Zigarettenpause
Der Balkon kam Innocent wie ein Boot auf hoher See vor. Der Boden schien unter seinen Socken zu schwanken. Der Regen fiel und wollte nicht aufhören und wollte die Nacht tränken, sie ersticken, überschwemmen. Mehr Regen als was vor seinen Augen auf die Strasse fiel, sollte es nicht geben, nie, nie mehr, nicht nachdem Gott die Sintflut zurückgenommen hatte. Innocent erinnerte sich an den Pastor, der ihm die Geschichte mit der Arche und den Tieren erzählt hatte. Er hatte beim Sprechen immer gespuckt. Seine Mutter hatte ihn jeweils zu Weihnachten zum Essen eingeladen. Im Sonntagsstaat, wie es die Mutter zu nennen pflegte, sassen die Kinder am Boden und die Erwachsenen auf den Plastikhüllen der Sofas. Die Mutter zerdrückte die Tomaten mit der Gabel und lachte zu viel, sodass der Vater den Fernseher einschaltete.
Mit klammen Fingern zündete Innocent sich eine Zigarette an. Es wehte ein warmfeuchter Wind, vielleicht aus der Sahara. Es fiel Innocent schwer zu glauben, dass es irgendwo eine Wüste geben sollte. Die Schiebetür hinter ihm ging auf, aber er wandte sich nicht um.
“Und was denkst du bis jetzt?”, fragte Melina. In der Küche kommentierten ihre Eltern das Tischtuch. Innocent konnte sie nicht sehen, aber ihre gedämpften Stimmen hören. Er lächelte Melina von der Seite her an, nickte und blies den Rauch an ihr vorbei in die Nacht. Sie rümpfte die Nase.
“Willst du schon mal das Dessert aus dem Kühlschrank holen?”, fragte er. Er hatte am Nachmittag Quittenwähe gebacken. Sie schmeckte sicher nicht schlecht, aber er würde nie mit helvetischer Begeisterung von Quitten schwärmen können. Melina stand etwas unbeholfen hinter ihm. Sie erwartete eine Antwort auf ihre ursprüngliche Frage. Steif, fast schon förmlich trat sie an ihn heran. Sie legte die Arme um ihn und ruhte ihre Stirn gegen seinen Rücken.
“Danke”, murmelte sie in die Mulde zwischen seinen Schulterblättern. Er begann wieder zu nicken. Ein leises Unbehagen, ein wenig wie ein Räuspern, ein Niesen, ein Reiz, für den er keinen Namen kannte, breitete sich in seinem Körper aus, angefangen da, wo Melinas Nasenspitze sich in sein Hemd bohrte. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte ihn losgelassen.
Er wandte sich ihr zu und wusste, dass ihr dabei unweigerlich der Rauch ins Gesicht wehen musste und sie vor ihm zurückweichen würde. Sie tat einige Schritte zur Seite, um neben ihm am Geländer zu stehen. Das Geländer kam ihm vor wie eine Reling, zwei Kapitäne am Bug ihres Schiffes. Der Wind wehte Melina die Haare ins Gesicht und Regentropfen rollten ihr über die Brillengläser.
“Meine Eltern sind froh, dich endlich kennenzulernen.”
“Wussten sie eigentlich, dass ich schwarz bin?”, fragte er und hob provozierend einen Mundwinkel. Empört sah Melina zu ihm und seiner Zigarette auf. Sie kämpfte gegen den Impuls an, ihn auf die Zigarette zu küssen, ihm die Glut mit der Zunge in den Rachen zu würgen, ihm die Gurgel zu verbrennen, damit ihm das boshafte Grinsen vergehen möge. Wenn er sie so ansah, war er ihr schon immer unheimlich gewesen, schon als sie ihn das allererste Mal getroffen hatte.
Innocent erinnerte sich nicht daran, wie er Melina kennengelernt hatte. Oft kam es ihm vor, als sei seine früheste Erinnerung an sie kaum ein paar Tage alt. Es war eine Erinnerung daran, wie sie seinen Kopf aus ihrer Armbeuge schob, um zur Arbeit zu gehen, wie sie nichts zurückliess als den seifigen Geruch ihrer Haut. Seit Monaten schon, das wusste er, ging es so. Ihre Seifenhaut war ihm vertraut wie eine Kindheitserinnerung. Es war ihm, als ob sie schon immer dagewesen wäre; sie und ihre Brille und die Nase darunter.
Melina zog die Brille aus, um sie an ihrer Bluse abzuwischen. Der Stoff verrutschte dabei und gab ihr Dekolleté preis. Innocent sah nicht hin, sondern weiter in den Regen hinaus. Er ertrug nicht, wie gross ihre Augen ohne Brille wurden. Sie hatten etwas Trauriges, Flehendes und zugleich Viehisches an sich, ein Tier, eine Kuh, ein Reh. An alles hatte er sich gewöhnt, aber ihrem nackten Blick konnte er nicht begegnen.
“Papa mag dich”, sagte Melina trotzig, als hätte Innocent das Gegenteil behauptet. Er nickte und wartete darauf, dass sie weitersprach, weil sie immer weitersprach. Dieses Mal liess sie sich Zeit. Sie senkte den Kopf und zupfte an den Geranien in einem der Blumenkästen herum. Sie waren von einem Vormieter an der Aussenseite des Balkons angebracht worden.
”Er hat gesagt: Dieser Mann ist wirklich sehr verliebt.”
Innocent lächelte wohlwollend. Er klopfte sich innerlich auf die Schulter für die Suppe, die er zu diesem Anlass zubereitet hatte. Seine Mutter hatte ihn am Telefon angeleitet und ihn dabei ermahnt, nicht so viel Gewürz wie üblich zu verwenden. Mit der Suppe seiner Mutter wollte er Melinas Eltern beeindrucken. Was sie von ihm dachten, war ihm auf geradezu irrwitzige Weise wichtig. Er fühlte sich wie ein Botschafter, nie nur er selber, immer trug er einen ganzen Kontinent auf den Schultern.
Mit seinen eigenen Eltern redete er ungern über Melina. Sie gehörte nicht in dieselbe Welt, in die Welt seiner Eltern, in die Welt seiner Kindheit. Es behagte ihm nicht, wenn seine Eltern von den süssen Babys redeten, die er und Melina angeblich haben würden.
“Du hast mir versprochen, mit mir an den See zu fahren,” sagte sie. Also erinnerte der Balkon auch sie an ein Boot. Ihre Hände klammerten sich ans Geländer, als fürchtete sie über Bord gespült zu werden. Innocent sah sie und ihre hervortretenden Fingerknöchel verblüfft an. Nasse Erde klebte an ihren Händen.
Sie hatte seine Geranien völlig zerpflückt. Die roten Blätter lagen im Blumenkasten verstreut und er wollte sich darüber aufregen und hätte es auch getan, wenn sie nicht so seltsam ins Leere gestarrt hätte. Ihre Augen sahen in eine Ferne, in die er ihr nicht zu folgen wagte.
In der Küche schob jemand einen Stuhl zurück; es war Melinas Mutter, die zur Toilette musste. Die Zigarettenpause dauerte schon zu lange und Innocent wurde langsam ungeduldig.
“Ach Prinzessin, wir fahren bald zum See”, er griff nach ihrem Arm, “aber jetzt sollten wir reingehen.”
Melina versteifte sich. Hühnerhaut überzog ihre Arme, aber sie zitterte nicht. Ungerührt liess sie den Wind gegen ihre Wangen branden. “Melina, komm jetzt”, versuchte er es erneut. Ihre Eltern mussten sich schon wundern, was sie hier draussen trieben.
Sie sah ihn an ohne zu antworten, ihre Augen wirkten fast mehlig. Sie erinnerten ihn an die Quitten, die er am Nachmittag aufgeschnitten hatte. Langsam zog sie sich aufs Balkongeländer und blieb dort sitzen.
"Der See ist nicht mal so weit weg", sagte sie und sah dabei in den Regen hinaus.
Er trat zu ihr, ohne dass sie sich rührte. Mehr aus Pflichtgefühl als aus Zuwendung zog er sie in eine Umarmung. Wenn sie so auf dem Geländer sass, waren sie auf Augenhöhe, nur ihre Füsse baumelten über dem Boden. Sie gab nicht nach, schwer und glitschig wog sie in seinen Armen. Sie weinte nicht, aber es wäre ihm irgendwie lieber gewesen, sie hätte es getan. Er flüsterte in ihr Ohr: ”Ich habe dich doch so gerne.”
Sie nickte und liess den Regen auf sich niederprasseln. Es erstaunte ihn, dass ihre Seifenhaut nicht zu schäumen begann. Dass sie sich nicht auflöste. Er drückte sie fester an sich, wie um seine Worte zu unterstreichen. Auf einmal überwältigte ihn eine schreckliche Angst, eine Angst, die sich anfühlte wie eine Sehnsucht, eine Angst, die ihm den Brustkorb zuschnürte. Es war nicht die Liebe, die blind machte, sondern die Angst, blinde, kopflose Angst, nichts anderes als japsende, ertrinkende Angst. Er vergrub sein Gesicht in Melinas Haaren, die nach seinem Shampoo rochen. Seine Zigarette fiel auf den teilnahmslosen Beton und erlosch.
Näher wollte er ihr sein, noch näher, so nahe, dass alles endlich gut würde. So nahe, dass er nicht mehr allein sein musste, nicht mehr fremd, sodass sie zusammengehören konnten. So nahe, dass er ihre Augen nicht mehr sehen musste. Sie begann sich in seinen Armen zu winden.
Gerne hätte er ihr gesagt, dass er ohne ihre Armbeuge nicht einschlafen konnte, selbst wenn er den Verdacht hegte, es könnte eine Lüge sein. Es musste eine Zeit vor Melina gegeben haben, eine Kopfkissenzeit, eine Einmannzeit, eine Trockenzeit. Auch in dieser Zeit musste er geschlafen haben. Er konnte sich nicht daran erinnern und das war ein bisschen wie Liebe.
Er wusste nicht, ob er es laut sagte oder stumm zu sich selber: Ich will dich festhalten, damit du nicht weggehst. Er wusste nicht, wofür er sie hielt, nur dass er sie ewig so weiter halten wollte. Wie ein Schiffsbrüchiger klammerte er sich an sie und Melina wäre es lieber gewesen, er hätte sie losgelassen.
Sie bekam keine Luft und wand sich röchelnd in seinen Armen. Mit aller Kraft stiess sie ihm den Ellbogen in den Bauch, um sich aus seinem Griff zu befreien. Reflexartig liess Innocent von ihr ab, sank in die Knie, versank in ein luftleeres Stöhnen. Melina selber jedoch verlor das Gleichgewicht. Vom eigenen Schwung getragen, fiel sie nach hinten. Überrascht riss sie die Augen weit auf, noch runder als sonst, wie ein erschrockenes Reh. Zum ersten Mal sah Innocent ihr direkt in die Augen, in dieser Sekunde über dem Abgrund, in der es keinen Raum für Gedanken gab.
Sie streckte die Arme aus, als wolle sie die Wolken aus der blauen Nacht pflücken. Vielleicht streckte sie sich auch nach ihm aus. Ihre Hand suchte Halt an einem der Blumenkästen, doch unter der Wucht mussten die schwachen Halterungen nachgeben. Mit einem kreischenden Knarren stürzten Frau und Blumenkasten rittlings in die Tiefe.
Zu spät sprang Innocent ans Geländer, die Hand ausgestreckt, wie um sie aufzuhalten. Der Aufprall ging im tosenden Gewitter unter. Drei Stockwerke unter sich sah er die zerbrochene, kleine Gestalt auf dem Bauch liegen. Melina hielt ihren Arm noch immer von sich gestreckt, nur dieses Mal im falschen Winkel. Der Blumenkasten lag zersprungen neben ihrem seifenhellen Körper. Innocent konnte seinen Blick nicht von den geranienroten Flecken lösen, die sich auf dem Pflaster auszubreiten begannen. Der Wind und der Regen heulten, wie überhaupt alles heulte, der Balkon und die Fensterscheiben und die übriggebliebenen Blumenkästen. Nur die Frau blieb stumm und mit ihr der Mann, der weiterhin im Sturm stand. Es donnerte, auch wenn Innocent den Blitz nicht bemerkt hatte. Die Schiebetür hinter ihm ging auf, aber er wandte sich nicht um. “Wann gibt es denn jetzt diese berühmt-berüchtigte Quittenwähe?”