Zirkus
Es war wieder einmal Sonntag in der kleinen Stadt. Sicherlich wird man sich nun fragen, was so besonders daran ist, dass Sonntag ist und warum dies überhaupt erwähnt werden muss. Nun, es war kein Sonntag wie jeder andere in der veschlafenen Stadt. Etwas war nicht wie sonst und dieses Etwas könnte man spüren, wenn man vor die Haustür trat und die frische Luft unverbraucht durch die Nase einsog. Man spürte es nur ganz leicht, wenn man sich konzentrierte. Es war wie ein leichtes Zittern auf der Haut, das sich aus der Ferne durch die Luft zog, wie eine leise Melodie. Und man konnte es riechen, wenn man die Augen schloss und über nichts nachdachte. Geheimnisvoll, nicht vordergründig, sondern lockend, nicht rational, sondern emotional. Jeder konnte es spüren an diesem sommerlichen Sonntag. Heute waren die Christen der Kirche ferngeblieben, um dem Weltlichen zu frönen und sich zu dem freien Feld am Marktplatz zu begeben. Denn heute war Zirkus in der Stadt. Er zog die Menschen in seinen Bann und lenkte ihre Schritte den erhabenen Zirkuszelten und den Wagen zu, die sich zusammendrängten, ganz als wollten sie sich gegenseitig Schutz bieten. Der Zirkus war eine Welt für sich, gegen die graue sture Ernsthaftigkeit des Alltags. Selbst der Pfarrer konnte damit nicht wetteifern und musste seine Predigt vor leeren Reihen abhalten, während er die Nase in die Heilige Schrift steckte und nur aus den Augenwinkeln heraus die leere Kirche betrachtete. Er wunderte sich. Die Leute hatten allesamt ihre Sonntagskleider angezogen und ihr charmantestes Sonntagslächeln aufgesetzt, um das Zirkuszelt zu betreten. Dennoch sahen sie eher einem grauem Fremdkörper ähnlich, wie sie so im bunten Trubel und Treiben und Tanzen Platz nahmen und ihre Hüte vom Kopfe zogen, weil sie wussten, was sich gehört. Und was Anstand ist. Das hatten sie lange schon verinnerlicht und es sollte sich nicht ändern, ebensowenig wie die wöchentlichen Kirchgänge am Sonntagvormittag. Das dachten sie. Denn heute war kein gewöhnlicher Tag, er hatte nicht gewöhnlich angefangen und er sollte auch nicht gewöhnlich wieder aufhören, weil er kein Tag wie jeder andere war. Nichts sollte beim Alten bleiben. Doch das war ihnen nicht bewusst, als sie versammelt nebeneinander saßen und auf das harrten, was da kommen würde. Das Rund der Manege war angefüllt mit Sägespänen, hoch an der Decke hing ein Strick und wer ein Fallnetz suchte würde es nicht finden. Die Zeltwände waren bunt mit schwarzen, weißen und roten Streifen bemalt, wie in jedem anderen Zirkus auch. Gedämpft drang der Schall von Jahrmarksmusik hinein, ein leichter Sonnenstrahl, der aus dem kleinen Loch am höchsten Punkt des Zeltes drang, spiegelte sich in den glänzenden Augen der Besucher. Einige dachten an ihre Kindheit, viele dachten nichts. Ein Tag wie jeder andere. Die flackernden Scheinwerfer warfen die herrlichsten Farben an die Wände und wirbelten herum und tauchten das ganzen Zelt in ein Lichtermeer aus Farben und Formen, die das Auge kaum verfolgen konnte. Bis sie erloschen. Dann war alles dunkel in dem Zelt, obwohl es doch Tag war, fast als hätte jemand unbemerkt Scheinwerfer aufgebaut, aus denen schwarzes Licht drang. Aber war das möglich? Nein, natürlich nicht. Wir sind doch klar denkende Menschen, sind doch rational. Aber es ist trotzdem dunkel. Das Spiel begann. Ein Tag wie jeder andere? Dort. Was war das? Eine Gestalt? Nein. Doch! Ein Mensch? Er sah so aus wie ein Mensch in seinem schwarzen Totengräberfrack und sprach wie ein Mensch und bewegte sich wie ein Mensch. Also war er auch einer, oder? Er trug einen Seitenscheitel, war klein und hatte einen seltsamen Bart. Das konnte man erkennen. Die Stimme hallte murmelnd durch das Zelt, als wollte sie die Besucher beschwören oder hypnotisieren. Vielen kam der Gedanke, sich einfach die Ohren zuzuhalten, einigen nicht. Doch was sollten denn die Leute denken, wenn man so dasaß mit seinem Sonntagsanzug und mit seinem Sonntagsgesicht und sich die Ohren zuhielt? Doch das Gemurmel war ohnehin schon wieder verhallt, der Mann im Frack verschwunden. Nun jagten weiße Rosse durch die Arena immer im Kreise herum und die Leute kreischten vor Freude. Ihre Köpfe folgten ihnen wie als wären sie im Bann eines Magnetfeldes gefangen. Auf dem Rücken der Schimmel saß je ein Mädchen im weißen glänzenden Röckchen, die Äuglein weit geöffnet, wie die Münder, doch aus ihnen drang kein Schrei. Niemand sah, dass sie gefesselt waren und nicht abspringen konnten, als die Pferde immer schneller wurden und die Köpfe in immer kürzeren Intervallen kreisten. Einige bemerkten wohl, wie ihnen schwindlig wurde, viele bemerkten nichts. Doch schon waren die Pferde mitsamt den Mädchen verschwunden. Ein Clown war erschienen mit einem großen aufgemalten Mund und er stellte sich wirklich zu komisch an. Er warf silbern glitzernde Kugeln in die Luft und fing sie und warf sie wieder, nur höher und immer höher. Dann erschienen weitere Clowns, einer lustiger als der andere anzuschauen, und taten es ihm gleich. Jemand musste ihnen einen Wink gegeben haben, als sie plötzlich begannen wutentbrannt zu toben und sich gegenseitig mit den schweren Kugeln zu bewerfen. Die Zuschauer staunten und ein Raunen ging durch die Menge. Viele Clowns erzielten beachtliche Treffer, einige nicht. Einige Clowns überlebten, viele nicht. Und das Blut versickerte im Boden, der mit Sägespänen ausgefüllt war. Das Publikum tobte vor Freude und applaudierte und es gab niemanden, den es noch auf seinem Sitze hielt. Die Hände der Leute waren kaum noch zu bändigen. Sie schlugen immer schneller und immer stärker gegeneinander und ein tosender Beifall durchdrang das Zelt wie Donner. Kaum einem wird aufgefallen sein, dass das Zirkuszelt enger und kleiner geworden war, während man klatschte und sich köstlich amüsierte. Kinder brüllten und schrien neben ihren Eltern. Vor Angst. Denn sie wussten es bereits. Oben an dem Strick baumelte ein Seiltänzer ohne Anmut und wenn er es gekonnt hätte, so hätte er geschrien. Er war noch nie auf einem Hochseil gestanden und er hatte ohnehin Höhenangst. Sein Mund öffnete sich und schloss sich wieder, als er den Blick senkte und das versammelte Volk betrachtete und es ihn ansah voller Neugier. Er suchte nach einem Fangseil, doch er fand keines. Panik stiegt in ihm auf und er wankte. Blut raste durch seine Halsschlagader in den Kopf hinein und er befürchtete, sein Schädel würde zerbersten. Sein Gehirn befahl den Beinen stillzustehen, doch sie gehorchten nicht und wollten sich bewegen. Die Zuschauer starrten ihn an und lauerten auf das, was kommen würde, wie eine Katze, die eine Maus wittert und wartet und weiter wartet, bis sie zuschnappt. Der Mann dort oben tat zitternd einen Schritt und den nächsten, nur zaghafter. Er setzte ein Bein vor das andere, verharrte einen Moment und ging weiter. Blicke maßen die Entfernung. Noch fünf Meter, höchstens! Er könnte es schaffen, wenn er wollte, doch er durfte es nicht schaffen! Das war der sehnlichste Wunsch der Menschen. Der Mann schwitzte und Schweiß troff ihm in Sturzbächen die Stirn hinunter und ins Hemd hinein und er blieb stehen. Er schwankte schon beachtlich. Er schaute hinunter zu den Clowns, die tot am Manegenboden lagen und ihm blicklos entgegensahen mit ihren aufgemalten Lachen. Das hätte er besser nicht tun sollen. Denn so erfüllte sich der Wunsch der Besucher. Der Aufprall war gedämpft, da am Boden Sägespäne lagen, aber man konnte ihn in der atemlosen Stille deutlich hören. Der Applaus donnerte noch stärker und intensiver, noch begeisterter und euphorischer durch das Zirkuszelt und von irgendwo dröhnten Trompeten. Man konnte sie durch die dünnen Wände vernehmen. Doch es waren keine Trompeten. Es klang nur so. In Wirklichkeit waren es die Sirenen, die am Rathaus angebracht waren und vor Feindflugzeugen warnten. Die Bunker waren geöffnet, nur niemand kam, um darin Schutz zu suchen. Das Publikum klatschte immer noch, als im Zelt die deutsche Hymne gespielt wurde, um sich selbst zu feiern. Die Kirchenbänke waren leer. Und sie klatschten sogar noch als die Bomben fielen. Niemand dachte mehr daran, dass sie das Zirkuszelt nicht verlassen würden.
Wenige Kilometer entfernt lauschten Familien andächtig den Spätnachrichten und klatschten, als die Nachricht kam, dass der Krieg wohl bald vorüber sei. Und sie erhoben sich und klatschten, als die Reichshymne erklang.
Tobias Rösch