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Ziellos

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23.06.2003
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Ziellos

Nicht komplett ist das Puzzle. Nicht vollständig die Teile. Abgebrochen an einigen Stellen, verwittert das Bild, unter einer zentimeterdicken Staubschicht begraben. Auf einem Operationstisch, inmitten eines riesigen, dämmrigen Saales, unscheinbar von einem schwach flackernden Lichtkegel beleuchtet, liegt es da, den Suchenden auffordernd, anlockend. Die Gestalt steht da, weit entfernt vom Tisch, mit ausgestreckten, greifenden Händen, der Blick starr auf das Puzzle gerichtet. Kaum merklich bewegt sie sich schwerfällig, wie gegen einen Sturm, eine unsichtbare Kraft gehend, kämpfend, roboterartig und ungelenk mit schmerzverzehrtem Gesicht. Die Jahre vergehen. Fast ist das Ziel erreicht; das Ziel, welches die Gestalt seit Jahrzehnten verfolgt, nicht aus den Augen lässt, ihr Handeln, ihr Leben nur nach diesem Ziel, diesem Puzzle ausrichtet, sich nicht beirren, nicht ablenken
lässt, immer das Puzzle vor Augen, den Raum, den Tisch, sich selbst aufgebend, vergessend, auslöschend, allein das Puzzle wahrnehmend. Gleich ist es geschafft, wenige Schritte, wenige Jahre noch und das Ziel ist erreicht.

Nun liegt sie da, weinend, das Gesicht in ihren Händen vergraben, der zerbrochene Tisch mit dem verrotteten Puzzle neben ihr. Sie fühlt sich schwach und alt, Ziellos und dem Sterben nahe. Langsam wird das Weinen schwächer und schließlich hebt die gestalt ihren Kopf und blickt nach Oben, das erste mal alles wahrnehmend. Da sieht sie ein schwaches Licht, sieht und spürt wie es heller wird, wie es sie mit Energie füllt. Und plötzlich träumt sie, träumt von einem dämmrigen Raum, von einem Tisch inmitten des Raumes und von einem alten, schäbigen Puzzle, das auf dem Tisch liegt. Und dann sieht sie sich selbst, wie sie schwerfällig auf den Tisch zugeht, alles um sich herum vergessend. Aber dann dreht sie sich auf einmal um, schaut um sich und lässt sich treiben von der Kraft, gegen die sie ihr ganzes Leben lang gekämpft hat. Und plötzlich spürt sie die Freude, das Leben in ihr aufsteigen, lässt sich von der Kraft tragen und fühlt sich Eins mit ihr. Sie schaut auf das Leben, schaut auf das Universum und sieht den Kreislauf, sieht sich alles wiederholen, sieht den Zusammenhang, die Sinnlosigkeit. und sie lacht, lacht laut und über sich selbst und ihr Leben, lacht über die Menschen und lacht über ihren Tod.

 

Ziellosigkeit nach blinder Erzwingungsversuche eines Zieles. Ein Moment der Wahrheit verzweifelt und müde in der Endzeit. Große Worte für einen allzu normalen Vorgang. Doch in der Jugend ist die Entschlüsselung eines jeden Vorgangs etwas so besonderes, dass man sie in glänzendes Geschenkpapier einpackt. Schalt mal einen Gang runter, noch sind wir nicht auf der Autobahn.

Wertung: Beliebig theatralisch.

 

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