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Zimmer 436
Daniel Schmidt führte ein gewöhnliches Leben. Noch nie war ihm etwas Nennenswertes widerfahren, noch hatte er etwas getan, dem andere interessiert zuhören würden. Nachdem er seinen Schulabschluss hatte, immer noch ohne zu wissen was seine Träume waren, wanderte er ziellos durch das Leben. Er nahm hier und da Jobs als Tellerwäscher, Eisverkäufer oder Kellner an, und akzeptierte, dass es sein ganzes Leben so sein würde, ohne jeglichen Zweck, nur geboren sein um zu dienen. Nach mehreren Jahren der Verzweiflung bat ihm einer seiner Verwandten eine Stelle als Rezeptionist in einem kleinen Hotel an, und da Daniel zu diesem Zeitpunkt schon 25 Jahre alt war und immer noch nichts mit sich anzufangen wusste, sagte er ja.
5 Jahre später arbeitete Daniel immer noch in diesem gewöhnlichen Hotel, mit gewöhnlichen Arbeitszeiten, gewöhnliche Kleidung tragend, einen gewöhnlichen Gehalt bekommend, ein gewöhnliches und langweiliges Leben führend, und er fühlte sich immer noch nicht wohl. Nun übte er schon 5 Jahre einen Beruf aus, den er selber nicht einmal mochte. Die ganze Zeit über hatte er diesen Wunsch, diesen Traum, alles stehen und liegen zu lassen, dem Hotel Lebewohl zu sagen und einfach von diesem eintönigen und langweiligen Leben wegzulaufen. Er wollte gerne in eine exotische Stadt gehen, dort vielleicht ein eigenes kleines Büro gründen und Reiseführer werden. Andere Menschen aus anderen Kulturen kennenlernen. Er wollte einfach weg aus diesem Hotel und anfangen, sein Leben zu leben und nicht wie eine Plane im Wind zu treiben, ohne zu wissen aus welcher Richtung der Wind kam. Doch er tat es nicht. Er hatte Angst, dass es nicht klappen würde, dass er nicht talentiert genug wäre etwas alleine auf die Beine zu stellen. Je länger er in diesem einem Hotel arbeitete, desto trister und langweiliger kam ihm sein Leben vor. Es schien als würde das Hotel die ganze Farbe aus der Welt ziehen, bis nur noch eine graue, trostlose Einöde zurückbleiben würde, in der niemand mehr leben möchte. Und so kann man die ersten 30 Jahre des Daniel Schmidts beschreiben, trostlos und langweilig, keine einzige Chance wurde genutzt. Im Hotel kamen und gingen die Leute, buchten ein Zimmer und verließen es wieder, einer nach dem anderen. Daniel interessierte es nicht mehr. Seine tägliche Motivation war die, dass er abends auf dem Sofa in seinem gewöhnlichem und schäbigen Apartment zusammensinken und den Fernseher anschalten würde, nur um für ein paar Stunden in eine Scheinwelt zu fliehen, in der alles besser war. Würde man Daniel fragen, wer der Letzte Kunde war, der ein Zimmer gebucht hatte, er würde es nicht wissen. Aber da ihn sowieso niemand fragte, interessierte es ihn auch nicht.
Bis sie das Hotel betrat. Sie trug ein violettes Kleid unter ihrem Mantel, ihre schwarzen Haare waren vom Wind zerzaust. Daniel hatte noch nie ein so schönes Schwarz gesehen, es war ganz anders als das leblose Schwarz der Welt, in der Daniel gefangen war. Er konnte seinen Blick erst von der Frau abwenden, als sie direkt vor ihm stand. „Guten Abend, wie kann ich ihnen weiterhelfen?“, fragte Daniel mit einer Monotonie in der Stimme, die er sich über die Jahre hinweg angeeignet hatte. „Ich bräuchte ein Zimmer, nur eine Nacht, bitte.“ antwortete die Frau mit einem Lächeln, das Daniel so noch nie gesehen hatte. Er hätte die Frau gerne nach ihrem Namen gefragt, warum sie hier diese Stadt besuchte, doch alles was er herausbrachte war: „Aber gerne, Zimmer 436 wäre noch frei.“ Mit diesen Worten griff er hinter sich und überreichte der Frau einen kleinen Schlüssel mit der verrosteten Gravur „436“. Er hörte noch nicht einmal, wie die Frau sich bedankte, zu faszinierend fand er die Gestalt vor ihm. Er bewunderte ihre Art zu gehen, wurde bei dem Klang ihrer Stimme glücklich. Zu gerne hätte er sie angesprochen, doch ehe er sich versah, verschwand sie auch schon im Treppenhaus. „Morgen spreche ich sie an“, sagte er sich, „Morgen spreche ich sie an und lade sie zum Essen ein. Vielleicht der Mexikaner nebenan? Oder doch lieber der Italiener? Wir werden sehen.“ Und mit diesem Gedanken im Hinterkopf erledigte er den Rest seiner Arbeit. Eigentlich wollte er heute früher Feierabend machen, um ja nicht die neuesten Folgen seiner Lieblingsserie „Tasty Tomato“ zu verpassen, doch heute meldete er sich freiwillig für den Putzdienst an, den sein Hotel aus geldlichen Gründen nicht aus fest angestellten Putzmännern und –frauen zusammenstellen konnte. Er hasste den Putzdienst. Immer wenn sein Chef zweimal im Monat zu ihm kam und sagte „Daniel, der Besen steht dort hinten, Sie sind heute Abend dran mit putzen!“, fluchte er vor sich hin und wusste, dass er heute kein „Tasty Tomato“ gucken würde. Doch nicht heute. Jede Stunde die er mit dieser wunderbaren Frau im gleichen Gebäude verbringen konnte, war eine gute Stunde, und so trug er sich vor den verwunderten Augen seines Chefs in die Liste ein, schnappte sich den Besen und putzte das Hotel, in der Hoffnung, dass sie rein zufällig gerade aus ihrem Zimmer kommen würde. Leider war dies nicht der Fall, weshalb Daniel zurück in sein kleines gewöhnliches Apartment fuhr, sich die letzten zehn Minuten von „Tasty Tomato“ anschaute und später einnickte.
Am nächsten Morgen stand er zum ersten Mal in seinem Leben mit der Aussicht auf etwas Schönes auf, endlich würde er das wunderschöne violette Kleid mit dessen noch wunderschöneren Besitzerin wiedersehen. Heute, und davon war er überzeugt, würde er sie ansprechen. Mit etwas Verspätung kam er ihm Hotel an, doch da um diese Uhrzeit sowieso noch nichts im Hotel los war, bemerkte sein Chef ihn nicht. Er stellt sich hinter die Theke und wartete darauf, dass sich die endlosen Stunden endlich verziehen würden, dass er sie endlich wiedersehen könnte. Und das tat er auch: Heute trug sie einen schlichten Wollpullover, ihr Haar war genauso schön wie am vorherigen Abend. Die Frau und Daniel tauschten ein paar Höflichkeiten aus, ob sie auch wirklich gut geschlafen hatte und ob sie auch zufrieden mit dem Service war. Die ganze Zeit über hatte Daniel das Bedürfnis, sie nach einer Verabredung zu fragen. Sie war schon dabei, den Schlüssel aus ihrer Tasche zu kramen, doch Daniel stand immer noch zögernd hinter dem Tresen. Dann ging alles ganz schnell. Sie verabschiedeten sich formell voneinander und sie schritt auf den Ausgang zu. „Jetzt oder nie!“, schrie Daniel sich selbst innerlich an, „sprich sie an!“ Doch er sprach sie nicht an. Sie öffnete die Tür, verließ das Hotel und wie in Zeitlupe fiel die Tür ins Schloss. Und mit einem mal war es, als würde die ganze Farbe, die seit der Begegnung mit dieser Frau wieder in die Welt zurückgekehrt war, sich wieder zurück ziehen, Stück für Stück, bis Daniel wieder in diesem Grau stand, weit und breit kein Farbfleck, nirgends das wundervolle Violett des Kleides, nirgendwo das leuchtende Schwarz ihrer Haare. Daniel war zurück in seinem langweiligen Alltag, zurück in der Realität, zurück im Nirgendwo. Die Tür wurde geschlossen, und Daniel fühlte sich, als würde sie sich nie wieder für ihn öffnen.