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Zirkus Zombie
(1) Alice
Ihr Name war Barbara. „Barb“ für ihre Freunde hier im Krankenhaus – falls es noch ihre Freunde waren, was Ben aber bezweifelte. Er hatte sie früher schon mehrmals in den Korridoren der Reha herumspazieren sehen, die linke Hand ständig an der bis auf Brusthöhe gefliesten Wand, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Barb war nur in ein Krankenhausnachthemd (Einheitsgröße) gekleidet, das früher einmal türkisgrün gewesen war, durch unzählige Reinigungen in der hauseigenen Wäscherei aber die Farbe einer mehrere Monate alten Chlorwasserleiche angenommen hatte. In seiner Zeit bei der Polizei hatte Ben einmal mit einer hysterischen Bankiersfrau zu tun gehabt, die ihren Ehemann nach einem längeren Auslandsaufenthalt tot im Swimmingpool gefunden hatte. Das Chlorwasser hatte den Leichnam fast schneeweiß gebleicht, und irgendein grausamer Mechanismus seines Gehirns erinnerte Ben regelmäßig daran, wenn er eines dieser Krankenhausnachthemden sah.
Er hatte sich immer schon gefragt, wie sie ihre Frisur so gut hinbekam – ein platinblonder, fransiger Pagenschnitt, von dem einzelne Strähnen wie zufällig weg zu stehen schienen – doch dass ihre Frisur auch jetzt noch intakt war, grenzte an ein Wunder: Barbara krabbelte auf Händen und Knien in einem See aus Blut, streckte die linke Hand ab und zu tastend nach vorne, nur um immer wieder ins Leere zu greifen.
„Hallo?“ Barbara zuckte zusammen, als Ben sie ansprach.
„Ben, bist du das?“ Ihr Stimmengedächtnis war wirklich bemerkenswert.
„Ja, ich bin’s.“
„Dieser verdammte Rollstuhl!“ Barbara lachte erleichtert auf. „Ist nicht zu hören, auf diesem Boden.“
„Warte, ich helf’ dir…“ Ben rollte auf Barbara zu und streckte seine Hand nach der ihren aus. Mit seiner Hilfe zog Barbara sich hoch. Ihre Hände hinterließen rostrote Flecken auf Ben und seinem Rollstuhl.
„Danke.“ Die immerzu riesengroßen Pupillen in ihren blaugrünen Augen starrten an ihm vorbei, aber ihr erleichtertes Lächeln verfehlte sein Ziel keinen Millimeter. „Wo bin ich hier überhaupt gelandet?“
„Nordgebäude, Hauptkorridor im dritten Stock.“
„Nein, ich meine hier. Was macht das ganze klebrige Zeug hier?“
„Sirup aus der Kantine“, log Ben. „Ist in dem ganzen Chaos irgendwie hier oben gelandet, und einer der Kanister ist geplatzt.“
Nur, dass der Kanister früher einmal auf den Namen „Dr. Solito“ gehört hatte, und dass aus seinem Brustkorb immer noch die Feuerwehraxt ragte, mit der Ben ihn vor zehn Minuten niedergestreckt hatte. Dr. Solito hatte erst vor wenigen Sekunden aufgehört zu zucken, und gerade, als Ben wieder zurückrollen und die Axt holen wollte, war Barbara aus einem Seitengang aufgetaucht und ausgerutscht.
„Was machst du eigentlich noch hier? Und warum bist Du noch normal?“, fragte Barbara.
„Der Strom ist weg. Ich konnte den Fahrstuhl nicht mehr benützen, und bin auf der Suche nach einer anderen Möglichkeit, hier raus zu kommen. Mit dem Rollstuhl ist das so eine Sache… Und Du?“
„Ich habe gerade jemanden umgebracht“, antwortete sie, als würde das alles erklären. „Ich glaube, es war meine Zimmernachbarin. Zumindest vorher.“
„Du hast sie nicht getötet – sie war schon tot“, entgegnete Ben und dachte an all die grässlichen Szenen, die er in den letzten Tagen gesehen hatte.
„Ich musste eine Viertelstunde mit ihrer eigenen Krücke auf sie eindreschen, bis sie sich nicht mehr bewegte. Sie hat versucht, mich zu beißen…“
Barbara kratzte sich unter dem linken Auge, was eine makabere Kriegsbemalung hinterließ. Mit den Blutflecken auf Nachthemd und Gesicht sah das Mädchen noch blasser aus als sonst – Alice im Wunderland der lebenden Leichen.
„Barbara?“
„Ja?“
„Zusammen könnten wir es schaffen.“ Ben hatte seine Stimme wieder gefunden. „Du hilfst mir die Treppe runter, ich sag’ dir den Weg an…“
Barbara musste nicht lange überlegen: „Einverstanden. Und nenn’ mich Barb.“ Sie lächelte.
Ben hatte die Axt aus Dr. Solitos Brustkorb gezogen, und in beide Hände genommen. Barb schob den Rollstuhl vor sich her durch den schwach beleuchteten Korridor. Nach ein paar Metern hinterließen ihre nackten Fußsohlen keine Spuren mehr, und die dunkelroten Striche, die der Rollstuhl in regelmäßigen Abständen auf den beigen Linoleumboden malte, wurden dünner…
(2) Evil Knievel
Der Korridor hatte alle zwanzig Meter seitliche Ausbuchtungen, für die das Licht der spärlichen Notbeleuchtung nicht ausreichte. In diesen Ausbuchtungen blickten mannshohe Fenster aus trübem Sicherheitsglas nach draußen – es war noch immer Nacht.
Eine der Scheiben war eingeschlagen, und durch das gezackte Loch sah Ben im Vorbeirollen in den quadratischen Innenhof. Keines der gegenüberliegenden Fenster war erleuchtet. Im Park, der fast den gesamten Hof einnahm, brannte ein umgestürzter Rettungswagen. Zu sehen war niemand.
„Wo sind wir hier?“, fragte Barb, „Ich fühle einen Luftzug.“ Ben bemerkte, dass sie zitterte. Ein Leben in ewiger Dunkelheit musste die Hölle sein. Er wagte nicht, daran zu denken, wie sie sich hier in diesem verfluchten Krankenhaus fühlen musste, das dem Wort „Hölle“ eine völlig neue Dimension verlieh.
„Wir sind noch immer im Korridor – eines der Fenster ist kaputt. Aber da vorne kommt die Tür zum Treppenhaus.“
Ben musste ihr erklären, wie sie die Treppe am besten runterkommen würden. Barb bremste das gefährlich schwankende Gefährt über die beiden Bremshebel an den Handgriffen. Sie hielt den Rollstuhl nach hinten gekippt, damit ihr die Griffe nicht durch Bens hohes Gewicht aus der Hand gerissen wurden.
Die Treppe war – wie alle Treppen, wenn man an den Rollstuhl gefesselt war – viel zu steil und viel zu lang. Nach oben verlor sich die Spirale der Stiegen in der Dunkelheit. Die leicht flackernden Neonröhren mit dem grünen „Exit“ – Symbol auf dem Kunststoffgehäuse leuchteten immer nur die Plattformen zwischen den einzelnen Stiegen vollständig aus, ansonsten war es Ben eindeutig zu dunkel. Und zu still. Außer dem Quietschen der Reifen und Barbs gepresstem Atem war nichts zu hören.
Plötzlich stoppte Barbara den Rollstuhl mitten auf der Treppe, und hielt den Atem an.
„Was ist los?“
„Still! Da kommt etwas hoch…“
Ben lauschte angestrengt in das Dunkel unter ihnen, aber er vernahm nicht das Geringste. Seine Ohren begannen zu rauschen, er glaubte, seinen eigenen Puls zu hören – ein dumpfes, unregelmäßiges Pochen, das seinen gesamten Schädel auszufüllen schien. Und dann war da auf einmal noch etwas: ein Geräusch, als ob jemand mit nackten Füßen durch Schlamm waten würde…
Ein lauter Knall, dessen Widerhall von den Wänden des engen Treppenhauses nach oben getragen wurde, und plötzlich war das Licht weg.
„Verdammt, ich seh’ nichts mehr!“ Es kostete ihn all seine Willenskraft, um nicht in Panik zu geraten.
Der Rollstuhl vibrierte, als Barbara anfing, am ganzen Leib zu zittern. „Es sind zwei“, flüsterte sie.
„Sag mir, wann sie vor mir stehen – ich hab’ eine Axt.“
Das ekelerregende Schlurfen kam mit quälender Langsamkeit näher, und dazwischen hörte er die gurgelnden Atemgeräusche von Wesen, die eigentlich nicht mehr atmen sollten. Barb kämpfte damit, den Rollstuhl ruhig zu halten, und Ben fühlte sich, als würde er nachts auf einer Schaukel über dem Grand Canyon hängen. Nur, dass etwas aus der Dunkelheit langsam auf ihn zukam.
Vor ihm! Die Schritte waren direkt vor ihm – aber Barb blieb still.
„Jetzt!“ schrie sie plötzlich, und Ben schlug mit aller Kraft ins Dunkel. Ein unmenschlicher Schmerzensschrei ertönte, als sich die Axt durch faules Fleisch und morsche Knochen fraß – das Wesen stürzte nach hinten. Ben versuchte, die Axt festzuhalten, aber sie wurde ihm aus der Hand gerissen. Ein wütendes Zischen ertönte aus der Schwärze, als der andere Tote das Gleichgewicht verlor, und nach unten fiel – und etwas, das wie das Zusammenschnappen von Haifischkiefern klang.
„Einen hast du erwischt, aber der andere bewegt sich noch…“, flüsterte Barb. Wie zur Bestätigung klapperten die Kiefer wieder.
„Ich hab’ die verdammte Axt verloren!“
„Was machen wir jetzt? Ich krieg’ dich nie wieder die Treppe hoch!“ Der Rollstuhl begann wieder zu zittern, als Barbaras Knie drohen, nachzugeben.
„Ich überfahr es. Auf drei stößt du mich die Treppe runter!“
„Das kannst du doch nicht ernst meinen…“
„Eins!“
„Aber…“
„…zwei!“
„Du meinst es tatsächlich ernst!?“
„…drei!“ – Barbara stieß den Rollstuhl so fest sie konnte nach vorne, und Ben versuchte zusätzlich, mit den Händen zu beschleunigen. Für einen Augenblick war es, als würde er fliegen – Ben, Evil Knievel auf dem Karneval der Toten. Fast nebenbei spürte er, wie das Wesen von den Füßen geschleudert und mitgerissen wurde. Dann kam der Aufprall. Mit Bens gesamtem Gewicht beschwert, bohrte sich der polierte Chromstahl des Rollstuhls in die Kreatur. Er hörte Knochen splittern, fühlte, wie der Rollstuhl die weiche Masse unter ihm zu Brei zerquetschte, dann fiel er vornüber, landete auf dem Boden, und es war, als hätte jemand den Schmerz eingeschaltet.
„Hast du ihn erwischt?“, drang Barbs Stimme zu ihm durch, während er noch nach Luft rang. Doch die Frage hätte sie sich sparen können: die Kreatur begann zu schreien.
Bens Großeltern hatten einen Bauernhof besessen. Als er noch ein Kind war, durfte er an einem viel zu heißem Septembernachmittag, den er nie wieder vergessen würde, bei der Notschlachtung einer Kuh zusehen. Irgendetwas war mit dem Schlachtschussapparat nicht in Ordnung gewesen, und der Stahlbolzen blieb auf halbem Weg in den Schädel der Kuh stecken. Der Veterinär, ein hysterischer Anfänger, der wohl einen Schock davongetragen hatte, fuhr zurück in seine Praxis, um einen neuen Schlachtschussapparat zu holen, aber Bens Großvater beendete das Leiden des Tieres schon vorher mit einem alten Spalthammer. Das manische, fast menschenähnliche Brüllen, das die Kuh in diesen schrecklichen Minuten von sich gegeben hatte, verfolgte Ben noch Jahre später bis in seine schwärzesten Albträume – und der anhaltende Schrei, der da unter dem Rollstuhl hervorkam, war noch viel schlimmer…
Ben lag auf dem Bauch und war sich inzwischen sicher, dass er sich das Schlüsselbein gebrochen hatte. Hinter ihm brüllte der Tote – oder was von ihm noch übrig war – und schlug rasend um sich. Das metallene Treppengeländer dröhnte wie eine entweihte Kirchenglocke wenn es getroffen wurde, und in diese Kakophonie mischten sich Barbaras Schreie von irgendwo hinter ihm.
„Bleib um Gottes Willen oben, Barb!“ Seine Stimme verlor sich in dem einzigen, gigantischen Missklang, der das Treppenhaus ausfüllte wie Eiter eine verstopfte Wunde.
Durch einen roten Vorhang aus Schmerz und hervorgepressten Tränen sah er plötzlich einen hellen Spalt vor sich: eine Tür, vielleicht eineinhalb Meter entfernt. In seinem Zustand war das ungefähr die Strecke zwischen Erde und Mars…
Nie hätte er gedacht, dass es so schmerzhaft sein könnte, eine Tür zu öffnen – bis er sich zur Türklinke hochgezogen hatte, verging eine Ewigkeit, und eine weitere qualvolle Ewigkeit dauerte es, bis er die Tür endlich geöffnet hatte.
Das natriumgelbe Licht, das aus dem angrenzenden Korridor ins Treppenhaus fiel, offenbarte ein Bild, wie es sich Hieronymus Bosch nicht hätte ausmalen können, wenn er bei einem Schlachter in die Lehre gegangen wäre. So viel Blut konnte doch gar nicht in diesen beiden Kreaturen gesteckt haben – überall, selbst an Wänden und Decke, klebte die zähe schwarze Flüssigkeit, und was sonst noch aus dem Leib unter dem Rollstuhl gequollen war, hatte mit menschlichen Organen nicht mehr viel gemein.
Irgendwie schaffte er es, Barbara an den immer noch zuckenden Resten des Toten vorbei nach unten zu lotsen. Selbst wenn sie es geschafft hätten, den Rollstuhl von der grotesk zugerichteten Leiche zu trennen, wäre er wertlos gewesen: eine der Achsen war gebrochen, und das zugehörige Rad würde nie wieder rollen. Die Axt war zusammen mit der anderen Kreatur verschwunden. Großartig.
Barb hustete. Erst jetzt bemerkte er, dass sich in den Gestank verdorbenen Fleisches noch ein anderer Geruch gemischt hatte, der ihn unheimlicherweise an den offenen Kamin seiner Großeltern erinnerte: Feuer.
(3) Bonnie und Clyde
Der Raum, in den sie sich zurückgezogen hatten, war vom Chaos der letzten Tage verschont geblieben. Es schien sich um das Sprechzimmer eines Arztes zu handeln, zumindest ließ der luxuriöse Schreibtisch darauf schließen. Auch das Krankenhausbett, in dem Ben jetzt saß, den linken Arm behelfsmäßig ruhig gestellt, war bequemer als die, die er von früher gewohnt war. Wohl für Privatpatienten, dachte er, und bemerkte im gleichen Augenblick, wie unpassend dieser Gedanke eigentlich war.
Durch das Fenster sah man auf den umgestürzten Rettungswagen im Hof. Die Flammen ließen unheimliche Schatten an den Wänden des Krankenhauses tanzen, schwarzer Rauch stieg in den mondlosen Nachthimmel. Im Gras vor dem Wagen lag ein entstellter Körper. Oder ein Stück Blech. Was auch immer…
Als Ben seinen Blick vom Fenster wandte, bemerkte er, dass sein rechtes Bein verletzt war. Die Jeans hatte am Schienbein ein faustgroßes Loch, dessen Ränder sich mit Blut voll gesogen hatten. Zum ersten Mal in seinem Leben war er beinahe froh darüber, dass er von der Hüfte abwärts gefühllos war, denn das Bein sah böse aus: Ein ganzes Stück Fleisch schien einfach zu fehlen, und aus dem das Loch ragte fast dottergelb der Schienbeinknochen hervor. Die Wunde selbst blutete ungewöhnlich schwach.
„Wir sind hier im ersten Stockwerk, oder?“ Barb hatte auf dem riesigen Lederstuhl hinter dem Schreibtisch Platz genommen und hatte ihre Knie bis zum Kinn hochgezogen.
„Ja…“, antwortete er geistesabwesend.
„Stimmt etwas nicht? Du bist so still…“
„Nein, alles in Ordnung!“, beeilte er sich, zu antworten. In all den Jahren immerwährender Dunkelheit musste sie Sinne entwickelt haben, die einer normalen Achtzehnjährigen unbekannt waren.
Ben zog die Bettdecke über seine Beine, um die Wunde nicht mehr ansehen zu müssen. „Ich denke nur gerade darüber nach, wie wir hier rauskommen.“
„Im Erdgeschoss brennt es, nicht?“
„Ja. Das Treppenhaus können wir vergessen.“
„Und wenn wir durch ein Fenster flüchten?“
„Keine Chance. Wir sind hier vier Meter über dem Boden, und selbst mit gesunden Beinen möchte ich nicht nachts in diesem Park sein.“
„Wir können doch nicht aufgeben, jetzt wo wir schon so weit gekommen sind!“ Ihre Augen schienen fast ein wenig zu funkeln.
„Wir werden auch nicht aufgeben. Wir werden durch den Hauptausgang verschwinden.“
„Durch den Hauptausgang!? Dreht’s dich?“
„Ich weiß, in der Eingangshalle sind noch ein paar von denen…“
„Ein paar? Vom dritten Stock aus hat sich’s angehört, als wär’ Endspiel in der Hölle! Die Zwillinge vom Pflegepersonal haben versucht, da raus zu kommen – und glaub mir, sie haben so abartig geschrien, dass es eine Viertelstunde gedauert hat, bis ich ihre Stimmen erkannt habe.“
„Jetzt halt’ mal die Luft an, Barb! Es ist der einzige Fluchtweg, der uns noch bleibt. Wir dürfen bloß nicht unvorbereitet da rein.“
Barbara verstummte. „Tut mir leid…“, sagte sie reumütig. „Und wie genau willst du das anstellen?“
„Wir sind doch hier in einem Krankenhaus. Gibt also Genug Isopropanol, Mullbinden und Glasflaschen, um damit eine Kleinstadt platt zu machen.“
„Ich verstehe nicht ganz…“
„Molotowcocktails. Wir bauen uns ein paar davon, und brennen uns den Weg frei. Und wir werden uns umsehen, was sich sonst noch verwenden lässt, um uns lange genug am Leben zu erhalten.“ Oder, um uns endgültig sterben zu lassen, fügte er in Gedanken hinzu, hütete sich aber, es laut auszusprechen.
Barb war einverstanden, und so machten sie sich daran, die Umgebung nach verwendbaren Dingen abzusuchen – sie schob das Krankenhausbett dorthin, wo er es haben wollte, und er packte seine Errungenschaften vor sich auf das Bett.
Auf dem Schreibtisch fand sich nichts Hilfreiches – handschriftliche Notizen, gerahmte Fotos (die meisten von einem lachenden Mädchen mit einer riesigen Zahnlücke), eine mechanische Schreibmaschine, die im Licht der Halogenlampen seltsam anachronistisch wirkte. Obwohl… die Sammlung aus Kugelschreibern und Bleistiften in einer mit Buntpapier überzogenen Blechdose (ein Geschenk des Zahnlückenmädchens?) brachte Ben auf eine Idee…
In seinem vierten Dienstjahr bei der Polizei (das letzte Jahr, in dem er ohne Versehrtenrente über die Runden kommen musste) hatte er zusammen mit einem dienstälteren Kollegen auf einen anonymen Anruf hin eine Mietwohnung im Norden der Stadt inspiziert. Am Esstisch in der kleinen Küche hatten sie eine tote Frau gefunden, zusammengesunken auf der Eckbank, mit dem Gesicht auf der Tischplatte. Es war einer dieser Psychopathen gewesen, die zwei Drittel ihres Lebens als normale Familienväter verbrachten, nur um dann eines Tages durchzudrehen, weil die Suppe versalzen war, oder weil die Stimmen aus dem Heizkörper es so wollten. Er hatte seine Frau von unten durch die Tischplatte hindurch erschossen. Das Projektil fand man zehn Zentimeter tief ihrem Hals: ein zugespitzter Bleistift, geschossen aus einem Kupferrohr, dessen anderes Ende mit Klebeband an einen Feuerlöscher gekoppelt war. An einen stinknormalen Feuerlöscher…
Feuerlöscher gab es genug im Krankenhaus. An Stelle des Kupferrohrs musste ein Teil der chromblitzenden Standleuchte herhalten, der mit Leukoplast an den Schlauch des Löschers (Vorsicht! Behälter steht unter Druck!) geklebt wurde.
Nach einiger Zeit hatte er ein recht ansehnliches Arsenal vor sich auf dem Bett ausgebreitet – wenn es einen passenden Zeitpunkt gab, aus diesem Pandämonium zu entkommen, dann war er jetzt gekommen. Mit festem Schritt schob Barb das Krankenhausbett durch den natriumgelb beleuchteten Korridor, vorbei an zerstörter Einrichtung und über blutgetränkte Laken, immer auf die Eingangshalle zu. Ihre riesigen grünen Augen funkelten nun wirklich, und in Bens Gesicht machte sich ein manisches Grinsen breit – Bonnie und Clyde auf ihrem Feldzug gegen die Armee der Finsternis…
(4) König Heinrich
Der Brandgeruch war viel stärker als noch vor wenigen Minuten, und unter den Türen hindurch quoll dicker gelbgrauer Rauch in den Korridor wie frisches Blut in ein Meer aus Tränen. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden.
Ben hielt einen Molotowcocktail in der Rechten, und seine linke Hand spielte mit dem abgegriffenen Armeefeuerzeug. Ein Schnippen mit dem Finger, und die Benzinflamme erwachte zum Leben, eine Handbewegung, und jede potentielle Bedrohung würde brennen.
„Noch zehn Meter, und wir sind da!“
Die Flügeltüren am Ende des Korridors hatten blutverschmierte Milchglasscheiben, durch die weißes, ungesundes Licht drang. Als das Bett dagegen stieß, schwangen die Türflügel auf, und sie waren in der Eingangshalle: Vier Stockwerke hoch, zwei Freitreppen die von der Plattform im ersten Stock nach unten führten, von dort aus dreißig Meter weißer Marmorboden bis zum Hauptausgang. Und die versammelten Legionen der Hölle, die in ihrer grausamen Parodie menschlichen Lebens durch die Halle wankten, über das besudelte Marmor krochen oder tonisch zuckend aus einem Blutmeer hervorragten wie schwarze Eisberge, die ein unheiliges Ritual zum Leben erweckt hatte.
Beinahe fühlbar krochen Schwaden ekelerregenden Gestanks durch die feuchtheiße Luft, und Ben musste würgen, als der Pesthauch seine Lungen füllte. Mit einem viel zu lauten „Thump“ schwangen die Flügeltüren hinter Barbara zu, und jedes Geräusch in der Eingangshalle erstarb.
„Was ist los?“ Barbs Stimme zitterte.
Zischend wurde Luft zwischen fauligen Zähnen eingesogen, als die erste Leiche die beiden Sterblichen vor ihr wahrnahm.
„Ben! Was ist da los?“
Was da auf sie zuwankte war früher einmal einer der beiden Zwillinge aus dem Pflegepersonal gewesen – Ben erkannte ihn an dem Namensschild, das als einziges an dem Zwei-Meter-Körper unversehrt geblieben war: „Hallo, ich bin David“, gepinnt an einen Berg rohen Fleisches, dessen Verwesungsprozess schon so weit fortgeschritten war, dass einzelne aufgedunsene Fetzen zwischen den Resten der ehemals weißen Pflegeruniform hervorquollen. Ein milchiges Auge stierte direkt auf Ben.
„Hallo, ich bin David!“, schien dieses Auge zu sagen, „Und ich habe Hunger!“
Die dunkelbraune Glasflasche zerplatzte direkt im Gesicht der Kreatur und hüllte die Gestalt in Sekundenbruchteilen in eine gewaltige Feuersäule. Unmenschliches Brüllen erfüllte die Halle, bis sich das Methan in den aufgedunsenen Organen entzündete, und der Oberkörper der Leiche mit einem ekelhaft schmatzenden Knall explodierte – dunkelroter Nebel verteilte sich in der Luft, aus dem Brocken blutigen Matsches neben den schwarzen Beinstümpfen auf den Boden regneten.
„Auf Wiedersehen, David!“, schrie Ben in das Miasma und lachte schallend. Dann nahm er die Gasdruckflinte zur Hand. „Vorwärts Barbara, vorwärts!“
Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!
Das Bett setzte sich in Bewegung, und Ben richtete das Chromrohr auf den nächsten Toten – die Waffe fauchte und spie weißen Nebel, aus dem sich ein pinkfarbener Einwegkugelschreiber löste und direkt zwischen den Augen der Kreatur in den morschen Schädel fuhr.
„Ha!“ – Spannt eure Sehnen, ruft das Blut herbei!
Er war König Heinrich der Fünfte, und er zog aus in den Krieg. Der nächste Molotowcocktail entflammte drei weitere Kreaturen, was ihm Zeit schenkte, seine Waffe nachzuladen. Mit sich überschlagender Stimme wies er Barbara an, wie sie das Bett zwischen den gefällten Leibern hindurch zu manövrieren hatte. Es war fast wie Großwildjagd vom Jeep aus – König Heinrich auf Untoten-Safari…
(5) Nicht mehr weit
Dass sie auf verlorenem Posten standen erkannte er, als der erste Tote aus dem vierten Stock stürzte und vor ihnen auf dem Marmor aufschlug. Als er seinen Blick nach oben wandte, sah er dutzende, wenn nicht sogar hunderte wiedererstandene Tote, die drauf und dran waren, sich über die Brüstung auf ihn und Barbara zu stürzen. Und von den Kreaturen im Erdgeschoss hatte er noch nicht einmal ein Viertel erledigt!
„Wir müssen runter vom ersten Stock!“
„Aber ich hör’ da drunten noch was!“
„Glaub’ mir einfach, Barb!“
Er hängte die Bettdecke über die Stirnseite des Bettes und leerte die letzte Alkoholflasche darüber aus. Dann steckte er die Decke in Brand.
„Was machst du da, Ben?“
„Ich bau’ uns einen Rammbock. Auf drei schiebst du uns geradeaus die Treppe runter. Spring auf, wenn ich es dir sage!“
„Aber…“
„Keine Widerrede! Wir wissen inzwischen, dass es funktioniert. Und der Schwung müsste ausreichen, um bis zum Ausgang zu rollen…“
Der Schwung reichte nicht aus. Eng umschlungen waren sie die Treppe hinuntergepoltert, von der Bettdecke her hatte ihnen eine Feuerwand entgegengeschlagen, und nachdem das lädierte Fluchtfahrzeug drei oder vier Leichen niedergefahren hatte, blieb das Bett mit quietschenden Rädern mitten in der Eingangshalle stehen.
Ein wahrer Sturzbach aus verwesenden Leibern ergoss sich hinter ihnen auf die Plattform und über die beiden Freitreppen, und aus allen Richtungen wankten gierige Tote auf das Bett zu.
„Wie weit ist es noch bis zum Ausgang, Ben? Ich höre so viele Schritte…“ Ein flehender Ausdruck war auf ihr Gesicht getreten, und sie bewegte den Kopf hilflos in alle Richtungen, um sich zu orientieren. Ihre nutzlosen Augen sahen nicht, wie die geifernden Kreaturen näher und immer näher heranrückten.
„Nicht mehr weit, Barb.“
„Du bist ein schlechter Lügner, Ben“ Sie lächelte. „War schön, dich kennen gelernt zu haben…“
„Ja, war schön.“ Er nahm sie fester in die Arme, und ihr Herzschlag wurde eins…
(6) Ganz schön knapp
Barbara sitzt ihm gegenüber im Heck eines Sanitätswagens, der mit eingeschaltetem Blaulicht durch die Nacht rast.
„War ganz schön knapp, nicht?“
„Ja…“ Man hat ihr blutverkrustetes Nachthemd gegen einen blütenweißen, noch nach Waschmittel duftenden Baumwollumhang getauscht. Ben bemerkt, dass nicht alles Blut auf ihrem Nachthemd von Dr. Solito und seinen untoten Kollegen gestammt haben konnte – irgendwo auf ihrer Odyssee musste auch Barb sich hässlich verletzt haben, wovon jetzt ein dicker Druckverband an ihrer Schulter zeugt.
Ben blickt hinunter auf sein Schienbein, das man ebenfalls eingebunden hat. Desinfektionsmittel, Wundauflage, herrlich weiche, weiße Mullbinden. Irgendetwas kribbelt – es fühlt sich anders an, als der übliche Phantomschmerz…
Er versucht, sich hinunter zu beugen, als er plötzlich sein rechtes Bein richtig spürt. Und nicht nur das, seine Zehen gehorchen plötzlich wieder seinem Willen. Er kann seine Zehen bewegen!
„Barb, du wirst nicht glauben, was gerade passiert ist!“
Barbara blickt auf, und ihre bernsteingelben Augen starren direkt in seine. „Ich seh’s.“ Sie lächelt. „Sieht lecker aus…“