- Beitritt
- 15.03.2008
- Beiträge
- 858
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Zigeunerkind
Mein Vater, sagte sie, sei zu Zeiten der Sowjetbesatzung ein kleiner Junge gewesen. Die Soldaten hätten damals aus unerfindlichen Gründen gefährliches Zeug verschenkt, zum Beispiel einen explodierenden Kugelschreiber. Mit Sprengstoff gefüllte Gebrauchsgegenstände, das müsse man sich mal vorstellen. Die Kinder wären bald gewarnt gewesen - und damals wurden solche Warnungen ernst genommen, in unglücklichen Zeiten fordern nur Dummköpfe das Glück heraus. Niemand habe gewusst, warum die Russkis tödlichen Krams an Kinder verschenkten, aber es war auch keine Zeit der Fragen damals, in diesen Tagen. Kommunisten, Rote, die waren nur eine kleine Zeit da, in der abgelegenen Gegend in Transsilvanien, wo ihre Eltern lebten und leben. Nach ein paar extrem harten Wintermonaten seien sie abgezogen. Diese vielleicht hundert Tage hätten jedoch gereicht, um die Gegend zu verminen. Ein paar wenige Tellerminen, einige explodierende Kugelschreiber mehr.
Eines Tages war ihr Vater unterwegs mit anderen Kindern, um Brennholz zu holen. Es hatte tagelang geschneit und weiß war das Land, der Schnee bedeckte alles wie ein Tischtuch, ließ nur die Silhouetten erahnen. Umrisse von alten Bäumen und Vertiefungen auf den wenigen Pfaden, die als sicher galten. Der älteste Junge ihrer Gruppe habe den kleinen Expeditionstreck angeführt, Joseph habe ihr Führer geheißen. Den Namen erzähle ihr Vater stets mit, als wäre das wichtig, weiß der Teufel warum.
In Josephs Fußabdrücken stapfte das zweite Kind, das Dritte in den Füßen des Zweiten und so weiter. Der Marsch der Gänsekinder als Vorsichtsmaßnahme, um nicht von einer Mine erwischt zu werden. Von Joseph wurde geglaubt, der erkenne die minenfreien Wege auch unter einer Schneeschicht. So was kann stimmen oder nicht. Er orientierte sich an den markierten Bäumen entlang des Weges. Joseph war mit seinen dreizehn Jahren doppelt so alt wie die meisten und wog um einiges mehr. Wenn sein Gewicht keine Mine auslöste, habe man gehofft, es geben keine Gefahr für die hinter ihm Gehenden. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich aufmachten zu einer Holzexpedition, und bis zu diesem Tag sei immer alles gut gegangen.
An dem Tag habe sich Adis Vater jedoch im Schritt vertan, sich in den eigenen Gliedmaßen verheddert oder sei mithilfe einer Konzentrationslücke über eine Luftwurzel oder eine Wurzel aus Luft gestolpert. „Ach! Gören taugen nun mal nicht zum Gleichschritt“, lachte ihr Vater, als Adi fragte, was ihn damals zu Fall gebracht hätte. Seine Freunde, andere sieben Jahre alte Jungs, erwischte es jedenfalls nicht. Ihr Vater als Kind sei es gewesen, erzählte Adi, der fiel und eine Mine auslöste. Und diese Mine riss seinen linken Unterschenkel weg, zertrümmerte Knochen, zerstörte das Fleisch, ließ ihn schreien und heulen und raubte ihm die Mobilität.
Ihr Vater habe sich später ein Holzbein getischlert, geschreinert oder zurechtgeschnitzt. Was wisse sie schon davon, ihr Vater könne das sicherlich besser erklären, aber wie die Dinge lägen, würden wir ihn nicht kennen lernen und müssten mit Adis Version der Geschichte vorlieb nehmen, wenn wir wollten. „Wollt ihr überhaupt mehr hören?“, fragte sie listig und Tristan war froh, dass Macky schnell ja sagte - er kann solche Fragen nicht leiden und zog eine Fresse, als habe man ihm gammliges Fleisch angeboten. Um sich abzulenken und sein Gesicht kein offenes Buch mehr sein zu lassen, überlegte er, wo Adi ihr Deutsch gelernt haben könnte.
Sie benutzte mit Vorliebe solche etwas angestaubt wirkenden Formulierungen wie beispielsweise vorlieb nehmen oder Vorliebe. Es gab bedrohte Wörter, die Tristan nicht vermissen würde. Weiß Stalin oder Ceaucescu, woher sie die hatte, mit welchen Büchern sie ihre Schuldeutschkenntnisse erweiterte und vertiefte. Vielleicht Übersetzungen aus den frühen Fünfzigern? Als ein paar überlebende Intellektuelle sich dranmachten, für ein undichtes Mietdach über dem Kopf und ihr Schwarzbrot die Bücher von Ferenc Molnar und Sandor Marai aus dem Ungarischen ins Deutsche zu übersetzen. War nicht auch Cioran ein Ungar? Adi erklärte jedenfalls ihre Vorliebe für die ungarische Literatur dieses untergegangenen Zeitalters. Obwohl sie eine Rumänin war, was sprachlich unendlich weit vom Ungarischen entfernt sei, wie sie erklärte. Auf Tristans Frage, ob sie das auf Regeln und Konventionen bezöge oder eher auf das Sagbare, verzog sie unwillig die Mundwinkel. Da merkte sogar Tristan, hier sollte eine Geschichte erzählt werden, und nahm sich vor, weniger zu reden, mehr zu hören.
Als ihr Vater ein junger Mann im jungen kommunistischen Rumänien war und es Zeit wurde, ihm eine Planstelle zuzuweisen, habe er darum gebeten, Tischler werden zu dürfen. Sein Talent für Holzarbeiten hätte er da bereits unter Beweis gestellt, außerdem könne man da viele Arbeiten sitzend erledigen. Aber das sei ihm nicht erlaubt worden. Vielmehr habe man ihm ohne weitere Begründung eine Stelle in der örtlichen Fabrik zugewiesen, wo er den ganzen Tag habe stehen und hart arbeiten müssen. Eine grausame Entscheidung, wie Adi entschied, eine rätselhafte und grausame Entscheidung!
Schließlich seien die Talente ihres Vaters in der Holzverarbeitung unübersehbar gewesen, also wäre das die Stelle gewesen, wo ihn die Apparatschiks am effektivsten hätten ausbeuten können. Aber nein, es musste die Fabrik sein! Wo er genau so viel und genauso wenig machen konnte wie irgendein Dummkopf. Wo Menschen damals nicht viel mehr waren, als organische Maschinen mit Armen. Bio-Maschinen, die einem Halbfertigprodukt ein weiteres Bauteil zufügten. Keine inspirierende Tätigkeit, habe ihr Vater zugegeben. Aber die meditative Mechanik von genau definierten und immer wiederholten Bewegungen hätten ihn vom Schmerz im Beinstumpf abgelenkt, wie ihr Vater milde erwiderte, wenn Adi sich als junges Mädchen über die Dämlichkeit und Unnötigkeit seiner Arbeit aufregte.
Ach Arbeit, ein Urteil. Urteil, Unheil! Wie sie sich auszudrücken pflegte, ein Urteil, das er sich verdient habe für die Existenz im Rumänien dieser Zeit. Das noch ein ganzes Stück ärmer und härter gewesen sei als das heutige Rumänien, was für den Ortskundigen sicherlich schwer vorstellbar aber nichtsdestoweniger wahr sei und auf der Skala nach unten nicht mehr viel offen gelassen habe. „Grausamkeit!“, rief die jugendliche Adi. Aber ihr Vater habe nur milde gelächelt und mit friedfertigen Worten eine Entscheidung in Schutz genommen, unter der er sein Berufsleben lang litt. Er hätte doch leiden müssen, es sei ganz unvorstellbar, dass er nicht gelitten hätte; manchmal erwischte sie das seltsame Gefühl, mehr unter seiner Arbeit gelitten zu haben, als er selbst.
Heute sehe sie das anders, meinte Adi, und ihr energetisches Gesicht umwölkte sich kurz. Das damalige Regime zu kritisieren habe schnell tödlich enden können. Fast alle Familien hätten einen Blutsverwandten an den rumänischen Geheimdienst verloren. Sicherlich sei in ihrer kleinen Familie kein Spitzel gewesen. Und so wie sie lebten, weit weg, weit draußen auf dem transsilvanischen Hinterland: Arme Leute, eine Bäuerin und ihr Krüppel mit zwei Töchtern: Niemand habe sich für ihre Familie interessiert. Auch das kann ein kleines Glück bedeuten.
Doch egal wie klein und unbedeutend einer gewesen sei - wenn die falschen Worte an die richtigen Zuträger gerieten, wäre auch der letzte Hansel aus der Walachei interessant geworden. Exempel seien stets zu statuieren! Außerdem gibt es für jeden Spitzeldienst einen Judaslohn. Nicht mehr als ein Bakschisch, aber lange Armut lässt kleines Bakschisch größer aussehen.
Außerdem glaube sie mittlerweile, Menschen unter der Herrschaft des Terrors erlägen schneller dem Irrglauben, sie könnten sich etwas Sicherheit erkaufen, wenn sie zur Unsicherheit der Anderen beitrügen. Indem sie ihre Verwandten, Freunde und Kollegen ans Messer lieferten. Es sei eine diffuse Atmosphäre der Angst gewesen, die viele Köpfe krank machte, Herzen vergiftete und Gemeinschaften auseinander trieb. Bei ihnen sei das anders gewesen, in ihrer Familie habe es weder Verräter noch Zigeuner gegeben.
Ihr Vater habe gewusst, dass es nur einen wirksamen Schutz gebe, ohne den Nächsten zu verraten. Man müsse ein Niemand sein, ein Wesen, das mit Tapeten verschmelzen kann, dessen Worte den parteilichen Strom nicht verließen, denn dort lauerte Gefangenschaft, Folter, Tod. Man müsse ein Nemo sein.
Ein Nemo, dem die warmen Worte für die rot angezogene Diktatur flüssig über die Lippen gingen, wenn einer früge, und zwar ohne Zeitverzögerung. Reden als habe man nur darauf gewartet, dass einer fragt und freue sich, endlich sein Herz öffnen zu können, auf dass all die Liebe für den Diktator und obersten Folterer hinausfließen könne. Sie wisse nicht, wie ihr Vater das all die Jahrzehnte durchgehalten habe, ohne verrückt zu werden und mittlerweile traue sie sich nicht mehr, zu fragen. Es habe Ewigkeiten gedauert, bis sie dieses rätselhafte Verhalten seinerseits verstanden habe.
Ein Verhalten, das sie in ihrer Jugend so sehr aufgeregt habe, diese Verteidigung der offensichtlichsten Dummheit, Grausamkeit und Bösartigkeit! Unter der in ihrer Familie niemand mehr zu leiden gehabt hätte, als er selbst. Vor einem Jahrzehnt dann sei es ihr aufgegangen, als sie schon längst in Österreich arbeitete. Nachdem sie es jahrelang in einer verstaubten Kiste verstaut hatte, in einer dunklen Ecke der Rumpelkammer die das Gedächtnis ist. Bei einem Gespräch mit einem alten Patienten, der wie sie im kommunistischen Rumänien gelebt habe. Freilich sei der deutlich älter als sie gewesen, und habe folglich mehr gewusst von den Notwendigkeiten des Überlebens.
In diesem Gespräch sei Erkenntnis wie ein Blitz in ihr Leben eingeschlagen und habe den Raum erhellt. Warum Vater die größte Grausamkeit seines Lebens immer mit dem mildesten Lächeln beantwortete.
Mittlerweile waren es nur noch wenige Kilometer bis nach Budapest. Adi entschuldigte sich für die Abschweifung. Ihre Stimme hatte merklich ihren Klang verändert, war tiefer, dunkler geworden. Manchmal dauerte es etwas länger, bevor sie weitererzählte und es wirkte, als wäre sie unmerklich aus dem Fahrwasser oft erzählter Geschichten in ein gefährlicheres Gewässer geraten. Als segele sie auf unbekannten Wegen, die höchste Konzentration erforderten, um den Rumpf nicht am Riff aufzureißen. Doch dafür war möglicherweise Neuland am Horizont.
Was sie eigentlich habe erzählen wollen, begann Adi nach einer Pause, die ungefähr eine Jahreszeit lang dauerte. Sie hatte bisher noch keine zwei Sekunden geschwiegen, seit Tristan und Macky in ihr Auto eingestiegen waren.
Eigentlich habe sie erzählen wollen, erzählte Adi, dass ihr Vater nach vielen Jahren des Arbeitens und Sparens und der mehrjährigen Wartezeit endlich das Kunststück fertig gebracht hatte, einen Trabant zu kaufen. Damals sei das Benzin sehr teuer und rar gewesen. Allerdings hätte er über einen Verteilungsschlüssel zwanzig Liter monatlich zugewiesen bekommen. Vielleicht weil er Teilinvalide war, möglicherweise weil der Weg zur Fabrik nicht gerade kurz war, sie wisse es nicht. Bei genauerem Hinsehen sei diese unerwartete Zuwendung ähnlich absurd wie der Fluch seines Lebensberufes. Sie keuchte, Tristan sah Muskeln zucken in ihrem Gesicht, Spasmen liefen über ihre offenen Züge, sie verkrampfte in Wut und Trauer, namenlosem Hass. Tristan schaute schnell weg, obwohl das enorm interessant war. Aber er wusste von sich, wie er hasste, wenn Menschen ihn in Momenten der Schwäche und Hilflosigkeit erleben und nichts weiter tun als kucken. Wie oft, wenn er sich zur Ablenkung zwang, kamen die Worte von selbst, spielten ihre Melodie zu den Bildern des Tages. Durch dein rotes Haar Adriana leuchtet die morgendliche Sonne so träumerisch so romantisch so natürlich dank sei dem Smog großen Städten schlechten Katalysatoren und deinen roten Haaren Adriana, Adriana. Adriana angelte nach einer Zigarette, kurbelte das Fenster runter, steckte sich eine an. Tristan roch, in diesem Automobil wird normalerweise nicht geraucht. „Weiter geht’s“, sagte Adi.
Die monatliche Benzinzuteilung hätte ihr Vater in den Wintermonaten eisern gespart und sei zu Fuß zur Arbeit gehumpelt. Trotz des schmerzenden Stumpfes und eines zunehmenden Knieleidens, das es auf Arbeit umsonst gab. Jahrzehntelange einseitige Belastung in dieser entfremdeten Sklavenwirtschaft, die ihr Vater hartnäckig Beruf nennen wollte und will.
In den Sommermonaten wäre das aufgesparte Benzin auf den Kopf gehauen worden. Sobald es warm genug gewesen sei, wäre die Familie und alle Schwimmsachen, die man sich habe anschaffen und ausleihen können, mit einem oder zwei Nachbarskindern, in den Trabant gestopft worden und alle seien zum Wasser gefahren. So sei ihr Papa gewesen, das war ein Mensch, mehr müsse man doch über eine Person gar nicht wissen.
Er lebe immer noch mit seiner Frau, ihrer Mama, in dem rumänischen Dorf, wo er vor bald siebzig Jahren seinen Unterschenkel an eine sowjetische Spielzeugmine verlor. In einem alten Haus, dessen Ofen und Brunnen hervorragend seien, und wo die beiden mittlerweile bis zu drei Stunden Strom am Tag hätten. Tristan quatschte wieder dazwischen, erzählte von Freunden auf La Gomera, Ikaria und in der Karibik. Von Menschen die ähnlich lebten, in ihren Barrancas, selbstgebauten Häusern und Wohnhöhlen.
Adi wischte seine Bemerkung beiseite. Das möge ja sein, aber sie erzähle nicht von Aussteigerromantik – so leben Rumänen in ländlichen Gebieten noch heute, meinte sie, das sei alles, aber niemand habe sich das ausgesucht, Zufall der Geburt, eh? Das ist nur eine schlichte und harte Wahrheit, die sich Tag für Tag durch die Mühen der Menschen selbst erneuert. Vor allem die Alten kennten Zeit ihres Lebens keine andere Existenzform und hielten daran fest, bis sie stürben.
Sie überlegte. Wobei Fernheizung und Wasseranschluss freilich nicht aus einer Entscheidung reiner Willenskraft heraus entstünden, auch nicht in Transsilvanien. Adi lachte und zwinkerte, ohne jemand zu adressieren. Tristan wurde es warm.
Wer weiß, sagte Adi, wahrscheinlich hätten sie nichts gegen fließend Wasser und eine Wärme, die in der Ferne hergestellt wird und die Hütte im rumänischen Winter beheizt. „Eigentlich sind sie aufgeschlossen, ihre Herzen jung geblieben. In der Kühltruhe, die hinten bei Macky steht, sind Garnelen und Schrimps. Mama liebt Schrimps, diese zwergigen Meeresfrüchte mit den niedlichen Arschlöchern. Papa puhlt und isst sehr gern Garnelen, aber in Rumänien kosten die ein Vermögen. Deswegen gibt’s die nur, wenn ich sie mitbringe!“
Sie sprachen über einen geeigneten Ort, wo sie die beiden rausschmeißen könne. Tristan sagte, sie solle sich keine Umstände machen und die beiden einfach dort rauswerfen, wo es günstig sei für sie, worauf Adi erwiderte, das hätte sie nicht anders vor, natürlich denke sie zuerst an sich, darum müsse er sich keine Sorgen machen. Die Luft im Wagen knackte vor Trockenheit bei ihren Worten, ihre Stimme gewann den anfänglichen Schwung und die Sicherheit zurück, die ihr mit dem halben Bein des Vaters unterwegs verloren gingen. Tristan spürte ein Kribbeln entlang der Wirbelsäule, als hätte er selbst die Haltung wieder gewonnen.
Dann ging alles schnell. Sie hielten auf einem Rastplatz, der durch Tristans deutsche Linsen betrachtet unglaublich liederlich und verwahrlost wirkte. Adi winkte ihnen ein letztes Mal und fuhr weiter.