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Zimmer frei
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Zimmer frei
Wenn Sie dies lesen, befinden Sie sich in dem einzigen Gastzimmer einer heruntergekommenen Kneipe in dem kleinen Ort W. Woher ich das weiß? Ich war selbst dort. In diesem lieblosen, grauen Betonkasten zwischen brackigen Pfützen und schwarzen Feldern verbrachte ich die schlimmsten Stunden meines Lebens. Jetzt, wo ich die dünne Sperrholztür betrachte, die dem Druck von außen gerade noch standhält, bin ich mir da ganz sicher. Ein Schild hat Sie hierher gelockt. „Zimmer frei“, schwarz auf weiß. Vergilbt hing das Pappschild an dem riesigen, nikotingelben Fenster der Kneipe. Hab ich recht? Eine dicke, freundliche Frau mit feisten Backen und ein spargeldünner, fahriger Mann haben sie begrüßt. Ist es nicht so? Die beiden haben Sie gedrängt, hier zu übernachten.
Als Ihnen die bohrenden Blicke der wenigen Stammgäste unangenehm wurden, drückte die Frau sie mit kalten Händen auf einen Barhocker.
„Es regnet doch. Sie werden sich da draußen den Tod holen! Und außerdem geht die Sonne schon unter.“ wird die Frau Ihnen ins Ohr gewispert haben.
„Trink, mein Sohn!“ wird Sie der blasse Mann aufgefordert haben, als er ein Bier mit seinen dürren Fingern auf dem klebrigen Tresen platzierte, obwohl er kaum älter war als dreißig. Es täuscht! Glauben sie nichts, was sie sehen. Hätten sie genau hingesehen, wären ihnen braune Flecken auf der Schürze der Frau aufgefallen, dunkle Ränder unter den Fingernägeln des Mannes. Das war ich! Mein Blut klebt an den Händen dieser netten Menschen.
Ich geriet auf der Durchreise nach S. in einen Sturm, der mich zwang, eine Nacht hier in dieser gottverlassenen Gegend zu verbringen. Der Wind peitschte den Regen gegen mein Auto, das ich mit Mühe auf der überschwemmten Straße halten konnte. Wie aus dem Nichts tauchte dieser trostlose Ort im Kegel meiner Scheinwerfer auf. Umgeben von ungenutzten Wiesen und schwarzer Erde drängten sich die graue Betonkästen, die ihre verdreckte Farbe in dicken Fetzen dem Wind preisgaben, um eine wunderschöne Kirche. Aus der Ferne ragte der Turm in seiner Anmut und architektonischen Eleganz aus dieser Anhäufung von Elend hervor. Ein schiefes Holzschild warb für die Kneipe, in der Sie sich jetzt befinden. Der Weg führte durch das Dorf, entlang lichtloser, verriegelter Fensterläden, an der Kirche vorbei.
Vor der Kirche stoppte ich mein Fahrzeug. Ich wollte einen Blick hineinwerfen. Doch die Eingangstür war herausgerissen und durch Bretter ersetzt worden. Wie eine klaffende Wunde schrie mich die geschändete Heiligenfigur über dem Portal an. Eine Bewegung hinter den Brettern ließ mich zusammenzucken. Ich drehte die Heizung höher und fuhr langsam weiter. Mit unverminderter Stärke heulte der Wind durch die Gassen. Am liebsten hätte ich in meinem Bett gelegen, eingekuschelt unter einer dicken Daunenschicht. Wenn wenigstens das Zimmer frei wäre, dachte ich.
Die letzten Meter musste ich laufen. Ein umgestürzter Telegraphenmast versperrte die Straße. Die dicken Kabel hingen wie Haare über den Asphalt. Sturzbäche schossen an der kleinen, versteckten Kneipe vorbei. Neben mir schien sich ein Fensterladen zu regen. Nur der Wind.
Die stickige, rauchgeschwängerte Luft nahm mir den Atem. Die Wirtin und ihr Mann kümmerten sich rührend um mich. Beide waren über den späten Besuch sehr erfreut. Der Mann half mir mit seinen knochigen Fingern, die eher Ästen denn menschlichen Gliedmaßen glichen, eifrig aus meiner nassen Jacke. Er führte mich an einen Tisch in der Ecke und reichte mir eine Speisekarte. Beim Aufschlagen stellte ich mit Erstaunen fest, dass die Küche sehr reichhaltig und vor allem fleischhaltig war. Vom Cordon-Bleu über das Holzfällersteak war alles vertreten.
Außer mir saßen einige verschlossene Gestalten in einfacher Kleidung an den niedrigen Tischen. Hinter einer Hammondorgel hockte ein junger Mann mit traurigen, tief liegenden Augen. Seinem Schmuck, ein Hundehalsband, konnte ich nichts abgewinnen. Ohne Elan spielte er klassische Schlager in Perfektion. Mir gegenüber saß ein kräftiger, vierschrötiger Kerl, der langsam an seinem Bier nippte und missmutig in einem Salatteller herumstocherte. Sobald ich in die Speisekarte blickte, starrte er mich unverholen an. Nervös rutschte ich unter seinem sezierenden Blick auf der Holzbank umher.
„Nein, Fleischgerichte gibt’s heut leider nicht. Nur Salat.“ antwortete der Wirt auf meine Bestellung und wischte sich die Hände verstohlen an seiner schmutzig-braunen Schürze ab. „Na ja, Salat ist wohl eh gesünder“, erwiderte ich.
Er lachte kurz und trocken. Es klang wie ein Schuss und alle Köpfe drehten sich zu meinem Tisch. Selbst der Mann an der Hammondorgel starrte mich an. Ich drehte mich weg und für den Bruchteil einer Sekunde schien es so, als zische eine schmale, graue Zunge aus seinem Mund. Die Frau brachte den Salat und das Bier und kniff mir mit ihrer kalten Hand mütterlich in die Schulter. Ich beschloss nach dem Essen schlafen zu gehen.
Als ich auf dem gemütlichen Bett meines spartanisch eingerichteten Zimmers lag, fiel die Anspannung des Tages langsam von mir ab. Ich dachte so gut wie nicht mehr an den Bericht, den ich schreiben musste. Die Arbeit lag in weiter Ferne. Eine wohlige Müdigkeit ergriff mich und während ich aus dem verschmierten Fenster die schwarzen Wolken beobachtete, die über den Kirchturm zogen und dem Regen lauschte, driftete ich immer mehr in die Traumwelt hinein.
Ich konnte höchstens eine halbe Stunde geschlafen haben, als eine fürchterliche Übelkeit von mir Besitz ergriff, wie ich sie nur von meiner Medikamentenallergie kannte. Ich sprang auf und rannte aus meinem Zimmer.
„Die Toilette ist ganz am Ende des Ganges“ hörte ich die Wirtin in meiner Erinnerung flöten. Ich hastete entlang der braunen Tapete und einer Vielzahl billiger Sperrholztüren, stieß die Tür zur Toilette auf und übergab mich mehrmals in die, nach Urin stinkende, Kloschüssel. Am Ende des Ganges waren Schritte zu hören. Der Peinlichkeit meiner Situation bewusst stieß ich mit einem Fuß die Tür zu und tastete nach dem Lichtschalter. Die erste Welle der Übelkeit war verflogen. Ich setzte mich leise auf die Klobrille und sah mich um. Rechts von mir befand sich eine Badewanne mit Duschvorhang. Die Schritte kamen näher, eine Tür wurde geöffnet und geschlossen. Ich zog den Duschvorhang zur Seite.
Nichts. Nur rote Schlieren und jede Menge Haare ließen mich an der Hygiene der Wirtschaft zweifeln. Aus dem Nebenraum drangen mechanische Laute und eine unterdrückte Diskussion an mein Ohr. Es ging anscheinend um das Fleisch. Die Leute hier verlangten nach den wenigen Gesprächsfetzen, die ich hören konnte, nach einer reichhaltigeren Speisekarte. Und offensichtlich freuten sie sich über meinen Besuch. Sie machten sich sogar Gedanken, ob ich schon schlafen würde. Dann wurde die Tür wieder aufgestoßen und Schritte entfernten sich, jetzt mit einem schleifenden Geräusch, von der Toilette. An der Treppe hörte man ein Poltern, es wurde geflucht.
Als ich mich wieder einigermaßen gut fühlte, trat ich auf den niedrigen Flur und ging zu meinem Zimmer. Meine Neugierde packte mich. Ich blieb an einer der zahlreichen Türen stehen und lugte durch das Schlüsselloch. In diesem Augenblick setzten sich die Teile einer ungeheuren Geschichte in meinem Kopf zu einem zusammen. Ich wusste, wo ich mich befand.
In dem düsteren, schwarz gestrichenen Raum, nur erleuchtet durch eine flackernde Glühbirne, kauerte eine Gestalt in einem niedrigen Käfig und starrte apathisch auf einen Hundenapf außer Reichweite. Es bestand kein Zweifel. Die arme Kreatur war der junge Mann an der Hammondorgel! Die Treppe hinter mir begann zu quietschen. Die Augen der Kreatur schossen zur Tür. Meine Beine waren wie gelähmt. Ich konnte nicht aufstehen, mein ganzer Körper brannte und mein Magen rebellierte. Die Schritte kamen näher, fast waren sie da. Fluchen, schnelle Schritte die Treppe herunter. Ich schlug mir mit der flachen Hand kräftig ins Gesicht, sprang endlich auf und hastete zu meinem Zimmer. Ich schloss meine Tür und übergab erneut mich auf die geblümte Bettdecke. Die Schritte waren jetzt wieder zu hören. Stöhnend und ohne Kraft lies ich mich auf den grauen Teppichboden gleiten. Eine Person stand vor dem Zimmer, ihr Schnaufen pochte in meinen Schläfen. Das kratzende Geräusch eines Schlüssels drang schmerzhaft an mein Ohr. Er wurde umgedreht. Die Schritte entfernten sich. Ich war gefangen.
Mein Atem schlug sich auf der verschmierten Fensterscheibe als grauer Fleck nieder. Wie viele verzweifelte Menschen hatten schon vor mir an dem fest verriegelten Fenster gestanden, unfähig ihr Schicksal zu begreifen, und wie viele würden hier noch stehen? Ich starrte auf den spärlich beleuchteten Kirchturm und das Dorf. Die Glocken begannen zu schlagen. Wie zu einem Gottesdienst dröhnte das satte Läuten durch die dunklen Gassen. Eine Unruhe war zu spüren. Die Häuser erwachten zum Leben, Lichter gingen an, Türen wurden aufgestoßen. Die Menschen strömten aus. Ihr Ziel war die Kneipe.
Ich knie an meinem Nachtkästchen und schreibe diesen Text, in der Hoffnung, anderen das zu ersparen, was mir bevorsteht. Vor meinem Fenster stehen Familien mit ihren Kindern in bierseliger Feststimmung. Sie freuen sich auf den Höhepunkt der Feierlichkeiten: Auf mich. Die Flucht ist unmöglich. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, mit dem Waschbecken und der Nachttischlampe dem Spuk ein Ende zu machen und mir das Schlimmste zu ersparen. Es kommen Schritte die Treppe herauf. Es sind zwei Frauen. Jetzt herrscht sie einer an. Er klingt groß und kräftig. “Hinten anstellen“, befiehlt er. Sie kratzen an meiner Tür. Ich muss aufhören. Wenn Sie das hier finden, laufen Sie. Sofort. Es bleibt keine Zeit.
© Olafson, 25.08.03