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Zeugniskonferenz

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24.03.2019
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Zeugniskonferenz

„Kann ich Sie mal kurz unter vier Augen sprechen?“

Sylvia Sträter schaute vom Tisch hoch. Vor ihr stand Gregor Wendland, ein großer, kräftiger Physiklehrer mit grauem Vollbart. Er war der Mittelstufenkoordinator und zeichnete verantwortlich für die Zeugniskonferenzen, die in einer knappen Stunde beginnen sollten. Sylvia saß gerade mit ein paar Kollegen im kleinen Lehrerzimmer. Die Schüler waren schon nach Hause gegangen und einige ihrer Kollegen hatten sich etwas zu essen aus der Kantine geholt.
„Oh, oh, jetzt gibt es Ärger“, feixte Roman Gehrig, ein Spanischlehrer, grinsend und schob sich ein Stück Pizza in den Mund. Sowohl Sylvia als auch Herr Wendland reagierten mit einem gequälten Lächeln. Alle anderen Kollegen am Tisch sagten gar nichts und schauten betont unbeteiligt.

„In Ihrem Büro?“, fragte Sylvia. Gregor Wendland nickte.
„Okay, ich komme sofort.“

Sylvia stand auf und lief Herrn Wendland in gebührendem Abstand hinterher. Sie ließ sich Zeit um nicht mit Herrn Wendland reden zu müssen. Worüber auch? Sie wusste nichts über diesen Mann. Er war nur selten im Lehrerzimmer anzutreffen, machte auf Konferenzen einen staubtrockenen, humorfreien Eindruck und war kein Geisteswissenschaftler. Aufgrund dieser beruflichen Distanz war er einer der wenigen Kollegen, den Sylvia nach mehr als drei Jahren am Leonhard-Euler Gymnasium noch siezte.
Als sie beide im ersten Stock angekommen waren, schloss Herr Wendland die Tür auf und ließ Sylvia, die auf die letzten Meter zu ihm aufgeschlossen hatte, den Vortritt. Was das angeht, sind sie alle alte Schule, dachte Sylvia.
„Nehmen Sie doch Platz“, sagte Herr Wendland und zeigte auf einen von zwei Stühlen vor seinem Schreibtisch. Er selbst setzte sich auf seinen ausladenden Bürosessel und aktivierte mit einer Bewegung der Maus seinen Computerbildschirm.
„Es geht um zwei Schüler aus der 9a vom Kollegen Schüttert: Maik Lütke und Jamal Agah“, sagte Herr Wendland ohne Sylvia dabei anzuschauen.

Sylvia merkte, wie es in ihr zu kochen begann. Das gibt es doch wohl nicht! Erst textet mich der Schüttert zu und fragt, ob ich den beiden Idioten noch eine Vier geben kann und jetzt, nachdem ich Nein gesagt habe, zitiert mich der Mittelstufenkoordinator zu sich ins Büro.
„Ja, was ist mit denen?“, gab Sylvia sich ahnungslos.
„Sie haben die Leistungen der beiden Schüler mit Mangelhaft bewertet? Können Sie vielleicht zu den beiden Schülern kurz was sagen?“

Kurz mal kommen, kurz was sagen, kurz die Note ändern. Immer musste alles schnell gehen. Immer wurde man überrumpelt. Sylvia wusste, worauf dieses ‚Gespräch’ hinauslaufen sollte. Aber mittlerweile war da solch ein Widerwille in ihr, dass sie sich auf dieses Spiel nicht mehr einlassen wollte. Außerdem hatte sie dem Schüttert schon lang und breit das Lern- und Arbeitsverhalten von Maik und Jamal erläutert, das musste reichen.

„Entschuldigen Sie“, sagte Sylvia, erkennbar darum bemüht, höflich zu bleiben und ihre Wut zu unterdrücken, „aber gehört diese Diskussion nicht eigentlich in die Zeugniskonferenz?“

Jetzt sah Gregor Wendland zu ihr auf. Er schaute sie an, als nähme er sie zum ersten Mal richtig wahr, als sei sie doch mehr als ein kleines Sandkorn im geschmeidigen Getriebe seiner Mittelstufe. Er sah sie an wie einen Gesteinsbrocken, der plötzlich vom Berg auf die Straße vor ihm gekracht war. Doch er wusste seine Überraschung gekonnt zu überspielen.
„Ach, wissen Sie, Frau Sträter“, erwiderte er betont gelassen und fasste sich in den Vollbart, „ich mache diesen Job jetzt schon so lange und es hat sich gezeigt, dass man einige Dinge besser im Vorfeld bespricht. Die Konferenzen sind ja eng getaktet und wenn man die wichtigsten Dinge vorab besprochen hat, sparen wir alle Zeit. Glauben Sie mir, es ist auch in Ihrem Interesse.“
„Okay“, sagte Sylvia nach kurzem Zögern. „Also ja, ich habe Maik und Jamal jeweils eine Fünf in Französisch gegeben, weil sie nichts getan haben. Ganz einfach. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe Herrn Schüttert schon alles erklärt und ich denke, dass muss reichen.“
Herr Wendland nickte verständnisvoll.
„Natürlich entscheiden Sie letztendlich über die Noten, die Sie setzen. Allerdings nehme ich in meiner Position einen anderen Blickwinkel ein als Sie, einen Blickwinkel nämlich, den ich als ganzheitlich beschreiben würde. So wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass sowohl Jamal als auch Maik aus schwierigen Familienverhältnissen kommen und dass sie mit Eintritt in die Oberstufe kein Französisch mehr haben, weil beide es zum Ende der Jahrgangsstufe Neun abwählen können und auch abgewählt haben. Und in allen anderen Kernfächern haben beide ein Ausreichend vorzuweisen, so dass beide momentan die Möglichkeit zur Nachprüfung in Französisch hätten. Und die Frage ist dann, wie viel Sinn es macht, zwei Schüler die kompletten Sommerferien für ein Fach lernen zu lassen, dass sie im nächsten Jahr gar nicht mehr haben. Und das auch noch in Elternhäusern, in denen Ruhe und Konzentration eher selten vorherrschen.“

Sylvia stutzte. Es wunderte sie, dass beide Schüler in den anderen Kernfächern ein Ausreichend hatten. Sie hatte vor zwei Tagen noch mit dem Mathelehrer der Klasse gesprochen und ihn nach Jamal und Maik gefragt. Da hatte er beiden noch eine Fünf geben wollen. Wieso hatte er die Noten nochmal geändert? dachte Sylvia. Na klar, der Mathelehrer hat wahrscheinlich auch schon hier gesessen und ist von Herrn Wendland ‚bearbeitet’ worden. Ganz schön trickreich, dieser Wendland.

„Herr Wendland“, warf Sylvia angriffslustig ein, „mir ist klar, dass Schüler in der Klasse 9 nicht immer die größte Motivation für das Fach Französisch mitbringen, vor allem dann nicht, wenn sie sich innerlich von dem Fach schon verabschiedet haben. Genau das habe ich den Schülern auch so gesagt. Aber ich habe ebenso klar gemacht, dass ich ein Mindestmaß an Engagement erwarte um am Ende guten Gewissens die Vier setzen zu können. Das aber haben die beiden Schüler ignoriert. Beide Schüler haben so gut wie nie Hausaufgaben gemacht. Mein Angebot, ein Referat zu machen, haben beide ausgeschlagen und beide haben auch den Förderunterricht nicht besucht, obwohl ich Ihnen dringend dazu geraten habe. Und gegenüber den Schülern, die sich für das Ausreichend ein Bein ausgerissen haben, wäre es einfach das falsche Signal, wenn ich diesen beiden Jungs jetzt auch ein Ausreichend gäbe.“

Na, super, dachte Sylvia. Jetzt rechtfertige ich mich ja doch wieder!
„Das sehe ich ein“, gab der Mittelstufenkoordinator zurück, „aber vielleicht kann man dieses mangelnde Engagement anders ansprechen, ich denke da an eine Zeugnisbemerkung, ein Elterngespräch oder ähnliches, auf jeden Fall..“

Es klopfte an der Tür. Ohne auf ein Signal von Herrn Wendland zu warten, drückte jemand behutsam die Klinke von außen herunter und steckte den Kopf durch den sich öffnenden Spalt. Es war Frau Rösner, eine Lateinlehrerin.

„Sie wollten mich sprechen, Herr Wendland?“, fragte sie in übertrieben demütigem Tonfall, wie Sylvia fand.
„Ja, danke Frau Rösner. Ich bin gleich bei Ihnen. Bitte warten Sie noch einen Moment draußen.“
Die Tür schloss sich wieder. Herr Wendland warf ihr noch ein ‚Dankeschön’ hinterher. Wahrscheinlich sein nächstes ‚Gespräch’, glaubte Sylvia.

„Gut, also, Frau Sträter, vielleicht lassen Sie sich meine Argumente nochmal durch den Kopf gehen. Nach meinem Dafürhalten ergeben die beiden Mangelhaft aus pädagogischer Sicht keinen Sinn. Wenn Sie bereit sind, die Noten zu ändern, dann geben Sie mir kurz vor der Konferenz Bescheid, dann gebe ich das noch schnell in die Notenübersicht ein.“
„Okay, so verbleiben wir“, sagte Sylvia, stand abrupt auf, drehte sich um und ging zur Tür.
„Ach, eine Sache noch!“, warf Herr Wendland ein, ein wenig überrascht vom plötzlichen Aufbruch der jungen Kollegin. Sylvia drehte sich noch einmal zu ihm um.
„Ja!?“
„Der Schulleiter wird wahrscheinlich der Zeugniskonferenz beiwohnen.“
„Okay“, erwiderte Sylvia. Auch wenn es ein Aussagesatz war, verfehlte er dennoch nicht seine intendierte bedrohliche Wirkung. Sylvia war nervös.

Zurück im Lehrerzimmer empfing Roman sie mit einem aufmunternden Lächeln.
„Na, war’s schlimm?“, fragte er.
Sylvia wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Grundsätzlich hatte sie nichts dagegen, wenn man sie darum bat, ihre Noten zu erläutern, aber die Art und Weise, wie hier auf Lehrer Druck ausgeübt wurde, war mehr als perfide. Und gleichzeitig kam ihr das Kollegium wie ein verschreckter Haufen vor, der sich nur hinter vorgehaltener Hand über die Machenschaften der Schulleitung aufregte. Wenn es darum ging, Farbe zu bekennen, waren selbst die Kollegen, die sie für gestandene hielt, ganz klein mit Hut.

J’accuse!“, rief Sylvia flachsend und reckte die Faust in die Höhe. Roman lachte.
„Sieh es mal so“, sagte er, nachdem sie beide wieder ernst geworden waren. „Wer keine Fünfen gibt, hat weniger Arbeit. Du musst keine Lern- und Förderempfehlungen schreiben, keine Elterngespräche führen und die da oben lassen dich auch in Ruhe.“
Sylvia rang sich ein Lächeln ab. Aber eigentlich wusste sie nicht, was sie schockierender fand: die Tatsache, dass Roman ahnte, warum Herr Wendland sie hatte sprechen wollen oder seine Verteidigungsrede der moralischen Flexibilität.

Eine gute dreiviertel Stunde später begannen die Zeugniskonferenzen. In einem der größeren Klassenräume hatte Herr Wendland seinen Laptop an einen Beamer angeschlossen um die Notenübersicht aller Schüler an die Wand projizieren zu können. Nach und nach betraten die einzelnen Fachlehrer den Raum und verteilten sich ungeordnet auf den Stühlen. Der Klassenlehrer, Herr Schüttert, überprüfte die Anwesenheit aller Fachlehrer und bemerkte, dass die Sportlehrerin Frau Waschke noch fehlte. Ein Kollege ging sie suchen und kam wenige Minuten später mit ihr im Schlepptau zurück. Der Schulleiter selbst war nicht anwesend.

„Gut, liebe Kolleginnen und Kollegen“, sagte Herr Wendland im Ton dienstlicher Beflissenheit, „dann eröffne ich hiermit die Zeugniskonferenz der 9a und übergebe das Wort zunächst an den Klassenlehrer.“
„Ja, danke Gregor“, begann Herr Schüttert. „Zunächst vielleicht ein paar allgemeine Dinge zu der Klasse. Wir haben es hier mit einer Lerngruppe zu tun, die sich durch verschiedene soziale Probleme hervor tut. Es gibt viele Grüppchen und häufig knallt es auch zwischen den einzelnen Cliquen. Vor allem Maik, Amer und Nabil geraten immer wieder mit Annika, Gizem und Fatima aneinander. Hinzu kommt, dass Polina von allen Klassenkameraden geschnitten und isoliert wird, wobei ich das Gefühl habe, dass Polina das nicht sonderlich berührt. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern Polinas jüdische Herkunft für diese Isolierung verantwortlich zeichnet. Im Unterricht habe ich jedenfalls keine religiös motivierten abfälligen Kommentare gehört, aber vielleicht haben Sie diesbezüglich etwas vernommen. Was auch auffällt, ist die Tatsache, dass es keine wirklichen Leistungsträger gibt, die leistungsschwächere Schüler motivieren und mitziehen, was wiederum die extrem schwachen Lernleistungen erklärt.“

„Gottseidank“, warf ein Kollege grinsend ein. „ Und ich dachte schon, der Fehler läge bei mir.“

Einige Kollegen lachten laut auf, Herr Wendland und Herr Schüttert zeigten sich ungerührt. Dennoch war die Stimmung verhältnismäßig gelöst. Doch als Kollege Schüttert wieder zum Sprechen ansetzte, tat sich plötzlich die Tür auf und der Schulleiter, Herr Diedrichs, schob sich durch den Rahmen. Er setzte sich geräuschlos auf den erstbesten Platz neben der Eingangstür.
Herr Schüttert machte eine kurze Pause und sah den Schulleiter erwartungsvoll an.
„Bitte“, sagte Herr Diedrichs, als er den Blick des Klassenlehrers bemerkte, „fahren Sie fort.“
Schlagartig herrschte eine andere Atmosphäre. Lehrer, die sich eben noch lässig in die hölzernen Stühle gefläzt hatten, richteten sich auf. Zwei Kolleginnen, die ihre Handys auf dem Tisch liegen hatten, packten sie unauffällig weg und auch das Geraschel von Papier und das Klicken der Kulis verstummte. Sylvia bemerkte ebenfalls eine Veränderung an sich. Sie rüstete sich mental für den Schlagabtausch mit dem Chef, der ihr unweigerlich bevorstand.
„Ich denke“, nahm Herr Schüttert den Faden wieder auf, ,,dass es das Sinnvollste ist, wenn wir nach der Schwere der Fälle vorgehen. Zuerst wäre da Lemer Duruöz mit einer Fünf in Mathe, einer Fünf in Englisch, einer Fünf in Deutsch, einer Vier in Latein und einer weiteren Fünf in Biologie.“
Eine Totgeburt, dachte Sylvia. Bei Lemer war die Sache so klar, dass selbst der Schulleiter hier keinen Diskussionsbedarf sah. Jeder der einzelnen Fachlehrer legte nochmal die Argumente für die schlechte Bewertung dar: Noten wurden runtergerasselt, vergessene Hausaufgaben auf den Tag genau datiert, bizarre oder schlicht dumme Aussagen des Schülers wiedergegeben und vergebliche Maßnahmen geschildert. Nachdem alle Lehrer den Schüler in seiner kognitiven Inkompetenz filetiert hatten, gab es eine Schweigeminute, in der mögliche Fürsprecher noch zu Wort kommen konnten. Doch da war nur Stille.
„Okay“, sagte Herr Schüttert, „dann kommen wir zu Jamal Agah. Eine Vier in Deutsch, eine Vier in Mathe, eine Vier in Englisch und eine Fünf in Französisch. Jamal wäre nach aktuellem Stand nicht versetzt, hätte aber die Möglichkeit auf eine Nachprüfung in Französisch.“

Wieder wurde diese Feststellung einfach so in den Raum geworfen und dann dort liegengelassen. Es war offensichtlich, dass von Sylvia eine Stellungnahme erwartet würde, aber Sylvia wollte Herrn Wendland partout nicht diese Freude machen. Sie schwieg, denn ihres Erachtens war bereits alles gesagt. Gleichzeitig aber registrierte Sylvia auch die Blicke der Kollegen, die Unverständnis zum Ausdruck brachten. Warum sagt sie denn nichts?

„Frau Sträter“, begann Herr Wendland schließlich, „vielleicht können Sie kurz etwas zu Jamal sagen.“
Sylvia seufzte hörbar laut. Sie wusste, es führte kein Weg an dieser Angelegenheit vorbei.
„Nun, Herr Wendland“, eröffnete sie ihr Plädoyer, „wie ich Ihnen und dem Kollegen Schüttert ja in Einzelgesprächen mehrfach dargelegt habe, hat Jamal das gesamte Schuljahr über jegliche Leistung schlichtweg verweigert. Aussagen wie Ich wähl das eh ab! oder Ich versteh das eh nicht! sind die konstruktivsten Beiträge seinerseits gewesen. Ich habe sehr früh die Eltern zu einem Gespräch eingeladen, Förderunterricht und die Vermittlung privater Nachhilfe vorgeschlagen und außerdem ganz klar skizziert, welche Minimalanforderungen erfüllt sein müssen, um das drohende Defizit abzuwenden. Ich habe im kompletten zweiten Halbjahr lediglich zweimal Hausaufgaben von ihm bekommen“. Sylvia schaute in ihren Lehrerkalender. „Und zwar am 10. Mai und am 13. Juni dieses Jahres. Diese Hausaufgaben waren beide unvollständig und fehlerhaft. Angebote extracurricularer Natur wie ‚Texte oder Konjugationen einreichen’ hat er ausgeschlagen, die Vokabelteste waren alle Mangelhaft. Ich war mir darüber im Klaren, dass Jamal das Fach Französisch abwählen konnte, aber daraus ergeben sich für mich nicht zwangsweise andere Bewertungskriterien als bei einem Schüler, der das Fach Französisch in der Oberstufe beibehält. Mir ist klar, dass dem Schüler nun eine Nachprüfung droht, aber ich bin überzeugt, dass Jamal lernen muss, dass sein Handeln, oder besser gesagt, sein Nicht-Handeln Konsequenzen hat. Es wäre, auch und gerade im Hinblick auf die Oberstufe das falsche Signal, ihn für seine Inaktivität, für seine Faulheit zu belohnen.“

Wieder wurde eine Weile geschwiegen. Herr Wendland, in Erwartung, dass der Schulleiter sich nun zu Wort melden würde, schwieg sich aus, genauso Herr Schüttert. Auch die anderen Kollegen erkannten, dass der Schulleiter kurz davor war, Einspruch zu erheben.
„Wie waren denn die Noten in den Klassenarbeiten?“, fragte Herr Diedrichs schließlich, in einem nicht unfreundlichen, aber doch sehr sachlichen Ton.
Sylvia warf einen Blick in ihren Lehrerkalender.
„Im ersten Halbjahr eine Drei minus und eine Fünf minus. Im zweiten Halbjahr eine Vier minus und eine Fünf minus.“
Herr Diedrichs setzte einen leicht irritierten Blick auf.
„Jamal ist also durchaus in der Lage, befriedigende oder ausreichende Leistungen abzurufen.“
„Ja, natürlich“, entgegnete Sylvia Sträter. „Das Potential hat er. Aber das Notenbild weist eine klare Tendenz auf, und ein einzelnes Befriedigend im ersten Halbjahr bewahrt einen Schüler nicht vor einem Defizit.“
„Es macht aber die Jahresendnote juristisch anfechtbar“, warf Herr Wendland ein.
Jetzt war für Sylvia der Bogen überspannt.
„Entschuldigen Sie, aber wer geht denn bitte juristisch gegen mich vor? Die Eltern von Jamal ja wohl nicht. Ich verstehe den Kontext dieser Aussage nicht.“
„Niemand will juristisch gegen Sie vorgehen, Frau Sträter“, beschwichtigte Herr Wendland sogleich. „Ich wollte lediglich auf Fälle von Widersprüchen verweisen, die ich selbst erlebt habe und in denen Kollegen aufgrund befriedigender Leistungen in Klassenarbeiten argumentativ ins Schwimmen gerieten. In der Regel werden Widerspruchsverfahren gegen den Lehrer entschieden.“
„Das mag sein“, warf Sylvia Sträter ein, überrascht über ihren Mut zur Konfrontation, „aber wenn wir jede Entscheidung, die wir hier treffen, von ihren möglichen Konsequenzen aus bewerten, dann treffen wir am Ende gar keine Entscheidungen mehr. Und aus Angst vor Entscheidungen lassen wir den Schülern dann alles durchgehen. Ich würde es auf einen Widerspruch ankommen lassen. Die Leistungen, beziehungsweise die Minderleistungen Jamals sind genau dokumentiert.“
„Ihnen ist aber bewusst“, fragte Herr Diedrichs nun, „dass Jamal sich dann in den Sommerferien auf die Nachprüfung vorbereiten muss und im Falle des Bestehens kein Französisch mehr haben wird?“
„Das ist mir bewusst. Das war mir bewusst“, erklärte Sylvia kurz angebunden. „Auch Jamal wurde auf diesen Umstand mehrmals hingewiesen.“

Wieder entstand eine Pause. Herr Diedrichs schaute Sylvia prüfend an, Sylvia hielt seinem Blick mit unbewegter Miene stand. Der Schulleiter realisierte, dass hier nichts zu holen war. Aber eines hatte er erreicht: In den Augen einiger Kollegen galt Sylvia Sträter fortan als unverhältnismäßig streng und persönlich in ihrer Notengebung. Und auch Sylvia konnte nicht mehr zweifelsfrei sagen, ob sie an der Fünf festhielt, weil Jamal sie verdiente oder weil ihr die Art der Einflussnahme seitens der Schulleitung so missfiel.

„Herr Lütken“, sagte Herr Diedrichs schließlich, und wandte sich damit an den Referendar, der in der Klasse Deutsch unterrichtete. „Im Notenmodul haben Sie eine Vier plus eingetragen, eine Tendenz zur Drei ist also erkennbar. Können Sie sich in Anbetracht der Umstände vorstellen, hier noch eine Drei zu setzen?“
Der Referendar errötete. Sein Blick glich dem eines Rehs, das auf einer Straße stand und plötzlich Schweinwerfer auf sich zukommen sah. Er rutschte etwas tiefer in seinen Stuhl, schaute sich kurz hilfesuchend um räusperte sich dann.
„Also, ähh“, begann er zögerlich, „der Jamal versucht schon sich am Unterricht zu beteiligen, allerdings sind seine Antworten manchmal falsch, also vom Inhalt aber auch von der Grammatik her. Aber er hat auch eine Drei geschrieben, allerdings in einer Klassenarbeit, die gut ausgefallen ist.“

Wieder Schweigen. Der Klassenlehrer, der Mittelstufenkoordinator und der Schulleiter sagten nichts, denn die entscheidende Frage hing immer noch unbeantwortet im Raum, und der Druck, der auf dem Referendar lastete, war mehr als ausreichend.

„Also, wenn es Jamal hilft, ich weiß nicht“, stotterte der Referendar. „Ja, ich denke schon, dass ich die Drei vertreten könnte.“

Klar kannst du das, dachte Sylvia wütend. Du willst ja nicht riskieren, dass das Schulleitergutachten deine Zukunft ruiniert.

„Gut, Herr Lütken, dann ändere ich die Note ab“, beeilte Herr Wendland sich zu sagen und änderte die Deutschnote für alle sichtbar am Computer. „Damit hat Jamal einen Ausgleich zu Französisch und ist versetzt. Kommen wir zum nächsten Schüler..“

Ab diesem Moment hörte Sylvia nicht mehr zu. Ihr wurde heiß, als säße sie auf glühenden Kohlen. Ihr Blick war starr geradeaus, fixierte die gegenüberliegende Wand, versuchte, diese mit reiner Willenskraft zu zerbrechen. Irgendwas muss jetzt explodieren, fühlte sie, sonst explodiere ich. Es gelang ihr nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen oder einen Gesprächsfaden aufzunehmen. Die Diskussionen ihrer Kollegen verkamen zur Kakophonie ergebener Untertanen. Elende Schleimer, allesamt. Das Gebrabbel, Gemurmel und gelegentliche Gelächter dauerte noch knapp zwanzig Minuten, doch für Sylvia dehnten sich diese Minuten ins Unendliche. Wochen, Monate, Jahre schienen zu verfliegen, doch sie klebte auf diesem Stuhl fest, verdammt dazu, dieser Parodie einer Zeugniskonferenz beizuwohnen. Als die Konferenz zu Ende war, bekam sie gerade noch mit, dass letzten Endes nur Lemer Duruöz die Versetzung nicht geschafft hatte, alle anderen Wackelkandidaten, fünf an der Zahl, hatten durch die Gnade ihrer Fachlehrer die Oberstufe erreicht. Halleluja, es geschehen noch Zeichen und Wunder!

Sie konnte niemandem der Anwesenden ins Gesicht sehen. Sie wartete bewusst darauf, dass Schüttert und Diedrichs den Raum verlassen hatten, bevor sie sich selbst auf den Weg machte. Auch Wendland, der nun zur Zeugniskonferenz der 9b aufrief, würdigte sie keines Blickes. Sylvia flüchtete wieder auf die Toilette, schloss sich in einer Kabine ein, regelte sich runter und räsonnierte. Obwohl sie sich für widerstandsfähig und belastbar hielt, fühlte sie sich wie ein Soldat, der das Kriegsgebiet verlassen hatte und nun unter Schock stand. Sie ging wie bei einem Protokoll nochmal die Aussagen ihrer männlichen Gegenspieler durch und hielt bei Auffälligkeiten inne. Warum hatte der Chef sie gebeten, die Noten nochmal laut vorzulesen? Er hatte sie doch in der Klassenmappe vorliegen. Und warum hatte sie ihn nicht darauf hingewiesen, dass er sie vorliegen hatte? War sie wirklich so ungnädig, wie die Männer sie darstellten? Wirkte sie nun auf die Kollegen wie eine jähzornige, privat frustrierte Endzwanzigerin? Warum hatten die Kollegen nichts gesagt? Billigten sie diese Form der Nötigung? Fanden sie es nicht ebenso lächerlich, mit welchen Leistungen hier einige Schülerinnen und Schüler versetzt wurden? War sie zu idealistisch? Und was bedeutete das für ihre Zukunft an der Schule? Eine A14-Stelle konnte sie sich vorerst wohl abschminken.

Irgendwann hatte Sylvia sich soweit beruhigt, dass sie ihre Erschütterung vorläufig ablegen konnte. Ohnehin hatte sie noch zwei Zeugniskonferenzen zu überstehen, glücklicherweise aber von Lerngruppen, in denen sie kein Defizit gegeben hatte. Sie verließ die Toilette und wusch sich die Hände. Als sie die Papierservietten aus dem Spender zog, kam Frau Rösner, die Lateinlehrerin herein. Sylvia lächelte sie unverbindlich über den Spiegel an.
„Solltest du beim Wendland auch Noten ändern?“, platzte es sogleich aus Frau Rösner heraus.
Sylvia drehte sich um und lächelte ihre Kollegin an.
„Er hat’s zumindest versucht“, antwortete sie ehrlich.
„Ich sollte drei Noten ändern“, fuhr die Kollegin entrüstet fort. „Eine Note sogar um drei Punkte!“
Sylvia wollte sich eigentlich für den heutigen Tag nicht mehr mit dem Thema beschäftigen. Aber die Neugier übermannte sie dann doch.
„Und...hast du?“, fragte sie gespannt.
Frau Rösner fühlte sich ertappt.
„Was soll man denn machen?“, fragte sie resigniert. „Die machen so einen Druck.“
Sylvia vergaß einen Moment lang ihren Sinn für den Zusammenhalt unter Kollegen. Sie berührte Frau Rösner sanft am Arm, so dass diese ihr direkt ins Gesicht sah.
„Sag doch einfach Nein!“, meinte Sylvia und ließ ihre Kollegin stehen.

Als sie wieder im Erdgeschoß war und das Lehrerzimmer betrat, nahm sie sich fest vor, erhobenen Hauptes durch den Raum zu marschieren. Gleichzeitig aber war ihre mentale Haltung eine gebückte. Sie empfand die Wirkkraft ihrer höher besoldeten Kollegen als einschüchternd und hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie man so raumgreifend ging wie ein Herr Wendland oder ein Herr Diedrichs. Und sie stand noch immer unter dem Eindruck des Geschehens.
„Sylvia?“
Wolfgang Paul stand freundlich lächelnd da und berührte sie kurz an der Schulter.
„Alles okay?“, fragte er besorgt. „Du siehst ein bisschen angestrengt aus.“
„Ach, ich habe eine leichte Erkältung“, gab Sylvia vor. Sie hätte sich eher ein Bein ausgerissen, als ihm die Wahrheit über ihren Gemütszustand zu erzählen. Immer wenn sie ihn sah, musste sie an die Woche denken, in der er in ihrem Unterricht hospitiert und anschließend in seiner Gutsherrenart banale Tipps gegeben hatte.
„Oh, das tut mir leid. Naja, wie dem auch sei, ich wollte dich wegen einer Schülerin aus meiner Klasse sprechen: Haleema Khan.“
„Ist doch eine Top-Schülerin“, erwiderte Sylvia. „Wo ist das Problem?“
„Kein Problem“, gab Herr Paul behutsam zurück, „im Gegenteil. Sie ist ausgewählt worden für ein Stipendium der Hilde-Seifert-Stiftung.“
„Schön für sie“, ätzte Sylvia zurück und bereute es sogleich. Ihr Ärger ging in die falsche Richtung. „Entschuldigung“, sagte sie dann. „Das ist wirklich eine gute Nachricht. Wie kann ich helfen?“
Herr Paul überging Sylvias kurzen Aussetzer und holte Luft.
„Also, das Stipendium wird von der Stadt verwaltet, da die Stiftungsgründerin mittlerweile verstorben ist. Laut der Statuten hängt die Bewilligung der Fördergelder von einem aussagekräftigen Finanz- und Förderplan ab, der von einem ihrer Fachlehrer erstellt werden sollte. Ich betreue bereits zwei Schüler bei einem anderen Stipendium und Haleema hat mal in einem Nebensatz erwähnt, dass du ihre Lieblingslehrerin bist und da dachte ich..“
„Ich mach’s“, unterbrach ihn Sylvia sogleich, um das Gespräch abzukürzen. „Schick mir doch am besten die Informationen über dieses Stipendium per E-mail, dann schau ich mir das mal an.“
„Super, danke“, sagte Herr Paul. „Ich schick es dir heute noch, okay? Der Finanz- und Förderplan sollte bis Ende des Monats erstellt sein. Wenn du Fragen hast oder möchtest, dass ich nochmal drüber schaue, sag einfach Bescheid, okay?“
„Okay, mache ich.“
„Danke“, widerholte Herr Paul. „Super!“

Und weg war er. Ohne viel Federlesens hatte er auf Sylvias bereits überbordenden Arbeitsstapel noch etwas draufgelegt. Es fühlte sich an wie eine Kleinigkeit und doch bestand der ganze Beruf aus einer Flut an solchen Lappalien: Ein Schüler gab einem anderen Schüler einen Schubser im Flur, dieser Schüler stürzte, verletzte sich leicht und erzählte zuhause davon. Die Eltern riefen in der Schule an und fragten, was da los sei und warum denn niemand die aufkeimende Gewalt unterbinde. Der Schulleiter gab den Vorwurf an den Klassenlehrer weiter, dieser bezog die Fachlehrer mit ein und ermahnte sie, jeden noch so kleinen Vorfall dieser Art künftig zu melden und sofort zu intervenieren. Eltern, Schüler, Lehrer und Vorgesetzte beraumten untereinander Gespräche an, die SV entwarf einen Verhaltenskodex für alle Schüler, Sozialarbeiter kamen und gaben Anti-Aggressionstraining oder Power-Point Präsentationen zum Thema Gewalt. Oder: Ein Schüler schrieb bei einem anderen Schüler die Hausaufgaben ab, der Lehrer trug dies ins Klassenbuch ein, der Schüler fühlte sich stigmatisiert, behauptete, nicht er habe abgeschrieben, sondern bei ihm sei abgeschrieben worden. Wieder folgten Gespräche, Gespräche und noch mehr Gespräche. Zwischen diesen Gesprächen flatterten Unmengen Vokabelteste, Klassenarbeiten und Klausuren auf den Schreibtisch, und zehn Minuten nachdem diese geschrieben waren, fragten die Schüler schon, wann sie denn diese Manifeste ihres eigenen Unvermögens zurück bekämen, als wäre jeder Lehrer nur für sie da und hätte keine anderen Schüler oder Klassen. Ständig versuchte Sylvia den einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen, ihn individuell zu fördern, ihn in seiner ganzen Persönlichkeit, in seiner Komplexität wahrzunehmen und gleichzeitig ihren eigenen Unterricht zu optimieren, ihn spannender und vielseitiger zu gestalten. Erst langsam realisierte Sylvia, dass Schule ein Apparat war, der schnell heiß lief und dann kaum auf Normaltemperatur zu bringen war. Als Lehrer musste man ständig aufpassen, dass man sich an diesem Apparat nicht die Finger verbrannte und das ging nur über Distanz. Distanz zum eigenen Handeln, Distanz zum gelegentlich verletzenden Verhalten der Schüler, und viel wichtiger noch, Distanz zum eigenen Anspruch. Wenn man mit einer vollen Stelle nicht völlig draufgehen will, so hatte Sylvia mittlerweile verstanden, dann war man gut beraten, wenn man sich eine gesunde Faulheit antrainierte und den Blick fürs Wesentliche schärfte. Aber dann kam so eine Schülerin wie Haleema um die Ecke, eine Schülerin, die Sylvia wirklich schätzte und unterstützen wollte und dann sagte man eben: Ja, ich helfe.

Und man half. Aber nicht sich selbst.

Nach zwei weiteren Konferenzen ohne besondere Vorkommnisse fuhr Sylvia am frühen Abend nach Hause. Draußen wurde es langsam dunkel, aber der Tag war für Sylvia noch nicht zu Ende. Fünf Stunden für den nächsten Morgen waren vorzubereiten und zwei abgegebene Hausaufgaben lagen noch auf ihrem Schreibtisch. Aber als Sylvia durch die Wohnungstür schritt, da wurde ihr klar, dass sie nichts mehr tun konnte und nichts mehr tun würde. Sie zog ihre Hose und das Hemd aus, streifte die Stiefel ab und schlüpfte in ihre Joggingsachen und die Hausschuhe. Sie torkelte ins Wohnzimmer und fläzte sich zu Marc, der gerade die vierte Staffel von The Wire im Original guckte, auf die Couch.
„Und wie war’s“, fragte er ehrlich interessiert und hielt seine Serie an.
Doch Sylvia hatte keine Lust zu erzählen. Sie fürchtete die wohl gemeinten aber völlig fehlplatzierten Ratschläge ihres Freundes, der glaubte, ihren Beruf zu kennen, weil er mal Schüler gewesen war. Aber ihren Perspektivwechsel hatte er nie vollzogen. Diese andere, dunkle Seite der Macht hatte er nicht kennengelernt.
„War gut“, sagte Sylvia also lapidar und wartete darauf, dass Marc den Fernseher wieder aktivierte. Als er dies tat, sah Sylvia zu ihrem Erstaunen, dass die aktuelle Folge der Serie in einer amerikanischen Schule spielte. Es ging um Drogen, völlig kaputte Elternhäuser, gewaltbereite Schüler, Lernen für standardisierte Tests und völlige heruntergekommene Schulgebäude in Baltimore, Maryland. Oder wie die meist afroamerikanischen Schüler in der Serie sagten: Bodymore, Murderland. Der Anblick dieser wenn auch fiktiven, so doch realitätsgetreu aufbereiteten Zustände des Bildungssystems in den Vereinigten Staaten brachte Sylvia erneut ins Grübeln. Vielleicht erwarte ich zuviel von diesen Kindern. Wie soll man unseren Schülern auch das Gleiche abverlangen wie Schülern im Süden der Stadt, wenn die familiären und kulturellen Hintergründe doch ganz andere sind? Aber was erreicht man, wenn man andere Maßstäbe anlegt? Man macht die Schüler glauben, sie könnten an einer Uni studieren und dann scheitern sie dort brutal, weil ihnen das Rüstzeug fehlt. Aber es ist ja dann nicht mehr unser Problem, nicht wahr? Nein, es ist und bleibt unehrlich. Was Herr Diedrichs da treibt, ist letzten Endes nichts anderes als Bilanzfälschung. Wir feiern Erfolge, die keine sind.

Das kann und darf so nicht weitergehen.

 

Hallo @HerrLehrer
so weit ich das überblicke, ist der Text fehlerfrei geschrieben. Das ist leider das einzige Positive, was mir dazu einfällt.
Die Geschichte heißt Lehrerkonferenz und, wenn man es genau nimmt, wird das Versprechen des Titels erfüllt. In weiten Teilen liest sich das wie ein Sitzungsprotokoll. Punkt für Punkt wird abgehakt - in einer Sprache, die Lehrer verwenden, um schlau zu tun. Also distanziert, emotionsfrei und mit Fremdwörtern gespickt. Unzählige Figuren tauchen kurz auf oder werden in Abwesenheit erwähnt. Keine davon wird mir nah gebracht und so flaut mein Interesse an der Handlung schnell ab. Das Kernthema, die Diskussion um faire Benotung der Schüler wird oberflächlich ausgewalzt. Da stecken viele Möglichkeiten zur Gesellschaftskritik und zur Beleuchtung des Umgangs der Lehrer mit einem absurden Schulsystem in dem Thema. Die werden aber nicht genutzt, sondern der Kampf der verkrampften Französisch-Lehrerin gegen die entspannte Grundhaltung der Kollegen wird heroisch aufgeblasen. Zum Ende gibt es einen belehrende Moral-Epilog, der meine Gallenblase zu produktiven Höchstleistungen bringt.
Das größte Problem der Geschichte: Die einzige Figur, die mir näher gebracht wird, ist unsympathisch und bescheuert. Sie versucht Schülern den weiteren Lebensweg zu versauen, um sie zu dafür zu bestrafen, dass sie keine Lust auf das unnötigste Fach neben Ethik haben. Aber sobald sich eine lernwillige Schleimerin meldet, wird ihr weich ums Herz. . Genau solche Lehrerinnen hatten mir zu meiner Schulzeit den Spaß am Lernen versaut.
Hinzu kommt, dass die Lehrerin in der Story ein Schulkonzept verteidigt, dass ursprünglich entwickelt wurde, um dem Kaiser gehorsame Untertanen zu erziehen. Spätestens seit den 60ern ist diese Bestrafungspädagogik überholt und in vielen anderen Ländern inzwischen abgeschafft. Wie im Lehrerkollegium die Hierarchien ausgespielt werden ist zwar auch widerlich, aber da ich mich nicht mit der Lehrerin und ihrer "Sache" identifiziere, weckt das bei mir auch keine Emotionen. Die Antagonisten agieren zwar auch fragwürdig, aber er sie haben die besseren Argumente.

Und die Frage ist dann, wie viel Sinn es macht, zwei Schüler die kompletten Sommerferien für ein Fach lernen zu lassen, dass sie im nächsten Jahr gar nicht mehr haben.
Aber Frau Lehrerin ist ja auf dem Kreuzzug für moralische Werte, Pflicht und Vaterland.
Tut mir leid!. War leider nichts für mich.

Grüße
Kellerkind

 

Hallo @HerrLehrer ,
Ich fand den Text interessant, da ich selber noch Schüler bin und die Sicht der Lehrer in der Oberstufe durchaus etwas ist, über das man sich Gedanken macht.
Kommen wir zu den Sachen, die mir weniger gefallen haben.

Sylvia Sträter schaute vom Tisch hoch. Vor ihr stand Gregor Wendland, ein großer, kräftiger Physiklehrer mit grauem Vollbart. Er war der Mittelstufenkoordinator und zeichnete verantwortlich für die Zeugniskonferenzen, die in einer knappen Stunde beginnen sollten. Sylvia saß gerade mit ein paar Kollegen im kleinen Lehrerzimmer. Die Schüler waren schon nach Hause gegangen und einige ihrer Kollegen hatten sich etwas zu essen aus der Kantine geholt.
Zu viele Informationen. Kurzgeschichten leben oft davon, dass der Leser in das Geschehen reingeworfen wird und erstmal keine Ahnung hat, was los ist. Das ist hier nicht der Fall.
Und gegenüber den Schülern, die sich für das Ausreichend ein Bein ausgerissen haben, wäre es einfach das falsche Signal, wenn ich diesen beiden Jungs jetzt auch ein Ausreichend gäbe.“
Unschöne Wiederholung.
J’accuse!“, rief Sylvia flachsend und reckte die Faust in die Höhe.
Was für ein Bild. Plötzlich streckt jemand im Lehrerzimmer die Hand in die Höhe und ruft etwas auf französisch.
Herr Schüttert, überprüfte die Anwesenheit aller Fachlehrer und bemerkte, dass die Sportlehrerin Frau Waschke noch fehlte. Ein Kollege ging sie suchen und kam wenige Minuten später mit ihr im Schlepptau zurück.
Unnötige Details. Den ganzen zitierten Abschnitt kannst du weg lassen.
Wieder entstand eine Pause. Herr Diedrichs schaute Sylvia prüfend an, Sylvia hielt seinem Blick mit unbewegter Miene stand.
Unschöne Wiederholung
War sie wirklich so ungnädig, wie die Männer sie darstellten?
Als jemand der sehr schlecht in Französisch war, muss ich sagen: Ja!
alle Schüler, Sozialarbeiter kamen und gaben Anti-Aggressionstraining oder Power-Point Präsentationen zum Thema Gewalt. [ABSATZ] Oder: Ein Schüler schrieb bei einem anderen Schüler die Hausaufgaben ab, der Lehrer trug dies ins Klassenbuch ein, der Schüler fühlte sich stigmatisiert,

Wie bereits Kellerkind angemerkt hat, hast du zu viele Personen. Viele der oben genannten Phänome sind keine Einzelfälle in deinem Text. Da ist noch Luft nach oben!

Liebe Grüße,
Träumerle

 

Hi @HerrLehrer,

ich finde es ja gut, dass Sylvia am Ende der Geschichte ins Grübeln kommt, besser fände ich es aber, wenn sie nicht sogleich darauf schon ihre Antwort (wieder)finden würde.
Bilanzfälschung bleibt es ja so oder so, entweder weil die Leistungen nicht vergleichbar gut sind oder weil es die Voraussetzungen nicht sind. Da gibt es eigentlich nur Kompromisse, besserer oder schlechtere, bestimmt, aber sicher nicht das Wahre schlechthin. In diesem Sinne habe ich alle deine Figuren als zu unbeweglich wahrgenommen.

Und dabei erscheint mir der schließlich erzielte Kompromiss überraschenderweise der Idee nach sogar sinnig: Lieber an einer Stelle die Note etwas mehr drücken, damit man an anderer ohne erheblichen Schaden zeigen kann, dass nicht alles durchgewunken wird. Dummerweise entwickelt auch das für mich aber keinen rechten Zug, weil der Wendand dafür, dass das wirklich schlau erscheinen könnte, wiederum zu viel und vor allem zu hintenherum drückt.

Deshalb bleibt mein Eindruck unterm Strich: Ein interessantes Problem - zu schablonenhaft aufgezogen.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @HerrLehrer,
so, wie Du schreibst, musst Du aus dem Milieu kommen. Da stimmt wohl ziemlich viel, was man als Außenstehender nicht so beurteilen kann im Schulbetrieb. Das ist kenntnisreich geschrieben und reflektiert wahrscheinlich ziemlich treffend die verborgenen Ebenen der Macht, die in den Schulen wirksam sind, die Paradoxien, die sich aus der widersprüchlichen Zielsetzung ergibt, dass nämlich eine Schule eine pädagogische Institution ist und zugleich eine Behörde mit streng hierarchischem Aufbau unter staatlicher Kontrolle. Jetzt ist eine Konferenz nicht unbedingt das Spannendste, was man sich vorstellen kann. Es gibt in Bayern den Hans Klaffl, der ein recht gewitztes und intelligentes Kabarett über Schule macht. Dem Sinn nach beschreibt er eine Konferenz so, dass sich viele Leute fragen, was wohl Großes in einer Lehrerkonferenz besprochen wird. Das müsste ja unheimlich wichtig und aufregend sein. Und er haut das dann runter mit der Frage: "Haben sie schon einmal Farbe beim Trocknen zugesehen? Auf dem Spannungsgrad liegt die Lehrerkonferenz." Das trifft es gut und das beschreibst Du ja in Teilen auch so. Von da her ist es schon ein gewagtes Unterfangen, eine Lehrerkonferenz zum Thema einer Geschichte zu machen. Ich finde, in einigen Teilen ist das schon gelungen in der Story. Die Bezüge kommen raus, die Verstrickung in den Apparat, die Ausrichtung, wenn der Chef erscheint, die nonverbalen Zeichen, die feinfühlig aufgenommen werden, die Ambivalenz der Lehrerin, die sicher im heutigen Schulsystem ebenso realistisch ist. Das ist nicht altbacken. Das gibt es. Also, den Kern der Sache finde ich gewagt gewählt, aber gut getroffen. Übrigens auch die immer unfreiwillig komische und verkrampfte Sprache der Pädagogen in den direkten Reden, die bemüht hochgestochen, aber irgendwie auch immer unbeholfen und formelhaft erscheint und damit so oft am Ziel, Individuen gerecht zu werden, komplett vorbeischießt.
Jetzt muss ich aber dann zum "aber" kommen und das sind zwei Sachen, die mir auffallen:
Zum einen lässt sich der Text im Erzählton auf die Geschwätzigkeit der Lehrer selbst ein. Da ist der Text unentschlossen, ob er jetzt den Bogen noch weiter spannen soll zur Polemik und zur Satire. Den Schritt geht er aber nicht. Andererseits wagt er aber erst recht nicht den Schritt zurück in die Reduktion. Das beginnt schon am Anfang mit dem sehr umständlichen Einstieg, wo in einem Satz alles gesagt werden soll über den Physiklehrer, der dann auch noch "verantwortlich zeichnet". Da geht sich die Sprache quasi selbst auf den Leim, übernimmt den Tonfall derer, die sie beschreiben soll. Das ist in den Dialogen mehr als angebracht und auch gelungen. Aber im Erzählton braucht es meiner Meinung nach da eine andere Ebene, die satirisch oder unterkühlt sein kann, aber nicht beamtisch. Dadurch erklärt der Text auch sehr viel in den kursiven Anmerkungen, was eigentlich nicht nötig ist. Da geht die Geschichte zu sehr in einen ambitionierten Darstellungsmodus hinein, der nicht so passt. Weil das, was sich da abspielt, das sind ja auch ganz feine Fäden. Da zappelt eine im Netz und keiner stürzt sich auf sie, sondern sie wird so fies umgarnt und das ist eine super Erzählausgangslage. Da fände ich eine abgespeckte Sprache interessanter.
Der zweite Einwand lässt sich auch mit "ambitioniert" gut beschreiben. Der Schluss ist so ein Rundumschlag, was man noch alles anführen kann, was in der Schule schlecht läuft. Da geht dann das Ziel schon sehr verloren, in der Mitte vielleicht auch manchmal, wenn es da und dort zu ausführlich ist. Als innerer Monolog der Lehrerin, ja, so ist das gedacht. So ist es aber nicht dargestellt. Dafür müsste es viel individueller in der Sprache sein. So ist es ein angepapptes Pamphlet, das keine Wirkung entfaltet, also, meiner Meinung nach.
HerrLehrer, ich finde, wie gesagt, die Themenwahl spannend und auch die kenntnisreiche Schreibe. Das hat eine Menge Potential, wenn man sprachlich was dreht.
Beste Grüße
rieger

 
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Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Hallo Kellerkind,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, wobei ich deine Kritik weniger als Textkritik, sondern vielmehr als Kritik am Personal meines Textes empfinde. Deine Aufregung über die Protagonistin finde ich gut, da sie dich nicht kaltlässt und dich an deine offenbar unschöne Schulzeit erinnert. Man merkt, du bevorzugst den laisser-faire Lehrertyp, die Geschichte wird aber aus Sicht von Frau Sträter erzählt und erlebt, die diesem Lehrertyp, da gebe ich dir recht, so gar nicht entspricht.

Ein paar Fragen hätte ich noch:

"und mit Fremdwörtern gespickt" - kannst du ein Beispiel nennen?

"die Diskussion um faire Benotung der Schüler wird oberflächlich ausgewalzt." - wieso empfindest du das als oberflächlich?

LG,

HL


Hallo Träumerle,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Die sprachlichen Unsauberkeiten bügle ich noch aus.

A propos: J'accuse! (Was für ein Bild. Plötzlich streckt jemand im Lehrerzimmer die Hand in die Höhe und ruft etwas auf französisch)

Vielleicht muss man Französischlehrer sein, um die Anspielung zu verstehen. Einfach mal googlen.

LG,

HL

Hallo erdbeerschorsch,

auch dir vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

LG,

HL


Lieber rieger,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Dein fundierte Kritik empfinde ich als die bisher hilfreichste, vor allem diese Kommentare geben mir zu denken:

"Zum einen lässt sich der Text im Erzählton auf die Geschwätzigkeit der Lehrer selbst ein. Da ist der Text unentschlossen, ob er jetzt den Bogen noch weiter spannen soll zur Polemik und zur Satire."

Polemik und Satire sind nicht das Ziel, es geht mir hauptsächlich um Authentizität, die dadurch entstehende Langeweile nehme ich in Kauf.

"Als innerer Monolog der Lehrerin, ja, so ist das gedacht. So ist es aber nicht dargestellt. Dafür müsste es viel individueller in der Sprache sein. So ist es ein angepapptes Pamphlet, das keine Wirkung entfaltet, also, meiner Meinung nach."

Wenn ich das richtig verstehe, erwartest du mehr Distanz vom Erzähler zum Erzählten. Da er aber hier alles durch Sylvia Sträters augen wahrnimmt, weiß ich nicht recht, wie ich diese Distanz einbauen kann.

Ideen?

LG,

HL

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @HerrLehrer,

da hast du ja ein äußerst aktuelles Thema aufgegriffen, wenn ich mir die heutige Tagesschau anschaue:
"Immer mehr Schüler fallen durch"

Dein Text ist sprachlich gut geschrieben und zeugt von Insiderwissen, das ich auch habe. Ich bin allerdings seit 12 Jahren pensioniert und tue mich schwer damit, dass ein solcher Druck, wie du ihn beschreibst, tatsächlich heute noch auf Kollegen ausgeübt wird. Interessant finde ich, wie sich die Haltung zu Leistung, die durch Noten dokumentiert, umgekehrt hat: Früher waren es die Oldies, besonders die Schulleiter, die das Leistungsprinzip ganz oben angesiedelten, während die jungen Wilden "ganzheitliche Sicht" reklamierten, bzw. die soziale Herkunft ihrer Schüler im Blick hatten. Diese Perspektive habe ich auch einmal in einer Geschichte verarbeitet. Ich schreibe dir dazu eine PN.
Warum ich glaube, dass dieser Text nicht viele Leser finden wird?

Grundsätzlich ist es so, dass die Schulzeit am Gymnasium von vielen, auch erfolgreichen Menschen, als verlorene Zeit gesehen wird. Negative Erfahrungen mit ungerechten Lehrern, Lernmethoden und Lernstoffe an den Interessen der Schüler vorbei hat viele dazu gebracht, das Kapitel Schule in den Orkus zu verbannen. Wenn dann die eigenen Sprösslinge Schwierigkeiten in der Schule haben, tauchen die alten Erfahrungen wieder auf. Das Thema ist komplex und nicht leicht, in einer Kurzgeschichte zu verarbeiten.

Nun zu ein paar kritischen Anmerkungen.

Deine Prota hadert mit vielen Erscheinungen des Schulalltags. Engagiert wie sie ist, hat sie alle Chancen, in einem burn out zu landen. Die Notengeschichte ist ja nur die Spitze des Eisberges. Da ist die hierarchische Struktur, das duckmäuserische Kollegium, der mangelnde Wille zur Solidarität mit den Kollegen im Blick auf angemessene Leistungen. Ihr Selbstbild als Lehrerin gerät unter Druck. Und sie möchte ebenfalls Anerkennung finden, eine "gute" Lehrerin sein, am besten eine "Lieblingslehrerin". Sie wirkt verbissen und rechthaberisch, sympathisch ist sie nicht unbedingt. Nun, das muss sie nicht sein, aber es führt dazu, dass ich als Leser/in von der Fülle ihrer Gedanken erschlagen werde. Für eine Kurzgeschichte ist das zu viel. Denn selbst, wenn ich ihrer Argumentation folgen würde, was ich nicht vollständig tue, finde ich den Text ermüdend, stellenweise auch langweilig.

Kürzen wäre die erste Option. Ich habe einmal eine Textstelle herausgesucht, auf die ich ohne weiteres verzichten könnte.

Eine gute dreiviertel Stunde später begannen die Zeugniskonferenzen. In einem der größeren Klassenräume hatte Herr Wendland seinen Laptop an einen Beamer angeschlossen um die Notenübersicht aller Schüler an die Wand projizieren zu können. Nach und nach betraten die einzelnen Fachlehrer den Raum und verteilten sich ungeordnet auf den Stühlen. Der Klassenlehrer, Herr Schüttert, überprüfte die Anwesenheit aller Fachlehrer und bemerkte, dass die Sportlehrerin Frau Waschke noch fehlte. Ein Kollege ging sie suchen und kam wenige Minuten später mit ihr im Schlepptau zurück. Der Schulleiter selbst war nicht anwesend.

Kann total wegfallen, das Kollegium ist schon genügend charakterisiert.
Solche Passagen gibt es noch einige. Streichen, was schon ähnlich beschrieben wurde.

Erzählperspektive überprüfen. Genau prüfen, ob die Protagonistin wissen kann, was im Gegenüber vorgeht.

Jetzt sah Gregor Wendland zu ihr auf. Er schaute sie an, als nähme er sie zum ersten Mal richtig wahr, als sei sie doch mehr als ein kleines Sandkorn im geschmeidigen Getriebe seiner Mittelstufe. Er sah sie an wie einen Gesteinsbrocken, der plötzlich vom Berg auf die Straße vor ihm gekracht war. Doch er wusste seine Überraschung gekonnt zu überspielen.

Wieder entstand eine Pause. Herr Diedrichs schaute Sylvia prüfend an, Sylvia hielt seinem Blick mit unbewegter Miene stand. Der Schulleiter realisierte, dass hier nichts zu holen war. Aber eines hatte er erreicht: In den Augen einiger Kollegen galt Sylvia Sträter fortan als unverhältnismäßig streng und persönlich in ihrer Notengebung. Und auch Sylvia konnte nicht mehr zweifelsfrei sagen, ob sie an der Fünf festhielt, weil Jamal sie verdiente oder weil ihr die Art der Einflussnahme seitens der Schulleitung so missfiel.

Dialogführung straffen. Die folgende Passage eignet sich sehr gut zu einem Schlagabtausch. Die Monologisierung müsste ersetzt werden durch abwechselnde Rede. Das wäre auch eine schöne Gelegenheit, die Prota so kämpferisch zu zeigen, dass sie Sympathiepunkte erwirbt.

Wieder wurde eine Weile geschwiegen. Herr Wendland, in Erwartung, dass der Schulleiter sich nun zu Wort melden würde, schwieg sich aus, genauso Herr Schüttert. Auch die anderen Kollegen erkannten, dass der Schulleiter kurz davor war, Einspruch zu erheben.
„Wie waren denn die Noten in den Klassenarbeiten?“, fragte Herr Diedrichs schließlich, in einem nicht unfreundlichen, aber doch sehr sachlichen Ton.
Sylvia warf einen Blick in ihren Lehrerkalender.
„Im ersten Halbjahr eine Drei minus und eine Fünf minus. Im zweiten Halbjahr eine Vier minus und eine Fünf minus.“
Herr Diedrichs setzte einen leicht irritierten Blick auf.
„Jamal ist also durchaus in der Lage, befriedigende oder ausreichende Leistungen abzurufen.“
„Ja, natürlich“, entgegnete Sylvia Sträter. „Das Potential hat er. Aber das Notenbild weist eine klare Tendenz auf, und ein einzelnes Befriedigend im ersten Halbjahr bewahrt einen Schüler nicht vor einem Defizit.“
„Es macht aber die Jahresendnote juristisch anfechtbar“, warf Herr Wendland ein.
Jetzt war für Sylvia der Bogen überspannt.
„Entschuldigen Sie, aber wer geht denn bitte juristisch gegen mich vor? Die Eltern von Jamal ja wohl nicht. Ich verstehe den Kontext dieser Aussage nicht.“
„Niemand will juristisch gegen Sie vorgehen, Frau Sträter“, beschwichtigte Herr Wendland sogleich. „Ich wollte lediglich auf Fälle von Widersprüchen verweisen, die ich selbst erlebt habe und in denen Kollegen aufgrund befriedigender Leistungen in Klassenarbeiten argumentativ ins Schwimmen gerieten. In der Regel werden Widerspruchsverfahren gegen den Lehrer entschieden.“
„Das mag sein“, warf Sylvia Sträter ein, überrascht über ihren Mut zur Konfrontation, „aber wenn wir jede Entscheidung, die wir hier treffen, von ihren möglichen Konsequenzen aus bewerten, dann treffen wir am Ende gar keine Entscheidungen mehr. Und aus Angst vor Entscheidungen lassen wir den Schülern dann alles durchgehen. Ich würde es auf einen Widerspruch ankommen lassen. Die Leistungen, beziehungsweise die Minderleistungen Jamals sind genau dokumentiert.“
„Ihnen ist aber bewusst“, fragte Herr Diedrichs nun, „dass Jamal sich dann in den Sommerferien auf die Nachprüfung vorbereiten muss und im Falle des Bestehens kein Französisch mehr haben wird?“
„Das ist mir bewusst. Das war mir bewusst“, erklärte Sylvia kurz angebunden. „Auch Jamal wurde auf diesen Umstand mehrmals hingewiesen.“

Schluss überarbeiten. Kein "Manifest" zum Schluss, sondern eine knappe Absichtserklärung, dass ihrem Freund die Kinnklappe runterfällt. Überhaupt finde ich, die Paarproblematik sollte hier ausgespart bleiben. Wäre ein neues Fass aufgemacht.

Noch ein paar "Flusen", die mir aufgefallen sind. Kann sein, dass es noch mehr gibt...

Wendland ohne Sylvia dabei anzuschauen.

Komma vor ohne. Erweiterter Infinitiv.

lassen, dass sie
das sie

ich Ihnen
ich ihnen

danke Gregor
danke, Gregor,

hervor tut.
hervortut


Ich hoffe, du kannst was damit anfangen.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo @HerrLehrer

Vielen Dank für Deine Antwort.
Als erstes ein kleiner Tipp: Wenn Du bei Deinen Antworten ein @ vor den Usernamen setzt, wird derjenige auch informiert, dass da etwas an ihn geschrieben wurde. Andernfalls, kann so ein Beitrag schnell übersehen werden. (Wie es mir fast passierte)

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, wobei ich deine Kritik weniger als Textkritik, sondern vielmehr als Kritik am Personal meines Textes empfinde.

Du hast im Prinzip Recht: Ich lasse mich emotional schnell von den Protagonisten aus der Ruhe bringen, wenn sie mir auf den Keks gehen. Ich bin hier hauptsächlich als "normaler" Leser und lese dementsprechend in erster Linie mit den Augen eines Konsumenten. Aber ich versuche mal, meinen Frust etwas tiefer gehend begründen.
Ein Protagonist muss nicht sympathisch sein. Ich selbst mag es immer wieder, Charaktere darzustellen, die nicht bquem sind und als Everybody's Darling durchgehen. Aber in dieser Geschichte spüre ich, die Parteinahme des Erzählers. Ich habe den Eindruck - der falsch sein kann - dass die verkrampfte, engstirnige Sicht der Lehrerin als idealistische Haltung positiv bewertet wird.
Obwohl ich mich genauso vom Gruppenverhalten des Lehrerkollektivs abgestoßen fühle, kann ich deren Motivation viel besser nachvollziehen, als die der Lehrerin.
Da stecke ich als Leser in einem Dilemma. Einerseits begrüße ich die Haltung von Personen, die konsequent zu ihren Ansichten stehen und dieses angepasste Mitläufertum der restlichen Lehrer lehne ich ab. Andererseits lehne ich nun gerade die Ansichten der Heldin selbst energisch ab.
Meine Selbstanalyse ergibt, dass mich diese Unentschlossenheit, die der Text in mir auslöst, in mir Wut erzeugt. Die entlädt sich dann auf das naheliegende Opfer; die Lehrerin.
Das kann darauf hindeuten, dass der Text den Anspruch erfüllt, nicht einfach zu sein. Aber ärgern tut er mich trotzdem.

"die Diskussion um faire Benotung der Schüler wird oberflächlich ausgewalzt." - wieso empfindest du das als oberflächlich?

Das war in der Tat etwas knapp formuliert.
Ich meinte damit, dass sehr viel um die Frage getanzt wird, ob Lehrer nun etwas lockerer mit Notengebung umgehen sollten oder streng nach Vorschrift agieren. Aber es geht nicht so weit in die Tiefe, das System in Frage zu stellen oder zumindest mal anzukratzen.
Was ich meine: Die Sinnfrage von Schule, Lehre, Ausbildung. Wozu soll die Schulbildung dienen? Und wird das durch das gegenwärtige System von Leistungsdruck, Wettbewerb, Bestrafung usw. überhaupt erreicht?
Aber welchen Sinn haben schlechte Noten auf dem Abschlusszeugnis, die den Schülern zuerst die Motivation am Lernen rauben und zuletzt den weiteren Lebensweg verbauen? Passt dieses System in eine Zeit, die so verschieden ist von der Zeit zu der es entstand?
Das Thema hat großes Potential für eine gesellschaftspolitische Analyse und kriecht statt dessen zu sehr auf der Oberfläche herum.
Es fehlen mir gut durchdachte Argumente des Lehrerkollektivs, wie z. B. Ergebnisse von Lernforschung im Zusammenhang mit neurologischen Erkenntnissen. Nein, die Lehrer werden simpel als Schlendriane und Duckmäuser dargestellt.
Und wie die Figuren dargestellt werden, soll eine Botschaft transportieren.
Es sind eben nicht vorrangig die Charaktere an denen ich mich abarbeite, sondern die pädagogische Absicht , die hinter dem Text steckt.
Wenn das nicht beabsichtigt war, dann habe ich sie vielleicht zu emotional interpretiert. Das kann vorkommen.
Wenn es doch beabsichtigt ist, dann gehen unsere Meinungen eben stark auseinander und das wäre auch kein Beinbruch.

So weit!

Schöne Grüße
Kellerkind

 
Zuletzt bearbeitet:

Alles schon gesagt und doch hab ich das Gefühl, dass meine Vorredner erstarren vor dem Image des Herrn Lehrer, dem Kollegium und der Konferenz als einer Zusammenkunft von Experten, um über fachliche und soziale Fragen zu sprechen. Aber auch diese Art von dargestellter Technokratie zeigt neben den von den Vorrednern aufgezeigten Problemen ihre schwachen, trivialen Probleme wie etwa der Anwendung der neueren amtlichen deutschen Rechtschreibung und Zeichensetzung, wie etwa der Kommasetzung bei Infinitiv-Konstruktionen mit dem Charakter eines Nebensatzes, wenn sie – wie z. B. der einleitende Satz dieses Beitrages hier, mit dem schlichten „um“ beginnen. Da vermute ich geradezu eine Verweigerungshaltung von Dir,

lieber @HerrLehrer.

Sie ließ sich Zeit[,] um nicht mit Herrn Wendland reden zu müssen.
Aber ich habe ebenso klar gemacht, dass ich ein Mindestmaß an Engagement erwarte[,]
um am Ende guten Gewissens die Vier setzen zu können.

In einem der größeren Klassenräume hatte Herr Wendland seinen Laptop an einen Beamer angeschlossen[,] um die Notenübersicht aller Schüler an die Wand projizieren zu können.

(Es darf nicht verschwiegen werden, dass Du die Regel und somit die neuere amtliche Rechtschreibung an sich kennst, denn gegen Ende der Geschichte wendestu sie korrekt an.
Flüchtigkeit während einer Konferenz – das gibt zu denken!)

Hier nun

Er schaute sie an, als nähme er sie zum ersten Mal richtig wahr, als sei sie doch mehr als ein kleines Sandkorn im geschmeidigen Getriebe seiner Mittelstufe.
frage ich mich, warum der Konjunktiv II, der Konj. irrealis nicht durchgehalten wird, als wäre die Kollegin als Sandkorn realer als die vermeintliche erste Wahrnehmung zuvor.

Und die Frage ist dann, wie viel Sinn es macht, zwei Schüler die kompletten Sommerferien für ein Fach lernen zu lassen, das[...] sie im nächsten Jahr gar nicht mehr haben.
Warum der Anglizismus „to make sense“, wenn das nhd. es in einem „sinnvollen“ Wörtchen ausdrücken kann?
Viel schlimmer aber wirkt eine Verwechselung, die so etwas wie ein SuperGAU der schreibenden Zunft ist, nämlich die Verwechselung der Konjunktion „dass“ mit dem vielgestaltigen (Artikel, div. Pronomen) „das“. Aberkeine Bange, kann und wird mir somit auch gelingen.

Hier nun

Sylvia stutzte. Es wunderte sie, dass beide Schüler in den anderen Kernfächern ein Ausreichend hatten. Sie hatte vor zwei Tagen noch mit dem Mathelehrer der Klasse gesprochen und ihn nach Jamal und Maik gefragt. Da hatte er beiden noch eine Fünf geben wollen. Wieso hatte er die Noten nochmal geändert?[,] dachte Sylvia. Na klar, der Mathelehrer hat wahrscheinlich auch schon hier gesessen und ist von Herrn Wendland ‚bearbeitet’ worden. Ganz schön trickreich, dieser Wendland.
ist formal (außer dem m. E. eines Kommas des wörtl. Wiedergegebenen Gedankens) nix falsch – aber es ist Schulgrammatik, die gerne verdrängt, dass Vorzeitigkeit auch ohne zwostellige Zeitenfolge dargstellt werden kann, ohne Diktatur der Hifsverben und der Partizipienreiterei.

Wenn es im Futur (das immer zwostellig auftritt, ob vollendet oder nicht) die Möglichkeit gibt, die Zwostelligkeit aufzuheben (statt eines korrekten „ich werde kommen“ ein schlichtes „ich komme morgen“) als historischem Futur, so muss es diese Möglichkeit auch in der Rückschau geben und die lieferstu gleich mit in der kurzen Passage

Sie hatte vor zwei Tagen noch ...

und wirkt nicht ein
„Sylvia stutzte. Es wunderte sie, dass beide Schüler in den anderen Kernfächern ein Ausreichend hatten (ersatzweise: bekamen). Sie hatte vor zwei Tagen noch mit dem Mathelehrer der Klasse gesprochen und fragte ihn nach Jamal und Maik. Da wollte er beiden noch eine Fünf geben. Wieso änderte er die Noten nochmal?, dachte Sylvia. Na klar, der Mathelehrer saß wahrscheinlich auch schon hier und wurde von Herrn Wendland ‚bearbeitet’."
wesentlich eleganter?

Mein Angebot, ein Referat zu machen, haben beide ausgeschlagen und beide haben auch den Förderunterricht nicht besucht, obwohl ich Ihnen dringend dazu geraten habe.
Warum die Höflichkeitsform?

Hier wäre ein zwoter Punkt zu streichen (oder sollen es Auslassungspunkte werden?)

..., ich denke da an eine Zeugnisbemerkung, ein Elterngespräch oder ähnliches, auf jeden Fall..“
(passiert nochmals, hier
Kommen wir zum nächsten Schüler..“

Hier nun
Er rutschte etwas tiefer in seinen Stuhl, schaute sich kurz hilfesuchend um räusperte sich dann.
fehlt ein Komma oder eine Konjunktion

Irgendwann hatte Sylvia sich so[...]weit beruhigt, dass sie ihre Erschütterung vorläufig ablegen konnte.
Da hab ich gestutzt, denn vor der ungeliebten Rechtschreibreform wurde „soweit“ i. d. R. zusammengeschrieben, nun nur noch die Konjunktion, „soweit“ ich weiß, alle anderen Konstruktionen aus einander

„Und...hast du?“, fragte sie gespannt.
Auslassungspunkte immer mit Abstand zu den Wörtern, denn direkt am Wort behaupten sie, dass wenigstens ein Buchtabe fehle, was nicht der Fall ist. Da wäre die Ästhetik des Apostroph‘ auch viel rationeller ...

Und hier

Als sie wieder im Erdgeschoß …
folgstu – wahrscheinlich unbewusst – auch der alten amtlichen Rechtschreibung, ausgerechnet, wo den Gelehrten die sinnvolle Trennung von kurzen Silben („Fluss“) von gedehnten Silben („Fuß“) gelungen ist. Besser also „Erdgeschoss“

„Danke“, wi[e]derholte Herr Paul. „Super!“
Ständig versuchte Sylvia[,] den einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen, …
Vielleicht erwarte ich zu[...]viel von diesen Kindern.

Insgesamt ist Dein Debüt – so finde ich - eine interessante Erfahrung, vor allem für einen, der nach Wunsch seines Klassenlehrers an der Realschule auf Lehramt – der gute Mann wurde sehr präzise - Deutsch und Geschichte studieren sollte. Aber der 16jährige Friedel wollte sich nie mit seinesgleichen rumschlagen müssen ... und Industriekaufmann und Chemielaborant sind ja auch anständige Berufe.

Wie dem auch sei,

lieber HerrLehrer,
es wird schon werden und da die Sonne hier im Pott lacht,
Frohe Ostern!,

Dir und allen, die den Komm lesen

 

Hallo HerrLehrer,

ein flüssig und zielstrebig geschriebener Text, der einerseits persönliche Belange, andererseits auch prinzipielle Probleme aufzeigt. Die müssen auch nicht essayhaft ausgeführt werden, mir gefallen die Fingerzeige, die deine Geschichte enthält.

„Jetzt sah Gregor Wendland zu ihr auf. Er schaute sie an, als nähme er sie zum ersten Mal richtig wahr, als sei sie doch mehr als ein kleines Sandkorn im geschmeidigen Getriebe seiner Mittelstufe. Er sah sie an wie einen Gesteinsbrocken, der plötzlich vom Berg auf die Straße vor ihm gekracht war“

Eine schöne Beschreibung, der Focuswechsel vom Kleinen zum Großen.

„Herr Wendland nickte verständnisvoll.
„Natürlich entscheiden Sie letztendlich über die Noten, die Sie setzen. Allerdings nehme ich in meiner Position einen anderen Blickwinkel ein als Sie, einen Blickwinkel nämlich, den ich als ganzheitlich beschreiben würde“

Ein anschaulicher Gegensatz, dieses verständnisvolle Nicken, dann aber das arrogante Gehabe, die Überheblichkeit des überlegenen Blickwinkels.

„War sie wirklich so ungnädig, wie die Männer sie darstellten? Wirkte sie nun auf die Kollegen wie eine jähzornige, privat frustrierte Endzwanzigerin? Warum hatten die Kollegen nichts gesagt? Billigten sie diese Form der Nötigung? Fanden sie es nicht ebenso lächerlich, mit welchen Leistungen hier einige Schülerinnen und Schüler versetzt wurden? War sie zu idealistisch? Und was bedeutete das für ihre Zukunft an der Schule? Eine A14-Stelle konnte sie sich vorerst wohl abschminken“

Diese Selbstzweifel, die Unsicherheit bei der Einschätzung der Kollegen, kann man gut verstehen.

Noch ein paar Kleinigkeiten:

Wieso hatte er die Noten nochmal geändert?

- Eigentlich nicht „nochmal“.

Zeugnisbemerkung, ein Elterngespräch oder ähnliches, auf jeden Fall..“

- Fall …“ (noch zwei andere Stellen).

„Der Schulleiter wird wahrscheinlich der Zeugniskonferenz beiwohnen.“

- Dieser Wendland spricht aber, nicht nur bei diesem Zitat, ziemlich druckreif – gut, das mag es geben.

Wenn dann der ‚Schüttert‘ auch noch so anfängt:

„Vor allem Maik, Amer und Nabil geraten immer wieder mit Annika, Gizem und Fatima aneinander. Hinzu kommt, dass Polina von allen Klassenkameraden geschnitten und isoliert wird, wobei ich das Gefühl habe, dass Polina das nicht sonderlich berührt. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern Polinas jüdische Herkunft für diese Isolierung verantwortlich zeichnet.“

Etwas zu viel des Guten.

„der Schulleiter, Herr Diedrichs, schob sich durch den Rahmen.“

- Warum muss er sich ‚schieben‘?

„Und...hast du?“, fragte sie gespannt.“

- Und … hast

Liebe Grüße,

Woltochinon

 

@wieselmaus @Friedrichard @Woltochinon

Wenn auch bei zweien von euch mit Verspätung, möchte ich mich trotzdem für die Besprechung und das Kommentieren meiner Zeugniskonferenz bedanken.

Vielleicht, so hoffe ich jedenfalls, fällt die von euch geäußerte Kritik (zu ausführlich, Manifest am Ende) weniger stark aus, wenn ich euch sage, dass der vorliegende Text nich als in sich geschlossene Kurzgeschichte verfasst wurde, sondern als Teil eines Romans, der die Welt der Schule aus zwei Perspektiven betrachtet, nämlich aus der einer jungen, idealistischen Lehrerin wie hier und eines älteren, bereits desillusionierten Lehrers. Allerdings, das muss ich hinzufügen, hab ich das Projekt momentan auf Eis gelegt, da es doch recht anstrengend ist, die Welt der pädagoischen Bürokratie anregend und unterhaltsam zu gestalten.

Der vorliegende Text war Kapitel 4 des Projektes. Bei Kapitel 5 bin ich dann stecken geblieben. Insgesamt bin ich jetzt selbst der Meinung, dass man den Betrieb kennen muss um den Text unterhaltsam zu finden oder sich identifizieren zu können.

Liebe Grüße, vielen Dank und Entschuldigung für die späte Reaktion.

Schönes Wochenende,

HL

 

Lieber @HerrLehrer,
vielen Dank für den Einblick in Leben und Treiben auf dem Planeten Schule. Für die meisten eine fremde Welt, eine in die man sich nicht einfinden kann, obwohl man zwar jahrelang Schüler gewesen ist. Was jenseits dieser Türen von Lehrerzimmer, Direktorat usw. vor sich geht ist weitgehend unbekannt. Danke, dass du in deinem Bericht wenigstens ein bisschen den Vorhang gehoben hast.
Ich war jahrelang als Lehrkraft an einer Berufsfachschule tätig und schon vor mehr als einem Jahrzehnt haben wir unter der schlechten Vorbildung der Schüler gelitten. Bestimmten Ausbildungsgängen musste sogar die Benutzung eines Taschenrechners beigebracht werden, schlimm waren auch die Vorkenntnisse in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Deutsch, natürlich. Das alles hat sich nicht verbessert, obwohl die Pisa-Studien immer mal wieder ein Schlaglicht auf die Defizite werfen. Dann befällt die Politiker Hysterie und alles muss schnell-schnell-schnell viel besser werden. Wird es aber nicht.
Befreundete Lehrer erzählen Ähnliches wie du, Druck auf diejenigen die auf ehrlicher Notengebung bestehen. Von allen Seiten, aus dem Kollegium, von den Vorgesetzten, von den Eltern und von Anwälten der Eltern.
Auch wir hatten einen Schulleiter, der uns angewiesen hat, den vorher üblichen Notenschlüssel der IHK gegen einen selbstgebastelten, sehr viel milderen, auszutauschen. Das half aber nicht viel gegen Eltern, die den schulischen Erfolg ihrer Kinder gegen alle Realität durchsetzen wollten, bis hin zu Anwälten, die sich nicht zu fein waren, diesen Unfug zu vertreten. Ich dagegen habe mir oft vorgestellt, ich müsste mit genau diesen Schülern zusammenarbeiten. In derselben Schicht mit ihnen an den Maschinen stehen. Das war es, was ich mir als Lehrkraft vor Augen gehalten habe, wie werden sich die Schüler in ihrem späteren Leben verhalten. Ich wollte mich nicht mehr mitschuldig machen, dass so viele ungeeignete Personen an verantwortliche Positionen gespült werden. Deswegen bin ich in meinen angestammten Beruf zurückgekehrt.
Was ich jetzt im Betrieb erlebe, sind zahlreiche junge Menschen, die sich nicht artikulieren können, denen die elementaren Höflichkeitsformen abgehen, die für jede Form von Lösungsfindung ungeeignet sind. Damit kann man keinen Staat machen.

Lieber Herr Lehrer, ich verstehe sehr gut, was dich umtreibt. Bitte bleib der Schule als engagierter Lehrer noch lange erhalten. Wir brauchen gute Lehrer!
Viele Grüße
Karlchen

 

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