft eines mächtigen Königs, des Magiers Lihr, zu leiden hatte.
Und wie auf jedem Flecken der Erde, war es auch in Auranien so, dass die Gerüchte um ein Kind der Götter Dank der Redseligkeit der Menschen bald bis zum Königshaus vordrangen. Es war jedoch nicht erwünscht, dass ein Kind der Götter im Königreich Auranien zuhause war, denn der König selbst hatte Angst um seinen Thron. So sandte König Lihr Boten aus, das Kind zu finden und es zu töten. Doch sollten viele Jahre vergehen, bevor auch das Dörfchen Throljan unter Verdacht geriet und so hatte Zoraya eine glückliche Kindheit zu verzeichnen, bis eines Tages in Throljan die Soldaten des Königs erschienen und ihren Auftrag ausführten.
Die Soldaten glitten von den Pferden, stürmten in die Hütten, schliffen die Kinder, die sie erwischten, heraus und setzten ihnen ihre Messer an die Kehlen. Frauen wimmerten und weinten. Männer ballten die Fäuste. Eine Handbewegung des Großfürsten löste das Massaker aus. Blut spritzte. Kinderkörper sanken in sich zusammen, lagen zuckend mit dem Tod ringend auf dem Boden. Schreiend stürzten die Frauen auf ihre sterbenden Kinder zu, während die Soldaten von Haus zu Haus liefen, plünderten, was zu plündern war und mit voll beladenen Wagen wieder in die Richtung davon ritten, aus der sie gekommen waren.
Hand in Hand schlichen Tod und Elend wie eine Seuche am selben Tag durch das ganze kleine Dorf Throljan und hinterließen überall ihre blutigen Spuren.
Doch wieder hatte der König nicht das Kind der Götter gefunden, denn die kleine Zoraya hatte man längst an einen sicheren Ort gebracht, von dem nur Eingeweihte wussten, dass es ihn gibt. Das Khona-Walddorf lag gut versteckt, umringt von meterhohen, uralten Bäumen inmitten des Kreillwaldes. Dort hatte Baja ihr kleines Mädchen schweren Herzens zurückgelassen, aber sie wusste, nur dort würde sie in Sicherheit sein.
Niemand im Khona-Walddorf ahnte, wer dieses Mädchen war, noch wozu es fähig war, außer Zoraya selbst. Mit den Jahren, in denen sie heranreifte, wuchs eine Kraft in ihr, die ihr die Gabe verlieh, sich in den Geist anderer einzuschleichen und von ihm Besitz zu nehmen. Diese Kraft wurde mit jeder Woche, jedem Tag beinahe, stärker und das machte ihr Angst. Immer öfter suchte Zoraya deshalb die Einsamkeit. Sie fand ein stilles Plätzchen an der Lichtung des Kreillwaldes, zu dem es sie immer häufiger zog. Dort saß sie dann viele Stunden, dachte über sich und ihre Gabe nach und kam zu dem Schluss, dass sie ihre Gabe hasste. Niemand, den sie kannte, hatte so eine Gabe, fühlte so wie sie und musste sich deswegen verstecken.
„Hallo?“, riss sie Torans zögernde Stimme aus ihren Gedanken.
„Hallo.“ Zoraya war erstaunt, dass er sie gefunden hatte, noch erstaunter aber war sie darüber, dass er sie überhaupt gesucht hatte. Obwohl ihr sein offensichtliches Interesse an ihr nicht verborgen geblieben war und das Wissen darüber ließ nun ihre Wangen ein wenig erröten. Doch sie kam nicht dazu, sich wegen ihrer Gedanken zu schämen. Toran hielt ihr seine Hand entgegen und forderte sie auf mitzukommen.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, lächelte er sie an. „Ich möchte dir zeigen, wie man sich am besten mit seinen Gedanken auf den Weg macht.“ Und er führte sie an seiner Hand hinaus aus der Lichtung, auf freies Feld. So weit hatte sich Zoraya noch nie vor gewagt. Immer war sie im Schutz der Bäume geblieben, denn deswegen war sie hier, seit Jahren. Toran bot ihr an, sich auf eine Wurzel neben ihn zu setzen. Sie fragte sich, was er ihr wohl zeigen wollte, doch schon als sie saß und ihr Blick über die Lichtung streifte, brauchte sie keine Antwort mehr zu hören.
Gegenüber der großen, langgezogenen Wiese, auf der noch vereinzelt ein paar Bäume und Sträucher standen, sah sie in der Ferne die Felswand eines Berges, an der sich donnernd ein mächtiger Wasserfall herunter wälzte. An beiden Seiten der Felswand zog sich ein Regenbogen durch die feinen, staubenden Wassertröpfchen, die wieder aufstiegen, um sich scheinbar irgendwann, irgendwo in Luft aufzulösen.
„Willst du dort hin?“, fragte Toran. Der faszinierte Blick in Zorayas Augen fesselte ihn. Er konnte sich vorstellen, was sie in diesem Moment empfand. Auch er hatte diesen Anblick einmal zum ersten Mal genossen. Und es gelang ihm jedes Mal aufs Neue, diese Begeisterung zu spüren, die Macht und die Kraft, die davon ausgingen.
Noch bevor Zoraya antworten konnte, war er bereits aufgestanden und zog sie zu sich hoch.
„Schließ die Augen“, forderte er sie auf. Sie wollte ihn fragen warum, aber da hatte er schon seine Lider geschlossen. Seine Gesichtszüge waren völlig entspannt, ihre Hände lagen in seinen.
„Schließ die Augen“, sagte er noch einmal. Zoraya tat es.
„Jetzt stell dir den Wasserfall noch einmal vor. Versuche das zu empfinden, was du vorher empfunden hast.“ Zoraya versuchte es und - spürte es. Das Entzücken, die Freude, die Kraft und das Verlangen dorthin zu kommen, den Wasserfall zu berühren. Ruhe durchströmte ihren Körper, ihre Seele, ihren Geist.
„Willst du dort hin?“, fragte Toran noch einmal leise.
Und ohne lange zu überlegen, wie in Trance, antwortete sie. Sie hörte sich selbst nicht sprechen, doch ihr Verlangen wuchs und plötzlich war es so groß, so unbeschreiblich groß und mit einem Mal wusste sie ...es gab nur einen Weg dort hin! Ein leises Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Sie ging in die Knie, sprang in die Luft und ....breitete ihre Flügel aus!
Der Wind nahm sie auf seine Schwingen und trug sie hoch und höher hinaus.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie tief unter sich die Wiese, die Bäume und ganz in ihrer Nähe einen Falken, genau wie sie einer war – Toran. Es schien alles so zu gehören, nichts Außergewöhnliches, nichts Erschreckendes. Sie fragte sich, wovor sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Ein unbeschreibliches Gefühl, so hoch in den Lüften. Es war herrlich, erhebend. So wie es war, war es gut. Und es tat gut. Es war schön vom Wind getragen zu werden, keine Kälte zu empfinden, nur den Hauch, der über ihren Körper zog, sie einhüllte und beinahe schwerelos machte.
Der Wasserfall rückte immer näher und näher. Erst wenige Meter bevor Toran den Boden berührte, breitete er seine Schwingen aus und kreiste über einem Baumstamm, der dürr am Ufer des kleinen Sees lag. Erst als seine Füße das Holz berührten und er richtig Halt gefasst hatte, legte er die Flügel ganz eng an den Körper. Die Verwandlung ging so rasch vor sich, dass Zoraya keine Zeit blieb, das Schauspiel zu verfolgen, oder gar darüber nachzudenken.
Inzwischen umkreiste auch sie schon die selbe Stelle, versuchte, den Stamm anzuvisieren. Es war gar nicht so einfach wie es bei Toran ausgesehen hatte. Nur ein Stück noch, dann berührten ihre Zehen das knorrige Holz und als sie ihre Flügel anlegte, durchfuhr sie wieder dieses angenehme Kribbeln und ehe sie sich versah, saß sie in ihrer menschlichen Gestalt neben Toran.
Jetzt erst bemerkte sie, dass Toran sie die ganze Zeit über mit einem Lächeln beobachtete.
„Hättest dir nicht träumen lassen, dass das so einfach ist, oder?“, fragte er. Zoraya schüttelte nur den Kopf. Wieso hatte sie all die Jahre nichts davon gewusst? Sie hätte doch schon eher bemerken müssen, dass auch Toran, wie sie, eine Gabe besaß.,
„Wie kannst du es können?“ Sie war verwirrt. „Wieso weißt du, dass ich es kann?“
„Ich habe dich beobachtet, die ganzen Jahre über und wollte nun einfach wissen, ob ich mich in dir getäuscht habe oder nicht.“ Toran sagte das, als wäre es ganz selbstverständlich, eine solche Gabe zu besitzen. „Jeder Mensch hat eine Gabe für irgend etwas. Jeder kann irgend etwas besonders gut. Du musst dich nur damit abfinden und es wollen, es annehmen, hörst du? Es ist nichts Schlimmes, nichts, wofür du dich verstecken und schämen musst. Seit wann weißt du von deiner Gabe?“ Toran war neugierig. Er wollte alles über sie wissen. Alles über die Frau, die ihn so fesselte. Zum ersten Mal erkannte er, was es hieß, sich zu jemandem wirklich hingezogen zu fühlen. „Schon als Kind habe ich verschiedene Dinge eher gewusst, als andere. Schon bevor etwas passiert war, habe ich gewusst, dass es passieren wird. Aber es hat mir Angst gemacht, weil niemand sonst es gewusst hat.“
„Nun kennst du jemanden, der so ist wie du“, sagte Toran, wieder, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe. Zoraya blickte zu Toran und sah nur mehr den Falken, der anhob, um in Richtung Waldlichtung davon zu fliegen.
Zoraya hatte von dem Tag einen Gleichgesinnten in Toran gefunden und sie hatte die Liebe gefunden. Was es aber hieß zu lieben, sollte sie erst später erfahren.
Nun kam der Tag in dem Königreich Auranien, an dem sich das Volk zu einem großen Aufstand vorbereitete, um sich von der Gewaltherrschaft des mächtigen Lihr zu befreien. Der König war schon alt und hatte sein ganzes Leben lang das Kind der Götter gesucht, aber nie gefunden. Doch eines Tages begegneten sich Zoraya und Lihr in einem Traum. Von da an wusste Lihr, wen es zu besiegen galt und Zoraya wusste, warum ihr die Götter ihre Gabe geschenkt hatten, denn Lihr war das Böse selbst. Und es war Lihr, der aus Angst vor der göttliche Macht, die in Zoraya schlummerte, seine Boten aussandte, um dem Volk den bevorstehenden Kampf zu verkünden. Jeden, der dem Mädchen Zoraya Unterschlupf gewährte, und sie auf diese Weise vor dem König verbarg, sollte ein grauenhafter Tod erwarten. Doch das Volk Auraniens wusste, wer auch immer sich gegen den tyrannischen König stellte, sei es auch nur ein einfaches Mädchen, musste mit der Gnade der Götter gesegnet sein. Und so beteten die Menschen heimlich in ihren Kathedralen, Tempeln und Kirchen um die Gunst der Götter und um ihren Beistand. Immer heftiger wurde an den Vorbereitungen zum Aufstand gegen den König gearbeitet und immer fleißiger für das Mädchen Zoraya gebetet. Es dauerte nicht mehr lange, bis sich im ganzen Königreich herumgesprochen hatte, wer das Mädchen Zoraya nun tatsächlich war: Das Kind der Götter!
Und als eines Tages die Truppen des Königs die Burg verließen, um gegen das Mädchen Zoraya in den Kampf zu ziehen, konnte man, an welchem Ort man sich auch immer befand, bewaffnete Männer ihre Dörfer verlassen sehen, mit der Liebe zu ihren Göttern im Herzen und dem Glauben an das Mädchen Zoraya in ihrem Geiste.
So kam es, dass sich die Truppen des Königs und die Heere des Volkes auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden und den einzigen Kampf fochten, den es galt im Namen der Götter zu führen. Abertausende fanden den Tod.
Ein eigenartiges Geräusch ließ Lihr hochfahren. Ein Falke landete flatternd vor ihm auf dem Fußboden. Und dann ein zweiter. So wie sie den Boden unter ihren Füßen berührten, ging ein seltsames Strahlen von ihnen aus und nur einen Augenblick später standen zwei Menschen vor ihm. Eine Frau und ein Mann. Es dauerte nur den Bruchteil eine Augenblicks. Doch lange genug für Lihr, um in ihr das Bild aus seinem Traum zu erkennen. Er war so überrascht, dass er panikartig die Flucht ergriff. Hinter ihm hallten die Schritte seiner Verfolger wider.
Lihr schickte eine Welle seiner Macht auf sie zu, die Zoraya zu spät erkannte. Doch Toran reagierte sofort. Und noch ehe er abheben konnte, um sich schützend vor ihren Körper zu werfen, erkannte Zoraya, was er vor hatte. Sie sah, wie er vom Boden hochsprang und sich im selben Augenblick in die Gestalt eines Falken verwandelte.
„Nein!“, schrie Zoraya, doch es war zu spät. Toran segelte bereits vor ihren Körper, und Zoraya erkannte nur noch das glänzende goldbraune Federkleid eines Falken, der die Welle der Macht, die eigentlich ihr gegolten hätte, für sie abfing. Schreiend riss es ihn zu Boden, wo er liegen blieb.
Nur eine Sekunde verging. Eine Sekunde, in der so viel geschah. Eine Sekunde, in der Zoraya die plötzliche Stille, die draußen herrschte vernahm, in der ihre Wut wuchs, anschwoll und in all ihrer Macht überschäumte. Eine Sekunde, in der sie noch hoffte, dass der Falke, der sterbend nach Luft rang, gar nicht Toran war. Doch es war die selbe Sekunde, in der sie einsehen musste, dass Toran tot war. Er hatte sein Leben für sie gegeben, weil er wusste, dass dieser Angriff auch für sie den Tod bedeutet hätte.
Doch es wurde ihr auch klar, dass sie es war, die alles zu einem Ende führen musste und so zog sie ihren Dolch. Es war ihr, als würden Stimmen zu ihr sprechen, die in sanften, zarten Tönen vom Tod des Magiers erzählten. Nichts wünschte sie sehnlicher, als dass dieser Mann sterben sollte. Und er würde es. Doch nicht durch ihre Hand. Sie war keine Mörderin. Aber sie wusste, dass das Ende Lihrs bevorstand und dass es die Götter waren, die es durch sie zu Ende bringen würden. Es kostete Zoraya große Anstrengung, nicht auf die Stimmen, die sie einlullten und mit ihrer Sanftheit drängend umwoben, zu achten. „Jetzt! Jetzt! Tu es! Er hat es verdient! Er ist ein Mörder! Er ist das Böse selbst! Große Gefahr birgt er in sich! Tu es! Tu es jetzt!“, hallte es in ihrem Kopf wider. Ihre unbändige Wut, entriss ihr einen explodierenden Schrei, der ihr half, die Macht nur noch stärker anschwellen zu lassen. Sie fühlte, wie die Kraft aus ihrem Körper wich und sich gegen Lihr konzentrierte. Der Dolch wurde schwer und schwerer in ihrer Hand, so dass sie mit der zweiten danach greifen musste. „Jetzt!“ Dann ließ sie den Griff ihres Dolches los. Geradewegs verfolgte er sein Ziel, hinterließ einen Sprühregen von Funken und drang tief und schmerzhaft in Lihrs Brust ein. Lihrs weit aufgerissene Augen drehten sich in ihre Höhlen und sein geöffneter Mund versuchte, einen Schmerzensschrei auszustoßen. In Unfähigkeit dessen verzerrte er sein Gesicht. Es sah beängstigend aus, wie langsam Lihrs Leben aus seinem Körper floss.
Zoraya hatte eines Tages beschlossen, wieder nach Throljan zurück zu gehen. Sie wagte es kaum mehr, an Toran zu denken. Zu sehr schmerzte der Gedanke an ihn und an seinen Tod und an den Moment, in dem er noch einmal die Gestalt eines Falken annahm, um sie vor dem tödlichen Treffer zu schützen. Das waren die einzigen Erinnerungen, die ihr immer wieder vor Augen kamen.
Es hatte sich vieles verändert, auch in Throljan. Zorayas Kampf mit Lihr und der Fall des Königshauses waren auch an diesem Ort nicht spurlos vorüber gegangen. Natürlich waren die Geschichten, die man sich darüber erzählte, weitaus abenteuerlicher und klangen übertrieben gefährlich, fand Zoraya, als sie ihr eines Tages zu Ohren gekommen waren. Doch sie hatte nicht die Kraft und auch nicht das Verlangen, sie richtig zu stellen.
Zoraya hatte sich von den Göttern abgewandt. Zu groß war ihre Wut, zu hilflos stand sie einem Glauben gegenüber, der ihr den Menschen nahm, den sie geliebt hatte. Wie konnte das gerecht sein? Warum verlangten die Götter ein derart großes Opfer von ihr, die man das Kind der Götter nannte? Nein, sie war kein Kind der Götter mehr. Sie hatte sich von ihrem Glauben losgesagt.
Die Sonne glänzte fröhlich auf der Wasseroberfläche und tanzte auf den kleinen Wellen. Das Wasser war dunkel und schien noch eisig kalt zu sein. Doch Zoraya schlüpfte aus ihren Kleidern und streckte die Zehen hinein. Eisig. Doch sie watete tiefer, hielt die Hände ins Wasser und befeuchtete ihre Arme und ihren Bauch. Dann legte sie sich vorsichtig auf die Oberfläche. Sie verspürte ein Kribbeln und merkte, wie sie sich langsam verwandelte. Das Wasser schien ihr nun nicht mehr kalt, sondern sehr angenehm auf der Haut zu prickeln.
War es immer schon so? Auch früher? Sie konnte sich nicht mehr entsinnen, aber irgendwie kam es ihr jetzt vor, als hätte sie sich auch schon früher in einen Fisch verwandelt, sobald sie ins Wasser hineinglitt und keine Luft mehr atmete.
Natürlich! Zoraya lächelte. Es war schon immer so. Es war ihr nur nie aufgefallen.
Sie tauchte tief zum Grund des Flusses, machte eine kurze Bewegung und schnellte durch das kalte Wasser. Ja, es war schon immer so. Toran hatte es ihr nur bewusst gemacht, er hatte ihr gezeigt, wie es geht, wenn man es bewusst will.
Toran! Sie hatte sich seit ihrem Kampf gegen Lihr nie mehr verwandelt. Aber jetzt, in der Gestalt eines Tieres war es ihr, als könnte sie Torans Stimme hören. Und als sie aus der Tiefe des Wassers auftauchte und ihren Blick in den Himmel hob, sah sie einen Falken hoch über sich in den Lüften kreisen.
[ 15.07.2002, 09:26: Beitrag editiert von: Barbara ]