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Zombot Medical Repair
Bea zog den Faden durch die trockene Haut und zurrte daran. Die Wunde war so gut wie verschlossen und danach warteten nur noch zwei weitere Patienten auf sie. Das Brennen in den Augen wurde nach ihrer endlos langen Schicht immer schlimmer. Sie blinzelte und brachte die Naht mit ein paar unsauberen Stichen zu Ende. Schön musste es nicht sein, nur halten.
Ihr Patient starrte dumpf an die Betonwand. Die Risse dort bildeten Figuren, die miteinander tanzten. Vielleicht sah er sie.
Bea strich die Handschuhe ab und fuhr sich mit den schwitzigen Fingern durch das Gesicht. Er würde nicht gehen, wenn sie es ihm nicht befahl. Zombots taten wenig von alleine. Irgendwann würde er wahrscheinlich aufstehen und herumwandern, ohne Ziel.
„Begib dich jetzt und ohne Umweg zu deinem Lager und warte auf weitere Anweisungen.“ Der Zombot erhob sich, öffnete die Tür und verließ das Behandlungszimmer. Lack rieselte vom spröden Holz der Tür und begleitete ihren Patienten ein Stück. An den Rahmen gelehnt schaute Bea in den heruntergekommenen Flur, den sie ihr Wartezimmer nannte. Die zwei Zombots standen dort und warteten auf ihre Befehle. Schwere Verletzungen konnte Bea nicht ausmachen, alle Gliedmaßen waren noch dran. Sie rief den nächsten Untoten in den Behandlungsraum. Es war ein Junge, um die zwölf Jahre alt. Älter würde er nie werden.
„Zeig mir deine Verletzung.“ Der Junge hob den Pullover an und ein zentimeterdickes Stahlrohr, das in seinem Bauch steckte, wurde sichtbar. Neben der Wirbelsäule, oberhalb eines kleinen Leberflecks, kam es wieder hervor. Wahrscheinlich arbeitete der Junge bei „Bucks & Klicks“ in der Stahlverarbeitung. Für Bea war das nichts anderes als Kinderarbeit. Für alle anderen war es das Beste draus machen. Sie hätte kotzen können.
Sie hockte sich vor den Jungen, schaute jetzt zu ihm auf. „Das sieht ganz schön übel aus, aber das kriegen wir wieder hin. Du bist ein tapferer Junge.“ In den blauen Augen regte sich nichts, kein Erkennen, kein Schmerz.
Mit einem Seufzen zog sich Bea ihre Arbeitshandschuhe an, die robusten mit Grip. Sie umklammerte die Stange mit beiden Händen und setzte einen Fuß gegen den Bauch des Jungen, um sich zu stabilisieren. Ein fester Ruck genügte und Bea stolperte rückwärts, als sich das Rohr löste und begleitet von bröckeligen Eingeweiden aus dem Bauch glitt. Der Junge schwankte kurz, fing sich und Bea konnte durch ihn hindurch die blassgrünen Vorhänge sehen. Grün beruhigt, Grün macht Hoffnung. Bea wünschte sich so sehr, er würde schreien.
Nachdem Bea den Jungen zusammengeflickt und fortgeschickt hatte, ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, nur für einen Moment keine aufgerissenen Körper, keine klaffenden Wunden, keine toten Augen sehen.
Gestern erst hatte sie gedacht, es wäre der Moment gekommen. Der, an dem sie nicht mehr weiter machen konnte. Lili hatte vor ihrem Behandlungsraum gestanden, die Gedärme hingen aus dem Bauch, der schöne rote Pullover mit den weißen Punkten war dreckverschmiert. Damals an der Ostsee hatte sie nichts anderes tragen wollen. Aber natürlich war es nicht Lili gewesen. Ihre Schwester war mittlerweile zehn Jahre älter und saß sicher in Beas Wohnung. Trotzdem hatte dieser Moment ausgereicht und die ersten Risse waren in ihre sorgfältig aufgebaute Barrikade gekrochen.
Mit einem Seufzer richtete sie sich auf und betrachtete ein Foto in einem zu großen Bilderrahmen. Sie nahm es in die Hand, hauchte auf das Glas und wischte es mit ihrem Ärmel sauber. Zwei Mädchen lachten sie an, braungebrannt und ahnungslos. Irgendwann würden sie wieder so sein. Nicht mehr ahnungslos, aber wieder glücklich.
Bea raffte sich auf, den noch wartenden Zombot zu versorgen. Je schneller sie hier fertig war, desto schneller konnte sie heim zu Lili. Sie öffnete die Flurtür. „Oh nein.“ Ihr Patient saß auf dem Boden und hatte die Beine von sich gestreckt, der Kopf ruhte auf der Brust. Zombots schliefen und aßen nicht, sie wurden nicht müde und hatten keine Schmerzen. Aber manchmal starb einer von ihnen einfach so, ohne Vorwarnung. Nicht mehr untot, sondern tot. Man wusste nicht, warum. Als wären die Zombotbatterien leer.
Die Behandlung konnte sie sich sparen, entsorgen musste sie ihn trotzdem. Bea atmete tief durch, packte den Zombot unter den Achseln und zerrte ihn zu dem Abfallschacht am anderen Ende des Flurs. Der Kopf schlackerte von links nach rechts, von rechts nach links. An dem Schweiß auf Beas Oberlippe blieben lose Strähnen kleben, das Jucken wurde unerträglich. Sie hievte den Körper in die Öffnung und das Poltern der Gliedmaßen in dem Metallschacht hallte durch den Hausflur. Endlich Feierabend, ihr inneres Bollwerk hatte einen weiteren Tag gehalten.
Das Fahrrad ließ Dreck und kleine Steine hochfliegen, das Klappern des losen Schutzblechs begleitete Bea auf ihrem Weg durch das Industriegebiet. Die Gegend war wie ausgestorben, neben Zombots hielten sich hier nur wenige Menschen auf. Wer wollte hier schon wohnen?
Beas Blick schweifte über die riesigen Fabrikhallen, graue Wände, graue Fenster, graue Straßen. Für Zombots musste man es nicht schön machen. Ein Schriftzug erregte ihre Aufmerksamkeit. Einst rot und knallig, wirkte die abblätternde, rostrote Farbe jetzt wie eine schlecht verheilte Wunde. Bucks & Klicks.
Bea blieb stehen. Sie ließ ihr Fahrrad in den Dreck fallen und ging auf den Metallzaun zu, der das gesamte Gelände umschloss. Ihre Augen suchten den Boden ab, sie griff nach einem Stein und warf ihn mit all der Wut, die sie in sich hatte. Auf die Industrie, die kranke Menschen als Roboter ansah, weil es so profitabel war. Auf die Menschen, die wegschauten, weil sie sonst erkennen müssten, was für Arschlöcher sie waren. Auf sich selbst, weil sie sich so machtlos fühlte. Ein Schrei löste sich aus ihrem Innersten und flog mit dem Stein über den leeren Platz.
Bea keuchte, als hätte sie selbst die Arbeit in der Fabrikhalle verrichtet, und kämpfte gegen die Tränen. Lange nachdem sich der Staub gelegt hatte und ihr Frust verhallt war, nahm Bea ihr Rad und fuhr weiter.
Kurz hinter dem Industriegebiet begann das Wohnviertel mit einem gewissen Sicherheitsabstand. Auch wenn die Zombots harmlos waren und nun jeder durch eine Impfung geschützt war, zu nah wollte man sie dann doch nicht bei sich haben. Die Angst der ersten ungewissen Monate, nachdem die Krankheit ausgebrochen war, steckte noch allen in den Knochen. Das und zu viele Folgen „The Walking Dead“.
Vor ihrer Wohnungstür kramte Bea in der Handtasche nach dem Schlüssel. Der Geruch von frischem Hefezopf stieg ihr in die Nase und kitzelte Erinnerungen hervor. An Nachmittage bei Oma auf der Veranda, der Sommerwind durchwühlte die Haare und das Gebäck war noch warm. Lili puhlte die Rosine heraus und schob sie zu ihrer Schwester. „Ich möchte diese schrumpeligen Käferleichen nicht essen.“
Auf Rosinen hatte Bea heute verzichtet. Mit dem Öffnen der Tür wurde der behagliche Duft von einem Schwall muffiger Luft vertrieben.
„Ich bin wieder da!“ Sie eilte durch die Wohnung und riss die Balkontür auf. Lilli saß in dem Ohrensessel am Fenster, von dort hat sie Wohnzimmer und Straße im Blick. Sie hatte ihren Lieblingsplatz seit Tagen nicht aufgegeben.
„Hallo, Schwesterherz.“ Bea strich ihr über den Kopf und ließ die losen Haare aus der Hand auf den Boden fallen. „Ich habe Hefezopf mitgebracht.“
Lili zeigte keine Reaktion, aber die brauchte Bea auch nicht. Sie wusste, es war richtig gewesen, ihre Schwester aus dem Lager nach Hause zu holen. Da war etwas in ihr. Das Funkeln in den grünen Augen, das war da und es war wie früher.
Freunde kamen nicht mehr vorbei. Wer trank schon gerne sein Bier neben einer Untoten? Aber Schwestern gaben einander nicht auf. Dieses besondere Band half Bea etwas zu spüren, was sonst keiner wahrnahm. Sie erkannte die Fortschritte, die Lilli machte. Bea würde der Welt zeigen, dass Zombots mehr sein konnten als Arbeitsmaschinen.
Sie wischte die Maden von der breiten Lehne des Sessels, um sich neben ihre Schwester setzen zu können. Lili wich zur Seite und ließ sich über die Lehne hängen.
„Bequem sieht das aber nicht aus.“ Bea runzelte die Stirn. „Ich hole uns erstmal den Hefezopf und etwas Butter. Vielleicht isst du ja heute etwas.“
Auf dem Weg in die Küche wurde Bea von einem Klopfen an der Wohnungstür aufgehalten. Sie öffnete und sah durch den von der Sicherheitskette begrenzten Spalt eine dunkelblaue Kampfausrüstung. Unter dem dazugehörigen Schutzhelm lugten braune Locken hervor und umrahmten ein markantes Gesicht mit toten Augen. Ein Begleitzombot der Kriminalpolizei.
„Frau Kruse? Bitte öffnen Sie die Tür“, erklang eine gelangweilte Stimme. „Wir müssen mit Ihnen reden. PZ138 tritt zur Seite.“
Der Zombot gab die Sicht auf einen Beamten frei, der in Jeans und mit fettigen Haaren an der Flurwand lehnte. Kurz ließ er eine goldene Marke aufblitzen. „Manuel Schäfer. Kriminalpolizei“, sagte er, begleitet vom Knatschen seines Kaugummis.
Bea schwang die Tür auf. „Was wollen Sie? Ich habe die private Aufenthaltsgenehmigung für meine Schwester bereits Ihren Kollegen gezeigt. Mehrmals.“
Manuel Schäfer riss den Arm vor die Nase und presste sich noch näher an die Wand. „Ach, du Scheiße.“ Mit der freien Hand holte er seine Waffe hervor und zielte damit auf Bea. „Ganz ruhig bleiben, meine Liebe. Wir gehen jetzt langsam in Ihre Wohnung und schauen uns etwas um.“ Die Stimme wurde durch den Stoff des Ärmels gedämpft, nicht aber der scharfe Unterton.
Wie vor den Kopf gestoßen taumelte Bea zurück und gab den Weg in die Wohnung frei. Der Polizist stürmte an ihr vorbei. Sein untoter Kampfhund folgte ihm – die Befehle, die durch das Mikro von Manuel Schäfers Mund direkt in die Ohren des Zombots gingen, zogen fester als jede Leine. Bea stolperte hinterher.
„Ich versteh wirklich nicht, was Sie von mir wollen!“
„Ihre Wohnung stinkt nach Tod! Und das nicht zu knapp! Sogar die Nachbarn haben’s gerochen. Ist das Ihre Schwester?“ Er ging auf Lili zu, die noch immer in ihrem Sessel lehnte.
„Wehe, Sie fassen meine Schwester an!“ Nach einem kurzem Blick auf Lili drehte sich Manuel Schäfer zu Bea um und sah aus, als würde er sein Kaugummi gleich auf den Boden spucken.
„Ich glaube kaum, dass das Ihre Schwester noch interessiert. Sie ist tot. Und das nicht erst seit ein paar Stunden.“
Bea spürte Hitze in sich aufsteigen und wich einen Schritt zurück. „Sind Sie etwa auch so ein verschissener Zombotnazi und denken, sie sei nichts mehr wert, nur weil ihr Herz nicht mehr schlägt? Zum Arbeiten ist sie noch gut genug, was?“
Manuel Schäfer starrte sie an, warf seinen Kopf in den Nacken und lachte kurz und laut. „Die Gute ist nicht untot, sie ist tatsächlich tot, Mäuschen. Ihre Schwester gammelt vor sich hin!“
Was redete der Mann da? Beas Puls raste, lähmte ihre Gedanken.
„Frau Kruse, wir werden Ihre Schwester jetzt mitnehmen.“ In sein Headset sagte er: „PZ138, nimm die Leiche der Frau und bringe sie in unser Einsatzfahrzeug.“ Der Zombot ging zu Lili und warf sie sich wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter.
„Nein!“ Bea warf sich auf den Zombot und ihr Kreischen verwandelte sich in ein Schluchzen, während sie auf die unnachgiebigen Muskeln einschlug.
„Wenn Sie sich nicht beruhigen, nehmen wir Sie gleich auch noch mit.“ Manuel Schäfer schmatzte und machte sich Notizen. Bea blieb zitternd stehen und starrte ihn voller Abscheu an, der salzige Geschmack von Tränen vermischte sich mit der Galle in ihrem Mund. Manuel Schäfer schaute kurz auf. „Na, geht’s wieder?“ Er schüttelte den Kopf und schrieb weiter.
Der Zombot hatte mit Lili die Wohnung bereits verlassen. Beas Gedanken rasten. Sie musste ihre Schwester vor diesem Wahnsinnigen retten. Zügig ging sie zu der Tür am Ende ihrer Wohnung, kurz zögerte sie, dann öffnete sie und schaute in den Raum. Mittlerweile elf Zombots gingen dort von Wand zu Wand zu Wand. Bea hatte kaum Zeit sich um sie zu kümmern, aber wenigstens hatte sie sie gerettet. Laut Protokoll waren diese Zombots zu stark beschädigt. Hände, die in Fetzen hingen, oder leere Augenhöhlen machten sie unbrauchbar für die Fabriken. Offiziell schon längst vernichtet. Jetzt konnten sie Bea helfen, sich für ihre Rettung revanchieren.
„Geht in mein Wohnzimmer und tötet den Polizisten, der dort steht. Hört nicht auf seine Befehle. Danach kommt ihr wieder hierher.“
Ihre kleine Armee setze sich schlurfend und humpelnd in Bewegung. Bea blieb dort stehen, hörte die Schreie von Manuel Schäfer. Er wehrte sich, mehrere Schüsse knallten. Unnütz gegen die Untoten. Dann wurde es leise und die Zombots kehrten, wie Schäflein besprenkelt mit Blut, zurück.
Bea verschloss die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer. Zwischen Blut und Körperteilen fand sie das Headset. Hoffentlich funktionierte es noch. Bea schrie hinein. „PZ138, dreh sofort um. Bring die Frau sofort zurück in die Wohnung. Hörst du? Bring die Frau sofort zurück!“.
Bea stand dort wie erstarrt, wartete. Blut tropfte von dem Headset auf den Boden. Dann hörte sie Schritte. Der Zombot kehrte zurück, mit Lili über der Schulter. Ihre arme Lili.
„Leg sie dort auf den Boden. Vorsichtig! Und jetzt verschwinde! Geh fort von hier.“
Lili lag auf dem Parkett, wie eine verdrehte Puppe. Ihre hellroten Haare flossen über den Boden, zogen sich wie Pinselstriche in das Dunkelrot. Bea robbte zu ihrer Schwester und legte sich neben sie. Den Kopf legte sie an Lilis Schulter, wie früher. „Wir kriegen das schon wieder hin, Schwesterherz.“