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In einem Sonnensystem im Perseusarm der Milchstraße, vor zirka 30.000 Jahren, war ein Werkzeugtechniker mal wieder unter Druck. Er hatte schon lange für den Ersatz dieser überholten Katapulte plädiert, aber niemand glaubte einem Techniker.
Besonders dann nicht, wenn seine Vorschläge Kosten verursachten. Das schien ihm ein universell geltendes Gesetz zu sein.
Schon wieder war in einem Minenfadenwerfer die Sicherheitsschaltung ausgefallen. Und schon wieder hat der Bediener die Warnlampe nicht gesehen oder ignoriert und trotzdem eine Ladung Fäden auf den Asteroiden abgefeuert. Die Fäden funktionierten natürlich einwandfrei: die Enden entfernten sich schnell voneinander, bis die Fäden gerade, jeweils ein Molekül dicke Linien darstellten. Und sie schnitten den Asteroiden in dünne Scheiben, wie geplant. Nur lösten sich die Fäden im Grenzabstand nicht auf.
Natürlich hätten sie eingefangen werden können, aber das wäre teuer geworden und niemand war bereit, sich dafür zu verantworten. Das schien dem Techniker auch ein universelles Gesetz zu sein, das scheinbar unabhängig von Raum und Zeit existierte.
Da sich die Fäden mit nur einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit in Richtung unbesiedeltes Gebiet bewegten, machte sich der Techniker keine weiteren Sorgen und trug sie als bewegte Gefahrenobjekte mit Option auf Deaktivierung in die Sternenkarte ein, damit niemand aus Versehen mit ihnen kollidierte.
Dann wandte er sich dem nächsten Problem zu.
* * *
Mein Gott, was geht sie mir auf die Nerven!
Tiara, schon wieder teile ich die Schicht mit ihr. Kaum schlage ich die Augen auf, ist das mein erster Gedanke.
Jeder andere aus der Crew ist erträglicher. Smitt ist ein emotionales Wrack, dafür wenigstens ruhig. Meistens jammert er still in sich hinein und meidet Kontakt. Hibiko stinkt aus jeder Pore - wahrscheinlich wegen dem Mist, den er in sich hinein stopft. Ralph wirkt teilnahmslos, fast apathisch. Wenn man ihn fragt, worüber er gerade nachdenkt, dann schreckt er hoch, als hätte man ihn aus einem schönen Traum geweckt. Vermutlich hat man das auch. Und Tsu lässt als Bordältester ständig den großen Macker heraushängen.
Natürlich hatte ich versucht, mit Tiara zu reden, aber die hatte gar nicht verstanden, was ich meinte.
„Wir sind ein Jahr in dieser Büchse eingesperrt", sagte sie dann immer. "Da tut es doch gut, von zu Hause zu hören." Ich solle mich nicht so haben. Es sei für sie, als hätte sie ihre Familie an Bord.
Niemanden kümmert, wie es für mich ist. Auch ich vermisse meine Familie - manchmal. Aber ich gehe damit wenigstens niemandem auf die Nerven.
Immerhin wird das Gefühl der Einsamkeit ein wenig durch das Internet gedämpft. Jedes Crewmitglied hält über Yourbook oder per E-Mail Kontakt zu den Lieben daheim. Chatten oder gar Onlinegames sind natürlich nicht drin, die Signale brauchen von unserer Position im Asteroidengürtel zur Erde und zurück bis zu einer Stunde, je nach relativer Position. Die Daten werden auf einem stationseigenen Puffer gespeichert und in unregelmäßigen Abständen mit der Erde synchronisiert. Funktioniert ganz gut, nur nervt es, wenn man eine Seite aufrufen will, die noch niemand zuvor geöffnet hat. Dann heißt es abwarten, bis die Daten da sind.
Überhaupt, abwarten. Vor drei Monaten fing mein Dienst hier an; damals dachte ich noch, die Zeit würde verfliegen. Immerhin sind wir im Weltraum, der letzten großen Herausforderung. Aber daran gewöhnt man sich schnell. Es stellte sich bald heraus, dass die anderen Menschen die wirkliche Herausforderung sind.
Wir sind hier, um Asteroiden zu zerlegen. Na ja, eigentlich sind wir hier, um die Robotersonden zu beaufsichtigen, die die Asteroiden zerlegen. In der Anwerbungsbroschüre stand, hier sei schnelle Reaktion und Kreativität gefragt, deswegen sollten Menschen vor Ort sein.
Bisher war allerdings nichts von beidem gefordert, eher eine hohe Toleranzschwelle gegen Langeweile. Man sagt, den Job könnte ein dressierter Affe machen. Wenigstens wird unser Aufenthalt gut bezahlt.
Das einzig Spannende ist das kleine Shuttle. Die Einsatzleitung drückt ein Auge zu, wenn ein Ausflug mal nicht unbedingt notwendig ist. Wir müssen schließlich alle damit umgehen können.
Nachdem ich mich aus dem Schlafsack gequält habe, hänge ich an Klettverschlüssen in der traurigen Variante eines Badezimmers und putze mir die Zähne, während Tiara mich ein weiteres Mal an ihren Familienstreitigkeiten teilhaben lässt. Aktuell dreht sich alles um ein kaputtes Auto.
„Kannst Du Dir das vorstellen? 1200€ für so eine winzige Beule. 1200!“.
Mittlerweile weiß ich, dass es um eine Beule am Auto des Nachbarn ihrer Schwester geht. Und auch, dass die Beule nicht wirklich klein ist.
„Die Versicherung hat gesagt …", Ich lasse die neuen Informationen an mir vorbei ziehen.
Erstmal aufwachen, Kaffee trinken. Dann Yourbook checken, E-Mails beantworten, über Katzenbilder schmunzeln, usw. Der allmorgendliche Trott.
Dann beginnt unsere Schicht. Ich nehme mir vor, in der Pause diesem Kunstfleisch eine weitere Chance zu geben.
Ich darf nur nicht daran denken, wie es hergestellt wird. Komplettrecycling wird es genannt. Die Atemluft, Schweiß, umher schwirrende Schuppen, einfach alles wird recycelt. Trotzdem kommen alle drei Monate frische Atemluft, Eiweißverbindungen, Wasser und so weiter. Ein beunruhigender Gedanke, dass das Recycling wohl doch nicht so perfekt ist. Was, wenn ein Versorgungsflug ausfällt? Wenn er einfach vorbeifliegt oder auf der Erde das Interesse erlahmt? Was, wenn die Erde aufhört, zu existieren? Zum Glück fällt es mir leicht, solche Gedanken fort zu schieben.
Ich führe zigfach erprobte Bewegungen aus. Kleidung und Safetybag prüfen, mit Fingerabdruck am System anmelden, Alkohol- und Drogentest. All die täglichen Rituale, ständige Wiederholungen und ich bin davon überzeugt: Diesen Job könnte definitiv ein Affe machen. Wir sind im kugelförmigen Kommando- und Beobachtungsmodul. Es ist an der Zentraleinheit befestigt, das im rechten Winkel zu uns das Wohnmodul trägt. Zur anderen Seite liegt das Labor- und Werkstattmodul. Uns gegenüber schließlich ist das Shuttle angedockt und vervollständigt damit das Kreuz.
Wir kontrollieren die Meldungen der Minensonden und analysieren sie auf lohnenswerte Rohstoffe, die in Richtung Relaisstation beschleunigt werden können. Wie jeden Morgen schaue ich aus dem Bullauge, um den Asteroiden mit eigenen Augen zu sehen. Der im Durchmesser vier Kilometer messende, fast kugelförmige Felsen hängt wenige Kilometer von uns entfernt als schwarzer Fleck im schwarzen Nichts. Ich sehe ihn nur, weil auf seiner Oberfläche starke Positionslampen leuchten und weil das Bullauge seine Position umrahmt. Dann kontrolliere ich die Sensorik auf Ungewöhnliches. Eine Drohne hat Schwankungen in der Energieversorgung, ich rufe sie besser herein. Sie nähert sich, in ein paar Minuten… TSCHACH!
Ein kurzes Rucken, begleitet von mehreren Peitschenschlägen und einem Geräusch, als würde ein riesiger Reißverschluss sehr schnell geöffnet.
Gleißendes Licht blitzt kurz durch die Kommandokuppel. Ein Knall reißt die gesamte Luft aus dem Raum.
Dann schlagartig Stille.
Ich bin orientierungslos, Panik kommt auf. Was war das? Ich erinnere mich an die Einsatzvorbereitung. Panik lässt sich durch logische Überlegung auszutricksen. Wenn das Gehirn mit Denken beschäftigt ist, dann hat es keine Zeit für Panik. Soweit die Theorie.
Am schwierigsten ist der erste Gedanke. Dann kommt er.
„Status!“
Ein guter Anfang. Der Sicherungsgurt hält mich an der Kuppel fest - ganz vorschriftsmäßig. Dann kommt doch Panik.
Atem! Ich kann nicht atmen. Keine Zeit für bewusste Gedanken, Atmen!
Es geht nicht. Jetzt bemerke ich auch die Schmerzen. Scheiß drauf, ich muss atmen.
Die Logik kommt wieder: Überleben, das Safetybag, die Maske.
Ein hektischer Griff holt die Maske hervor. Die Finger fühlen sich an, als wollten sie zerreißen. Zum Glück braucht die Zellflüssigkeit etwas, um ihre Zellen zu verlassen. Noch kann ich meine Hände gebrauchen.
Ich drücke die Maske gegen das Gesicht, der Schnellverschluss schießt um meinen Kopf und schließt sich automatisch. Jetzt alle Selbstbeherrschung aufbringen und abwarten, die Maske macht das schon.
Sie erhöht den Luftdruck langsam, Lungenfunktion testen. Mein Körper schreit nach Luft, aber die Lunge wurde von den anderen inneren Organen brutal zusammengequetscht, Gefäße sind verletzt. Das ganze Blut hier ist meines. Ich muss sie langsam wieder aufpumpen, wenn es denn überhaupt geht. Die Luft brennt wie Feuer in meinem Körper, als das wunde Lungengewebe wieder auseinander gezogen wird und die Brust sich endlich hebt. Besonders links will es mich zerreißen, wahrscheinlich ist dieser Lungenflügel nur noch Matsch. Diesen Schmerz muss ich wohl ertragen, um wieder zu atmen. Dann endlich kann die Lunge wieder arbeiten, zumindest teilweise. Die Maske unterstützt mich, es fühlt sich trotzdem an, als würde ich einen Ballon aufblasen. Vor allem das Ausatmen ist anstrengend, weil das Vakuum die Lunge auseinanderzieht. Trotzdem: Halleluja, einatmen, ausatmen.
Jetzt habe ich ein wenig Zeit, mein weiteres Vorgehen zu planen. Das Safetybag - was ist da noch drinnen? Handschuhe, gut.
Das intelligente Material der Druckwäsche reagiert auf das Vakuum und hält den Körper fest, passend dazu sollen die Handschuhe die Hände in Form halten. Die blähen sich nämlich allmählich auf und die Handschuhe sind schwierig überzuziehen, doch es gelingt. Sofort fangen sie an, sich zusammenzuziehen, willkommener Schmerz. Die Hände werden spürbar beweglicher. Der größte Teil des Körpers ist nun gegen das Vakuum geschützt. Der Kopf ist frei, die Ohren fühlen sich an, als hätte jemand Nadeln hinein gestoßen. Sicher sind die Trommelfelle geplatzt, aber ich kann mein Blut durch die Adern fließen hören. Ganz hinüber sind die Ohren also nicht.
Ich schließe den Beutel, alles andere werde ich hoffentlich nicht brauchen.
Jedes Blinzeln fühlt sich an, als würde ich mit Sandpapier über die Augäpfel reiben. Die Tränendrüsen nehmen ihre Arbeit langsam wieder auf, nachdem alle Tränenflüssigkeit im Vakuum verkocht ist. In Mund und Nase das selbe, mühsam produziert der Körper den nötigen Speichel.
Zu guter Letzt ziehe ich noch die Kapuze über den Kopf, um auch Kopfhaut und Ohren zu schützen. Für die Ohren ist es zwar zu spät, aber wenigstens hört damit das elende Kribbeln und Jucken auf dem Kopf auf.
Erfrieren werde ich nicht - jedenfalls nicht sofort. Aus der Vorbereitung weiß ich, dass wegen des fehlenden Mediums die Wärme des Körpers nur langsam über die Strahlung entweichen kann. Und dagegen schützt mich die Wäsche.
Mein Überleben ist zumindest eine Zeit lang gesichert. Was nun?
Der Hals kratzt, weil die Schleimhäute knochentrocken sind. Die Notmaske feuchtet die Luft an und unterdrückt den latenten Hustenreiz. Es wird schon gehen, sollte ja nicht zu lange dauern.
Wahrscheinlich ist schon ein Rettungstrupp auf dem Weg, um uns aus dieser Scheiße heraus zu holen. Zum Glück ist jede Kammer hermetisch verriegelt, falls mal etwas passiert. Ich muss nur ein paar Minuten überleben. Ich horche auf Geräusche des Rettungstrupps.
Fuck, ich bin im Vakuum, verdammte Instinkte!
Ich schaue mich um. Das Blut auf den Wänden erschrickt mich. Ich habe es schon gesehen, aber nicht wirklich registriert. Die Luft wurde mir aus den Lungen gerissen, feine Adern sind zerplatzt, Schleimhaut verkocht. All das Blut, Gewebefetzen, Speichel und Rotz habe ich wie mit einem gewaltigen Nieser gegen die Wand geschossen. Das Wasser ist daraus entwichen und übrig blieb diese trockene, dunkelrote Schicht auf der Wand wie abblätternde Farbe. Ekelhaft.
Ich ziehe mich zur Bordwand, um mich drehen zu können und die Situation einzuschätzen.
Bei der Ausbildung hatte ich noch Probleme mit klaustrophobischen Situationen. Das, was ich jetzt sehe, lässt diese Angst ziemlich lächerlich erscheinen: die gesamte Beobachtungskuppel ist durchtrennt.
Wie ein heißer Draht durch Styropor, so hat irgend etwas nicht nur alle Geräte, Leitungen, Halteschienen und Monitore durchtrennt sondern auch die Panzerung, die eigentlich sogar Mikrometeoriten bis zu zehn Millimetern standhalten soll. Alles wurde so sauber durchtrennt, dass einige Monitore sogar noch ein gutes Bild liefern, obwohl sie in der Mitte zerschnitten sind. Aus Leitungen schießt Wasserdampf, gelegentliche Lichtbögen blitzen.
Es ist nicht all zu dunkel, denn ein Teil der Lampen funktioniert noch, als wäre nichts gewesen.
Vielleicht hundert Meter entfernt taumelt der Rest der Kuppel davon. Mit ihm all die Sachen, die durch den Sturm fortgefegt wurden: Notizblöcke, Kugelschreiber, Trinkflaschen und vieles mehr.
Ganz in der Nähe entdecke ich Tiara. Sie war gerade mit der Justierung des Gravitationsdetektors beschäftigt. Auch sie war vorschriftsmäßig befestigt, trug die richtige Kleidung und die Notfalltasche.
Ansonsten hatte sie nicht so viel Glück. Der Schnitt, der die Kuppel durchtrennte, geht von knapp über den Augen schräg durch den Kopf bis hinunter zu den Schultern. Alles darüber ist weg. Jeder Pulsschlag verstärkt kurz den schwachen Blutstrahl, der im Vakuum zersprüht und schnell versiegt.
Ich kann von hinten durch den Mund schauen. Sofort straft mich das schlechte Gewissen für meine Gedanken: "Wenigstens kommt da kein Müll mehr raus."
Wie lange kann so eine Rettung denn dauern? Die wissen doch, dass ich hier bin - dass wir hier sind.
Als ich mir den Verlauf des Schnittes betrachte, beschleicht mich ein schlimmer Verdacht.
Nach kurzem Abwägen löse ich die Sicherung und hangle mich bis zur Schnittkante, wo ich den Sicherungsgurt wieder einhake. Als ich über den Schnitt hinweg schaue, sehe ich das ganze Ausmaß dieser Katastrophe. Das Wohnmodul ist ebenso durchtrennt. Die obere Hälfte treibt, durch den Luftdruck beschleunigt, vom Rest fort. Zwischen der Station und der davon treibenden Hälfte des Wohnmoduls kann ich einen Körper erkennen, der hilflos mit Armen und Beinen rudert. Armes Schwein. War nicht gesichert, hat aber auch die Maske auf - immerhin. In der davon treibenden Modulhälfte ist eine weitere Person zu erkennen. Er ist nackt, trägt keine Maske, ist aber zu weit weg, um das aufgeblähte Gesicht zu erkennen. Auch der Bauch ist aufgebläht, die Arme und Beine wirken wie bei einer aufgeblasenen Gummipuppe. Die dunkelblauen Adern stechen deutlich hervor. Er bewegt sich nicht mehr, natürlich nicht.
Auch der zweite Mann hat keine Chance. Und ich? Die Anzeige der Atemmaske zeigt noch für dreieinhalb Minuten Luft. Dann wird der Sauerstoff versiegen. Die Maske dient dann nur noch dazu, wenigstens dem Atemreflex nachkommen zu können.
Einatmen, Ausatmen. Bis die Kopfschmerzen einsetzen, weil die Luft zu viel Kohlendioxid enthält. Und dann weiteratmen, bis … naja.
Zwar wandelt die Maske auch weiterhin CO2 zu Sauerstoff. Aber das reicht bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. Es zögert nur den Erstickungstod um ein paar Minuten heraus.
Die Zentraleinheit müsste unbeschädigt sein, aber in ihr hält sich normalerweise niemand auf. Ich kann sie nicht sehen, ohne mich über den Rand hinweg zu beugen. Und ich will dieser verdammten scharfen Kante nicht zu nahe kommen.
Die Schnittfläche scheint sehr glatt zu sein, Rohre und Kabel sind zerteilt, ohne nennenswert verformt worden zu sein. Keine Ahnung, was das war.
An Rettung ist nicht zu denken. Die einzigen Menschen innerhalb der nächsten Million Kilometern sind entweder selbst tot oder kämpfen um ihre letzten Minuten - wie ich.
Der nächste Versorgungsflug wird erst in etwa vier Wochen erwartet.
Moment, Versorgungsflug. Unser Shuttle ist angedockt, vielleicht kann ich das nehmen. Es hat Funk und eine eigene Sauerstoffversorgung. Sogar etwas zu Essen und zu Trinken ist an Bord.
Ins Shuttle kann ich über das Zentralmodul kommen, das hat aber keine Luftschleuse zu uns. Das heißt, sobald ich das Schott öffne - falls ich es überhaupt öffnen kann - entweicht die Luft auch dort. Das ist in Ordnung, das Shuttle selbst hat eine Luftschleuse. Aber ich brauche mehr Atemluft, um hinzukommen. Tiaras Maske ist unbenutzt, ich kann die Luft ihrer Maske nehmen. Mir ist zwar unwohl dabei, aber die Entscheidung ist gefallen.
Ich drehe mich vorsichtig von der Kante weg, entkopple die Sicherheitsleine und peile Tiara an. Als ich den ersten Meter hinter mir habe, brennt sich ein reißender Schmerz in mein Bewusstsein, der sich schnell ausbreitet. Reflexartig krümme ich mich, um nach meinem Bein zu schauen und sehe aus dem linken Schienbein Blut sprühen und sich schnell entfernen. Immer weiter weg von mir, mein kostbares Blut.
Beim Drehen muss ich die Schnittkante berührt haben, verdammt! Die hat sich offensichtlich knapp über dem Sprunggelenk durch die Druckwäsche und durch das Fleisch geschnitten. Der Schnitt wäre unter normalen Umständen gar nicht so schlimm. Hier aber saugt das Vakuum unerbittlich sämtliches Blut aus meinem Körper, wenn ich nicht sofort handle. Im Safetybag ist ein Verband. Nur einer, für mehr war kein Platz. Es muss reichen.
Die Verbandspackung lässt sich auch mit den Handschuhen leicht öffnen und ich drücke die Wundauflage auf die Verletzung. Es brennt wahnsinnig, ist aber notwendig. Die Wundauflage schmiegt sich um den Unterschenkel, härtet schnell aus und verschließt die Verletzung luftdicht. Ich wickle den Verband um das Bein, der Stoff haftet selbsttätig. Der Verband bleibt weiß und das reißende Gefühl lässt langsam nach. Ich habe die Blutung gestoppt, einmal tief durchatmen. Davon wird mir schwindelig und ich bekomme Schweißausbrüche. Der Blutverlust macht dem Kreislauf zu schaffen. Kurze Pause.
Als ich mich umschaue, um den weiteren Weg zu Tiara zu planen, bin ich verwirrt. Ich weiß nicht, wo ich bin. Auf jeden Fall aber bin ich dort, wo ich auf keinen Fall sein sollte. Während der hektischen Wundversorgung habe ich den Kontakt zur Wand verloren und sie entfernt sich weiter von mir. Scheiße! Ich zapple, schwimme, rudere. Genauso, wie ich es bei Ralph gesehen habe, aber natürlich ändert es nichts. Die Wände weichen vor mir zurück. Ich winde mich herum, versuche, nach hinten zu schauen. Vielleicht kommt etwas zum Festhalten. Nichts, nur gähnende Leere, in großer Entfernung treibt die andere Hälfte der Kuppel. Scheiße! Ich dachte, ich schaffe es.
Dann vibriert die Atemmaske. Das Signal für die letzte Minute Luft.
Meine Optionen sind begrenzt: warten, dass die Luft ausgeht. Wenn ich sparsam bin, dann kann ich vielleicht noch eine halbe Minute mehr herausholen. Das Shuttle kann ich vergessen. Wenn ich eine Steuereinheit dabei hätte … hab ich aber nicht. Ich hab verkackt, war ja klar.
Die zweite Option ist ein weiteres Gimmick aus meiner Notfalltasche. Ich beschließe, auf die Kopfschmerzen zu warten, für den Fall einer plötzlichen Idee.
Ich treibe durch das Nichts. Über die Kante der Kuppel hinaus. Die Wartungseinheit rückt ins Sichtfeld, jetzt müsste das angedockte Shuttle in Sicht kommen. Gleich. Aber … da ist nichts, wo ist das verdammte Shuttle? Hoffnung keimt auf, vielleicht war doch jemand im Zentralmodul.
Als ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten umschaue, entdecke ich es. Oder besser: Ich sehe das Flimmern seiner Triebwerke, die sich rasch von mir fort in Richtung Erde entfernen.
Irgendein Arschloch hat es sich gegriffen, und nicht mal nach Überlebenden geschaut. Ich tippe auf Smitt, den verfluchten Wichser!
Meine letzte Minute erscheint mir sehr lang, aber nicht lang genug. Die Ruhe der Gewissheit breitet sich aus.
Das Mundstück vibriert wieder, die Luft ist aus. Ab sofort gibt es nur noch wiedergekäute Luft. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich über den Doppelinjektor freuen würde. Es gab rege Diskussionen, ob ein Gerät zur Selbsttötung ethisch vertretbar wäre. Immerhin ist es eine Rettungstasche. Aber ich bin dankbar dafür.
Eine Injektion zum Einschlafen. Die andere, um das Herz anzuhalten. In der Ausbildung sagte man uns, es sei die selbe Methode wie bei einer Hinrichtung durch letale Injektion. Allerdings sind die Mittel viel schneller wirksam und injizieren sich automatisch. Sie müssten nicht mal in die Blutbahn, es reicht aus, wenn sie in einen Muskel gespritzt werden.
Hoffentlich zahlt die Einsatzleitung das Gehalt an meine Familie aus, damit ich wenigstens eine vernünftige Beerdigung bekomme. Oder gibt es vielleicht sogar ein Staatsbegräbnis? Mit einem leeren Sarg. Bizarr.
Ich fixiere den Doppelinjektor am Unterarm. Vor dem Stich wird eine Gummiplatte auf die Haut gedrückt, damit das Vakuum nicht das Blut und die Wirkstoffe wieder heraus zieht. Die haben echt an alles gedacht.
Wie es wohl sein wird?