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Zeugnis - Testimony
Emo Nubb war fett. Sein zusammengesackter, nackter Körper lag vorgebeugt auf dem Schreibtisch. Sein Kopf war von einem Kranz aus zähem Blut umringt, das an der Seite vom Tisch tropfte.
Detective Zhu hob die schlaffe Hand des Toten hoch und murmelte:
“Wiegt ungefähr eine Tonne...”
Detective Stilt sah ihn daraufhin an und mahnte:
“Zhu, wir sind nicht hier, um den Toten zu wiegen.”
“Herzversagen in Folge von Fettleibigkeit kommt trotzdem nicht in Frage”, antwortet Zhu ungerührt.
“Das war ein glatter Durchschuss!” Stimmte Stilt zu.
“Rein durch die Stirn, raus mit dem Hirn...” reimte sein Kollege.
Stilt schüttelte den Kopf über Zhu's fehlendes Einfühlungsvermögen. Sein Kollege war rein thalamisch geprägt . So etwas wie Empathie war ihm völlig fremd. Aber dennoch, oder vielleicht auch deswegen war er ein hervorragender Cop. Sie sahen zu oft solche Szenen und hatten ihre Ehrfurcht vor dem Tod vor langer Zeit verloren. Stilt tat lediglich so als besäße er noch Anstand, wenn er mechanisch den Hut abnahm und der Witwe sein Beileid aussprach. Es war einfach zu sehr Business-as-usual, um sie noch zu tangieren.
„Ok Shakespeare, lassen wir die Forensik ran. Für uns gibt es erstmal einen Bericht zu schreiben und ein paar Interviews. Immerhin ist gerade der mächtigste Mann der Welt gestorben.“
Zhu seufzte.
„Und was schreiben wir in den Bericht rein, Chef?“
Stilt sah sich im Raum um, sein Blick glitt über den Schreibtisch, das zerbrochene Panzerglas des Büros und die nassen Fußabdrücke, Größe 34, auf dem Boden und ein Mann mit zwei Löchern im Kopf.
„Mord...“ Sagte Stilt.
Zhu pfiff zwischen den Zähnen als wäre gerade eine scharfe Frau vorbeigegangen.
„Eine Frage bleibt uns aber auf jeden Fall: warum ist nackt?“
Das 22. Jahrhundert war keine Zeit der Ernsthaftigkeit. Seit dem bedeutsamen Durchbruch der Fusionsenergie waren die größten Probleme der Menschheit beseitigt und die Unterhaltungsindustrie konnte sich ungezügelt ausbreiten. Mit der Umweltverschmutzung vergangener Jahrhunderte, speziell des Jahrhunderts der Nach-Industrialisierung, schlug man sich zwar noch immer herum, aber man konnte sich jederzeit aus der Realität ausklinken und in virtuelle Räume fliehen. Das Zeitalter der Vergnügungen und der Unterhaltung war angebrochen.
Nach dem Motto „Wer Spielt mordet nicht“ waren große Zweige der Weltwirtschaft nur darauf bedacht möglichst vielen Menschen möglichst große Freuden zu bereiten; bei einem Maximum an Profit, versteht sich. Das Ergebnis dieser Bemühungen durch die Unterhaltungsindustrie war in erster Linie weit verbreiteter Analphabetismus, denn das geschriebene Wort wurde als rückständig und unnütz – als primitiv – empfunden.
Das virtuelle Erlebnis konnte in der Vergangenheit oder Zukunft liegen, es konnte real oder erfunden sein. Die Simulation durch die Konsolen war so gelungen, dass man vergessen konnte, dass man sich in einer nicht-wirklichen Welt befand, zumindest, wenn man Unterdrücker nahm.
Obwohl viele Drogen, z.B. Extasy, LSD und Cannabis inzwischen frei erhältlich waren, gab es nach wie vor den Bann auf A-Klasse Drogen. Neben Kokain und Heroin zählte dazu auch Brom 13, die besagte Substanz zur Bewusstseinsunterdrückung. Für sich genommen hatte Brom keinen merklichen Effekt, aber wenn man es einnahm bevor man virtuelle Welten betrat, hob es den Unterschied zwischen Virtualität und Wirklichkeit auf. Alles fühlte, schmeckte und sah so aus wie die Wirklichkeit.
Brom blockierte die natürliche Filterfunktion des Hirns und sorgte dafür, dass eine Comicfigur genauso real und glaubwürdig wurde wie der Präsident der nördlichen Hemisphäre. Im Laufe der Jahre hatte sich ein einträgliches Geschäft rund um Brom-Blocker entwickelt. Diese, in der Wirkungsdauer begrenzten Substanzen sollten vor Missbrauch schützen. So wurde Brom nur noch auf dem Schwarzmarkt und zu absurden Preisen gehandelt, denn es versprach den ultimativen Kick. Die Virtualität konnte sich nun zumindest genauso real anfühlen wie die Wirklichkeit. Jedes Tun blieb ja letztlich ohne Konsequenzen, das einzige Problem an der Droge war, dass sie dermaßen süchtig nach dem Kick machte, so dass sehr schnell Abhängigkeit entstand. Alkohol und Brom waren vergleichbar. Alkohol half bei der Flucht aus der Realität, Brom half bei der Flucht in die Virtualität.
Unübersichtlich wurde die Situation erst post-2050, als die Firma CraneX die ersten Angel konstruierte. Ein Angel ist eine polymorphe Maschine, die aus unzähligen winzigen Nukleotiden zusammengesetzt ist, die jede nur denkbare Form annehmen können. Die Größe des Angels hängt dabei ausschließlich von der Menge der eingesetzten Nukleotide ein. Diese Maschine war in der Lage jede erdenkliche und erfundene Maschine bis zur Perfektion nachzuahmen. Damit übertrug sich die virtuelle Realität auf die Wirklichkeit, denn alles, was sich virtuell darstellen ließ, konnte jetzt auch in der Realität geschaffen werden; theoretisch zumindest. Denn die Angel besaßen den Nachteil, dass sie sehr teuer waren. Weltweit gab es nur ein paar Dutzend Stück und die meisten besaßen gerade die Größe von Spielzeugsoldaten.
Emo Nubb hatte jede Menge Geld. Seine Eltern mussten ihn zwar sehr gehasst haben, als sie ihm seinen Namen gaben, aber sie hinterließen Emo das größte Vermögen des Planeten – und er vervielfachte es.
Nubb war schon als Kind ein Vielfraß und schluckte alles hinunter, was ihm essbar erschien. Das gleiche trieb er auf dem Weltmarkt und seine Firma EmoTech fraß sich durch die unterschiedlichsten Industrien und schluckte zuerst sämtliche Konkurrenz, dann alle Zulieferer und wurde zum letzten Bedeutenden Großkonzern der Erde. (Rüstungskonzern?)
Seine Eltern hatten Computerspiele und Computersysteme produziert. Emo produzierte virtuelle Welten und die Unterfirma CraneX stellte die ersten Angel nach seinen Vorgaben her. Zweifellos war er genial aber er war ebenso abscheulich und unausstehlich wie er gerissen und klug war. Er begründete die Bewegung des Tech-Darwinismus, denn eine Computergeneration musste die andere verdrängen, wenn sie in Konkurrenz zu ihr stand, oder sie musste eine Nische besetzen, in die die andere Variante nicht vordringen konnte.
Virtualität war billig, jeder konnte sie sich leisten und jeder konnte erleben was er wollte. Der reiche Mann konnte virtuell zum Bettler werden oder umgekehrt; umgekehrt war es natürlich beliebter.
Die Angels andererseits waren pure Exklusivität. Sie wurden in einer Atmosphäre gefertigt die 1000 Mal reiner sein musste, als die Bedingungen unter denen Mikrochips gebaut wurden. Menschen hatten keinen Zutritt zu den Fertigungshallen, der Prozess war vollständig automatisiert. Angels waren hochspezialisierte Nanomachinen vom Preis mehrerer Jetflieger oder Privatyachten. Daher bedeuteten sie eine Rückkehr zur Exklusivität und CraneX wuchs zur Nobelmarke innerhalb des Konzerns und bescherte Emo gewaltige Einkünfte. Weltweit gab es zwar nur ein paar Dutzend solcher Angel, deren Größe zudem durch den Geldbeutel des jeweiligen Geldgebers bestimmt war, dennoch galten sie als das höchste und erstrebenswertestes was man besitzen konnte.
In einer Welt, in der theoretisch jeder seine Träume ausleben konnte bedeutete es die einzig mögliche Steigerung, wenn man seine Träume Wirklichkeit werden lassen konnte. Nur Angel konnten die Realität zur Virtualität wandeln. Sie waren der Schritt der Fiktion aus dem Computer hinaus.
Emo hatte eine Menge Feinde. Wegen seiner Arroganz war er unbeliebt und wegen seiner Rücksichtslosigkeit gefürchtet. In jungen Jahren hatte er schiere Macht ausgestrahlt aber mit zunehmender Fettleibigkeit und dem Verlust der körperlichen Beweglichkeit verschwand auch seine Autorität. Mit Ende Vierzig war er am Ende und im Grunde genommen konnte man denken, sein Mörder habe ihm einen Gefallen getan, indem er ihn ermordete.
Die letzten Male, dass Stilt ihn im Holofern gesehen hatte waren gut zehn Jahre her. Emo war der Mann im Hintergrund. Mit Mitte Vierzig groß und schlaff wie ein Berg Pizzateig, war er dennoch in der Lage die Präsidenten beider Hemisphären zum Gespräch zu sich zu laden. Wenn er wollte konnte er ihnen sogar ihre gegenseitigen Hetzreden diktieren. Seine politische Macht stand der wirtschaftlichen in nichts nach aber Glück hatte Emo nie gefunden. Glück bedeutete für Nubb andere Menschen unglücklich machen zu können. Natürlich waren etliche Psychologen von früher Jugend an darauf bedacht das zänkische Kind aus im auszutreiben, aber nachdem ein paar Koryphäen für immer von der Bildfläche verschwanden kam die wissenschaftliche Welt überein, das man Nubb seine Macken ruhig lassen konnte, ja, dass sie geradezu das liebenswerteste an ihm waren.
Frauen hatte er reichlich aber keine die ihn liebten. Es war verlockend den reichsten Mann der Welt zu ehelichen, besonders da er sich kaum aus seinem Büro heraus bewegte. Seine Ehefrauen kamen auf ihre Kosten. Sie lebten wie Königinnen, verloren aber mit der Scheidung alles. Nubb sorgte für klare Gütertrennung, die nur im Falle seines natürlichen Todes oder durch Unfalltod aufgehoben wurde. Da er keine Kinder hatte würde in einem solchen Frau seine Frau alles erben. Daher war es nur natürlich, dass wir die aktuelle Mrs. Nubb als erste Zeugin einluden. Man ließ uns mitteilen, Frau Nubb ziehe es vor in ihrem Zuhause befragt zu werden und wir mussten wohl oder über darauf eingehen. Die Autorität der Behörde für Innere Sicherheit bedeutete im Angesicht solcher Reichtümer einen Fliegenschiss und wir folgten willig dem Ruf der Steuerzahler.
Detective Zhu war neugierig. Es geschah selten, dass Außenstehenden der Einlass in das Allerheiligste von Nubb – seine Privatsphäre - bekamen. Wir kannten Nubbs Büro. Das war an sich nicht besonders aufregend, eher nüchtern gehalten. Seine Privatsuiten aber, die die Stockwerke 91-117 des E-Towers ausmachten galten als die aufwändigsten Wohnräume der Welt. Schon alleine deswegen, weil seine Frauen freie Hand bei der Inneneinrichtung gehabt hatten.
Ich wusste mich erwartete Prunk und Protz und ich ermahnte Zhu sich davon nicht blenden zu lassen. Wir sprachen mit einer Verdächtigen in einem Mordfall und hatten zuerst einmal unseren Job zu tun.
Die Sicherheitsleute befummelten sie rundherum, obwohl sie schon am Eingang und im Lift gescannt worden waren. Ihre Pistolen mussten sie abgeben, widerwillig leisteten sie Folge. Gegen den Willen der Sicherheit bis ins 90. Stockwerk oder höher zu gelangen, schien ausgeschlossen. Deswegen hatte Emo Nubbs Killer es auch vorgezogen in schwindelnder Höhe durch dreißig Zentimeter starkes Panzerglas zu brechen, um zu ihm zu gelangen. Mit welcher Waffe sich der Attentäter durch das Glas gebrannt hatte und wieso Emo nicht nach der Sicherheit gerufen hatte, war nur eines unter vielen Rätseln, die der Fall aufgab.
Im 91. Stockwerk öffneten sich die Aufzugtüren und gaben den Blick auf etwas frei, das aussah wie ein arabischer Palastgarten aus 1001 Nacht. Der Aufzug öffnete sich in einen Pavillon, ornamental aus Holz und Elfenbein geschnitzt. Sicherheitsleute in schwarzem Smoking erwarteten sie und schritten ohne Begrüßung voran, in Richtung einer breiten und hohen Treppe, am Ende des Raumes. Zhu und ich folgten. Es roch nach Millionen blühender Blumen und neben uns fiel krachend ein Pinienzapfen zu Boden. Überall flogen kleine bunte Vögel umher und labten sich am Wasser der zahlreichen Brunnen und Wasserspiele. Kolibris flogen gewissenhaft von Blütenkelch zu Blütenkelch und tankten Nektar.
Nie im Leben hätte man angenommen, dass man sich im 91. Stockwerk eines der modernsten Gebäudes der Welt befand. Selbst die blauen Wände vermittelten, dank einer darauf projizierten Animation, das Gefühl von Weite. Man konnte kaum sagen, wo der eigentliche Raum aufhörte, es sei denn, die Illusion wurde durch das Öffnen einer Türe unterbrochen. Stilt wurde schwindelig, er stolperte fast und konzentrierte sich wieder auf das Treppensteigen. Sie folgten dem Sicherheitspersonal durch die massive Türe am Ende der Treppe.
Die Sicherheitsleute hielten die Flügeltür für sie geöffnet, scheinbar blieben sie hier zurück. Zhhu murmelte ein „Dankeschön!“ und folgte Stilt in den vergleichsweise düsteren Raum. Nach dem blendenden Sonnenschein im 'Palastgarten', brauchten die Auge eine kleine Weile, bis sie sich an die düstere Stimmung im Nebenraum angepasst hatten.
Hier war es bläulich-finster und die Zähne und Augen der beiden Detectives leuchteten in unnatürlich hellem Weiß. An der Decke wallten lange Bahnen von feinem Tuch, die anscheinend mit einem Leuchtmittel verwoben waren. Viele Lagen dieser Stoffe schwebten in einem feinen Windstrom über und hintereinander und erzeugten so einen fließenden Effekt.
Langsam erkannten die Männer ihre Umgebung und bewegten sich auf die Mitte des runden Raumes zu, wo sich eine riesige ovale Bar befand. Außer der Bar schien der Raum fast leer zu sein, bis auf einige verstreute Sitzgruppen, die unsinnigerweise mit Blick gegen die schwarzen Wände standen. Es war fast so etwas wie Enttäuschung in den Gesichtern der Detectives abzulesen.
Sicher – die Bar bestand aus Obsidian und Redwood, sowie Titanflechten und einer Massiven Goldreling, die um die gesamte Länge der Bar verlief. Trotzdem war der Kontrast zwischen dem hellen Märchenland von vorhin und diesem Düsteren Rundraum einfach zu groß, um sich am Detail erfreuen zu können.
Weder Zhu noch Stilt fiel zunächst auf, dass an der Bar jemand saß. Erst als sie ihre Schuhe auf dem Steinboden tappen hörten wie Hammerschläge, erkannten sie, dass Mrs. Nora Nubbs bereits auf sie gewartet hatte. Mit einem Martiniglas in der einen Hand und dem Cocktailspieß samt Olive in der anderen kam sie auf sie zu.
„Willkommen, Gentlemen“, begrüßte sie sie, „kommen sie, trinken sie was mit mir!“
Stilt steckte ihr die Hand entgegen.
„Mrs Nubb nehme ich an?“
„Ja, wer den sonst, mein Guter? Und sie sind?“
„Detective Joshua Stilt und das ist mein Kollege...“
„Feng Zhu“, stellte er sich vor.
Sie steckte sich die Olive zwischen die Zähne ohne sie zu zerkauen und spielte mit der Zunge am spitzen Ende des Cocktailspießes herum, so dass sie von einem Mundwinkel in den anderen wanderte. Dann biss sie ab und warf den Spieß auf den Boden.
„Sehr erfreut!“ Erwiderte sie und schüttelte uns die Hände.
Zhu schien von ihr ganz verzaubert zu sein, denn diesmal sprach er sein Beileid aus, anstatt irgendwelche Floskeln der Männlichkeit abzuspulen. Stilt schloss sich an und Nora Nubb bedankte sich höflich und sie folgten ihr zur Bar.
„Ist ziemlich dunkel hier“, bemerkte Detective Stilt.
„Ja, ich mag es so lieber.Mir ist es unheimlich, wenn sie mich die ganze Zeit anglotzen...“
„Sie?“ Fragte Zhu. „Wen meinen sie? Doch nicht etwa uns?“
Sie hob eine hauchdünne Fernbedienung hoch und fuhr mit dem Daumen sanft darüber.
„Nein, ich meine SIE.“
Auf Knopfdruck verschwanden die Wände in Versenkungen und die Detectives stellten fest, dass sie sich im Zentrum eines kreisrunden Aquariums befanden. Die Ausmaße waren gewaltig. Darin war ein komplettes Korallenriff aufgehoben und – sie trauten ihren Augen nicht – es schwammen darin Wale, drei an der Zahl.
„Wale?“ Fragten Zhu und Stilt wie aus einem Munde.
„Ja, Wale“, sagte sie, „sehen sie wie die gucken? Ich finde das schrecklich!“
Sie stellte ihr Getränk auf dem Tresen ab und fragte:
„Was möchten sie trinken, Detectives?“
Stilt war noch immer mit den Walen beschäftigt.
„Wie zum Teufel bekommt man einen Wal ins 91. Stockwerk eines Wolkenkratzers?“ Wollte er wissen.
„Nicht einen Wal – drei, Detective. Ich glaube als sie noch Jungtiere waren haben sie in den Lastenaufzug gepasst. Emo erwähnte mal so was.“
Nachdem es dank der Aquarienbeleuchtung bläulich-hell statt dunkel im Raum wurde, konnten sie endlich einen genaueren Blick auf Mrs Nora Nubb werfen. Sie waren keineswegs enttäuscht.
Nora war eine Bombe. Kaum größer als 1,70, dunkelhaarig, blauäugig. Wahrscheinlich Ende 20 aber mit dem Körper eines Teenagers. Jede Bewegung, jeder Blick, jedes flüchtige Lächeln schien perfekt choreographiert und wirkte dennoch ehrlich. Man wollte ihr die Ehrlichkeit gerne abnehmen und in dieser Unterwasserwelt war sie die bezaubernde Nixe, von der selbst die Wale nicht ihren Blick abwenden mochten. Stilt schämte sich fast sie wegen eines Mordfalls befragen zu müssen. Sie konnte sich unmöglich die Finger an dem fetten Kerl schmutzig gemacht haben. Nora war die perfekte Frau - ein Fleisch gewordener Männertraum.
Dann erinnerte sich Stilt an Nubbs Billlionen und dass sie nicht grundlos dessen Frau geworden war. Bei solch schwerwiegenden Argumenten war jeder verdächtig, selbst Engel und im Zweifelsfall der liebe Gott selbst. Und wenn nicht die Detectives aus ihr herausbekamen, was sie wusste würden es andere tun, FBI, CIA oder wer sonst noch in solch staatstragenden Fällen zum Einsatz kam.
Geduldig schien sie abzuwarten, bis er seine Gedanken abgespult hatte und fragte dann erneut:
„Nun? Was darf's sein?“
Stilt räusperte sich und sagte:
„Danke nein! Wir sind im Dienst!“
„Ich nehme einen Kaffee“, widersprach Zhu. „Wenn sie welchen da haben.“
Sie musste über die Unterstellung lächeln, man könnte drei Wale im Aquarium aber keinen Kaffee im Haus haben. Fröhlich trällerte sie die Eingabe in die Maschine.
„Ein Kaffee, Guatemala, 100% Arabica.“
Sie wandte sich an Zhu.
„Milch, Zucker?“
„Schwarz und stark“, antwortete Zhu und versuchte ihren Blick zu halten. Die smaragdgrünen Augen verbrannten ihn als hätte er zu lange in die Sonne gekuckt und er wandte den Blick zu Boden.
„Mrs. Nubb“, fragte ich, um eine Rückkehr zur Sachlichkeit bemüht, „wo waren sie in der Nacht des 23. auf den 24. September, zwischen 9:30 und 0:30 nachts?“
Sie schob Zhu die dampfende Tasse Kaffee herüber, bevor sie auf dem Barhocker zwischen ihnen Platz nahm und antwortete:
„Ich habe verschiedene Dinge gemacht. Was genau wollen sie wissen, Detective Stilt?“
„Schildern sie uns einfach den Ablauf des Abends aus ihrer Sicht.“
Sie zog das Seidenkleid etwas hoch, um bequemer zu sitzen und der Schlitz offenbarte einen Teil ihrer schlanken Beine. Um den Fuß, das sah Stilt, trug sie ein Platinkettchen, das um ihr Gelenk baumelte. Sie warf den Kopf in den Nacken und ihr glattes Haar fiel ihr über Schulter und Rücken.
„Ich erinnere mich noch einigermaßen gut an den Abend...“ Begann sie. „Wir hatten uns gestritten – wie immer über irgendwelche Kleinigkeiten. Emo erfand immer Gehässigkeiten, die er mir an den Kopf warf: ich sei zu dick, zu dünn, zu dumm, zu dunkel, zu blauäugig, plattfüßig, etc. Er forderte gerne mein Temperament auf diese Weise heraus, wenn ihm unsere Beziehung zu langweilig wurde.“
Zhu schaltete sich ein. Mitfühlend fragte er:
„Haben sie unter seinen Anschuldigungen gelitten?“
Sie zeigte keine Regung als sie antwortete.
„Ich glaube er genoss es mit mir zu streiten und ich nahm es nicht allzu ernst. Ich steckte ja nicht einfach ein, sondern teilte auch aus. An diesem Abend nannte ich ihn eine Made und schlug ihm vor sich ein Paar Wochen in eines seiner Aquarien zu hocken. Nach ein paar Wochen wäre er dann der erste eckige Mensch der Welt...“
Sie hielt inne.
„Nein, das habe ich jetzt erfunden, aber wir stritten uns! Das war nichts ungewöhnliches. Während ich nach einem Streit generell erschöpft bin, wirkte so etwas auf Emo immer stimulierend und er verschwand in sein Arbeitszimmer, während ich ein Bad nahm.“
„Sein Arbeitszimmer?“ Fragte Stilt. „Sie meinen das Büro?“
„Ja“, antwortete sie.
„Wie lange haben sie gebadet?“ Wollte Zhu wissen.
Sie legte sich einen Zeigefinger mit apfelgrün lackiertem Nagel über die Lippen und dachte nach.
„Ungefähr eine Stunde, ich weiß es nicht genau.“
Detective Stilt wartete ungeduldig auf die Fortsetzung ihres Berichts und wies Zhu mit einem einzigen Blick an, die Klappe zu halten. Zhu kannte den Blick auf dem Gesicht seines Chefs und rührte verdrießlich in seinem Kaffee.
„Na schön, sie haben gestritten, sie nahmen ein Bad. Was passierte dann?“
„Ich habe was gegessen und Holofern gesehen. Ich musste immer wieder an unseren Streit denken und ich wusste, dass sich einer von uns entschuldigen würde. Ich kann mit Streit nicht leben, also stand ich irgendwann auf und ging runter in sein Büro, um mich zu entschuldigen – und da fand ich ihn so da liegen – tot.“
Stilt atmete hörbar aus, Zhu trank hastig seinen Kaffee leer als wären sie in Eile und müssten gleich wieder weg. Sie wussten beide, dass Nora Nubb sich durch ihre Geschichte belastete. Es gab keine Zeugen, dass sie holofern sah und sie gab zu, dass sie sich mit ihren Mann vor dem Mord an ihm gestritten hat.
„Mrs Nubb – können sie mir sagen, was sie sich im Holofern angesehen haben?“
„Die Ligaberichte und einen Tanzfilm“, antwortet sie, „...mit einer Menge Gesang. Wie er genau heißt, weiß ich nicht. Irgendein alter Streifen.“
Zhu traute sich nun auch wieder zu reden und fragte:
„Und im Büro ihres Mannes ist ihnen nichts Besonderes aufgefallen?“
Sie sah ihn feindselig an und sagte dann hart, fast beleidigt:
„Außer dem riesigen Loch im Panzerglas und dass er tot war, nein – Nichts.“
Stilt stand auf und stellte sich vor die Wasserwand, sah einige Momente den Walen bei ihrem schwerelosen Flug durch ihr Element zu.
„Mrs Nubb, wir möchten sie keineswegs bedrängen aber sie müssen verstehen, dass dieser Fall so viele ungelöste Fragen aufweist, dass wir auf möglichst genaue Angaben angewiesen sind.“
Sie betrachtete seinen Rücken.
„Was denn für ungelöste Fragen?“
Stilt drehte sich wieder um und kam direkt auf sie zu. Er hatte keine Probleme ihren Blick zu halten, auch wenn er sich leicht in diesen wunderschönen Augen hätte verlieren können.
„Zunächst einmal sind da die Fußabdrücke. Der Eindringling hat nasse, schmutzige Spuren auf dem Teppich hinterlassen. Das Problem ist, es führen zwar Spuren hinein aber keine heraus.“
Sie dachte eine Weile nach, offenbar um eine Antwort bemüht.
„Das stimmt, jetzt wo sie es sagen fällt es mir auch auf.“
„Das nächste Problem“, sagte Zhu, „ist das Projektil. Trotz aller Bemühungen haben wir kein Projektil gefunden und die Waffe mit der ihr Mann ermordet wurde kann so nicht ermittelt werden. Wir wissen lediglich das Kaliber – das nützt uns nichts viel.“
Stilt übernahm wieder.
„Die Frage, ob ihr Mann Feinde hatte, erübrigt sich. Aber hatte er Feinde, die ihm direkt nach dem Leben trachteten? Ist ihnen etwas derartiges bekannt?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Sie müssen verstehen, dass ich nur sehr wenig in Emo's Geschäft eingeweiht war. Er hütete sein Geschäft und versteckte seine Geheimnisse gelegentlich so gut, dass er sie selber nicht wiederfand.“
„War ihr Mann labil oder paranoid? Hat er irgendwelche Drogen genommen?“
Sie zögerte merklich und drückte sich um eine Antwort.
„Frau Nubb, sie können uns nichts sagen, was die Autopsie uns nicht auch verraten würde. Es geht nur etwas schneller, wenn sie uns helfen.“
Sie nickte und sagte dann leise.
„Er hat Brom 13 genommen. Schon seit ewigen Zeiten. Emo ist – war – wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der genug von dem Zeug genommen hat, um eine Toleranz zu entwickeln.“
Erstaunt blickten Zhu und Stilt sie an.
„Er was immun gegen die Wirkung von Brom 13?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Nicht immun, nein! Aber er brauchte gewaltige Mengen, um seinen Körper in den Zustand zu versetzen und Brom verursachte bei ihm Persönlichkeitsstörungen und Depression. Er war deswegen in Behandlung bei Prof. Kurtzweil...“
Langsam dämmerte es Stilt.
„Sie wollen mir sagen, er war lebensmüde?“
Nora Nubb schürzte die Lippen und fragte sich wohl, ob sie schon zuviel gesagt hatte. Schließlich antwortete sie aber und sagte:
„Ja!“
Zhu fragte:
„Wäre es dann möglich, dass er das ganze nur inszeniert hat? Vielleicht war das seine Art Selbstmord zu begehen.“
Stilt ärgerte sich wieder über die vorschnelle Art seines Kollegen die eigenen Überlegungen mit einer Verdächtigen in einem Mordfall zu teilen.
„Das“, sagte er langsam, „ werden wir wissen, wenn wir den Mörder haben. Es ist unmöglich Selbstmord gewesen, sonst gäbe es keine Fußspuren und wir hätten eine Waffe gefunden...“
Stilt zögerte mit seiner nächsten Frage.
„Mrs Nubb, ist es wahr, dass im Falle eines Selbstmordes Mr Nubbs gesamtes Vermögen treuhänderisch verwaltet wird und sie nicht das geringste abbekommen?“
„Ja, so ist es“, antwortete sie freimütig.
„In dem Fall müssen sie sich doch Sorgen machen, dass die Versicherung den Fall als Selbstmord darstellen könnte.“
Zhu war unruhig, er wollte gerne etwas einwenden, dann sah er Stilts Blick und begriff, dass er Detective im Begriff war eine Falle zu stellen.
„Ist das eine Fangfrage?“ Erwiderte Mrs Nubb ihn durchschauend.
„Natürlich“, sagte Stilt lächelnd. Dann fügte er ernst hinzu:
„Bitte antworten sie darauf.“
Auch Nora Nubb war nun völlig ernst aber sie blieb gefasst.
„Wenn sie darauf anspielen wollen, dass ich irgendetwas mit dem Tod meines Mannes zu tun haben könnte, dann irren sie sich. Ich schleiche mich ganz sicher nicht an der Außenwand von Wolkenkratzern entlang, um einen Mord zu begehen. An ihrer Stelle würde ich die Verantwortlichen lieber im Politischen und Wirtschaftlichen Milieu suchen!“
Sie registrierte, dass Stilt mit der Antwort nicht zufrieden war und fügte hinzu:
„Natürlich mache ich mir Sorgen, was die Versicherung dazu sagt. Aber nur, weil ich fürchte sie könnten sich aus der Verantwortung stehlen. Mein Mann ist brutal ermordet worden und wer etwas anderes behauptet, nur weil er Tatwaffe und Täter nicht finden kann ist in meinen Augen ein Idiot.“
Stilt verstand die Anspielung.
„Mrs Nubb, bitte verlassen sie nicht die Stadt. Halten sie sich für weitere Befragungen bereit und wenn möglich kommen sie doch nächstes Mal ins Revier. Ich bräuchte von ihnen außerdem die Adresse dieses Professor Kurtzweils, danke!“
Er und Zu standen auf und verabschiedeten sich knapp. Die freundliche Atmosphäre war verschwunden. Es ging wieder Cops gegen Kriminelle und in der Welt der Cops war jeder ein Potentiell verdächtiger, bis seine Unschuld bewiesen war. Die Justiz sah das gerne anders herum, aber die Richter hatten keine Ahnung von dem Grad an Lügen und Intrigen in der wirklichen Welt.
In der Praxis des Analytikers war es still und kühl. Er hatte die Zimmer im japanischen Stil eingerichtet und dünne Trennwände waren alles was die berühmte Couch vom Rest der Praxis trennte. Offensichtlich waren die dünnen Wände dennoch schalldicht, denn als Stilt und Zhu warteten hörten sie kein Wort, bis der Professor die Trennwand aufzog und einen Patienten ins Freie entließ.
„Bis nächsten Donnerstag!“ Sagte er und lächelte einladend. Dann wandte er sich den Polizisten zu. Stilt fand er sah genauso aus wie man es von einem Psychologen, bzw. Psychoanalytiker erwartete. Trotz der gegebenen Möglichkeiten zur Transplantation und Neuhaarpflanzung, zog es der Professor vor, Glatze zu tragen und sein feines Silberhaar legte sich wie ein Heiligenschein um seinen Kopf. Es verlieh ihm etwas mönchhaftes. Den Bart trug er sauber gestutzt. Er war so dicht, dass die Lippen nur als schmales Band hindurch schienen und wenn er sprach öffnete sich ein Loch in diesem gepflegten Teppich und sehr kleine weiße Zähne blitzten in tadelloser Reihe auf.
Professor Kurtzweil mochte vielleicht 60 oder 65 Jahre alt sein, aber er war sehr agil und wirkte jünger. Während er sprach war man, wegen des besagten 'Barteffektes' stets auf seinen Mund fixiert.
„Nun meine Herren. Ich kann mir schon denken, warum sie mich besuchen. Bitte, kommen sie rein, kommen sie rein!“
Höflich aber bestimmt, als seien sie störrische Patienten, dirigierte er sie in sein Behandlungszimmer und wies ihnen zwei Sessel vor dem eleganten Glasschreibtisch zu. Nachdem er selber Platz genommen hatte, sagte er:
„Sie kommen natürlich wegen Mr. Emo Nubb!“
„So ist es Professor. Wir sind damit beauftragt die Umstände seines Todes zu untersuchen.“
Stilt hatte zuerst das Wort ergriffen und zeigte seine digitale Marke vor.
„Mordkommission“, murmelte Professor Kurtzweil, als wunderte ihn das.“Ich hoffe ich bin nicht auf der Verdächtigenliste!“
Obwohl scherzhaft ausgesprochen, erwiderte Zhu darauf:
„Wenn es um den wichtigsten Mann der Welt geht, steht jeder auf der Verdächtigenliste.“
Kurtzweil nickte stumm und sah Stilt dabei zu wie dieser umständlich ein Stück elektronisches Papier aus seiner Jackentasche zog, das die Notizen enthielt, die Detective Zhu am Vortag (bei Nora Nubb) gemacht hatte.
„Wir haben hier die Aussage von Nora Nubb, die besagt, dass Emo Nubb jahrelang ihr Patient gewesen ist.“
Der Professor räusperte sich, bevor er antwortete.
„Das ist richtig. Ich betreute Herrn Nubb und habe ihm die letzten zehn Jahre beratend zur Seite gestanden.“
„Was ist denn eigentlich sein Problem?“
„Er hat eine Persönlichkeitsstörung. Fremdbild und Selbstbild klaffen weit auseinander.“
„Können sie mir das etwas genauer erklären?“
„Nun, wir nennen das eine drogeninduzierte Persönlichkeitsstörung. Ich bin mir sicher Nora hat ihnen von seinem Brom 13 Missbrauch erzählt. Nubb hatte eine derartig hohe Toleranzschwelle entwickelt, dass er Tonnen von dem Zeug schlucken musste, um die Wirkung zu erleben.“
„Das hat sie uns ebenfalls erzählt“, sagte Zhu.
„Daran ist doch aber im Grunde genommen nichts schlimmes“, versuchte Stilt aufzuklären, „solange er sich Brom leisten kann und man ihn in Ruhe lässt kann er doch tun und lassen, was er will.“
„Im Grunde schon. Wäre es nur um übermäßigen Konsum gegangen hätten wir sicher eine Lösung gefunden. Das Problem dabei ist aber, dass sich die Brom Wirkung auf die Realität übertrug...“
Stilt schluckte.
„Wie soll ich das verstehen, Doktor?“
„Professor!“ Mahnte Kurtzweil. Er schlug die Beine übereinander. „Nun, um es ganz vorsichtig auszudrücken – Nubb hat gelegentlich die Fähigkeit verloren zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Für ihn waren es dann beides gleich reale, bzw. irreale Zustände.“
„Das überrascht mich“, gab Stilt zu. „Wollen sie damit sagen der mächtigste Mann der Welt hatte keinerlei Bezug zur Wirklichkeit mehr?“
„In der Art“, bestätigte der Professor. „In letzter Zeit wurden die Schübe immer stärker und dauerten immer länger. Er hatte Paranoia, glaubte ständig jemand sei hinter ihm her. Sein Blutdruck war immer am Limit – und sie wissen ja wie es um seinen Körper bestellt war.“
„Er war am Ende“, konstatierte Zhu.
„Könnte man so sagen. Er saß nur noch in seine, Büro, umgeben von Sicherheitsleuten und Panzerglas und traute sich nicht mehr raus. Alles und jeder konnte sein Feind sein und er war unfähig sich dessen selbst klar zu werden. Manchmal hielt er auch die Wirklichkeit für Simulation. Mich selber sprach er öfters mit 'Analyseprogramm' an.“
„Das klingt als wäre er verrückt geworden! Wie ist so etwas möglich?“
„Nun, Brom 13 senkt die Toleranzwerte sämtlicher Botenstoffe im Hirn und verursacht heilloses Chaos in der Hirnchemie. Während das Gehirn damit beschäftigt ist, sich neu zu organisieren werden Reize von außen schlicht als sekundär oder tertiär eingestuft. Es ist dadurch dem Menschen nicht mehr möglich ein Eindeutiges Urteil zu fällen. Er muss kompromisslos glauben, was ihm vorgesetzt wird. Auf Dauer muss das Patienten zur Gleichgültigkeit und in den Wahnsinn treiben. Bei Nubb lag ganz klar ein Neuronaler Schaden aufgrund jahrelangen Missbrauchs vor!“
„Dann war Nubb verrückt?“ Fragte Zhu.
„Nicht äußerlich erkennbar und nicht zu allen Zeiten, aber ich würde die Frage dennoch bejahen. Aber in den letzten Wochen sprach er oft mit mir über Selbstmord und hat in seiner Fantasie sämtliche Szenarien durchgespielt.“
„Welche Szenarien meinen sie? Wie kann ich mir das vorstellen?“
„Na, sowas wie ohne Fallschirm aus dem Flugzeug zu springen, oder eine ganze Rolle Schlaftabletten zu schlucken oder Sepukku zu begehen, oder sich ganz einfach vor ein Auto zu werfen.“
Stilt fand die Ausführungen sehr aufschlussreich.
„Unter den gegebenen Umständen – für wie wahrscheinlich halten sie es, dass Nubb Selbstmord begangen hat?“
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„Nicht sehr wahrscheinlich – er war ein Feigling wie er im Buche steht.“
„Wozu dann die vielen Simulationen? Warum beschäftigte er sich mit diesen Szenarien?“
„Sie riefen ihm eben dies ins Gedächtnis zurück: das er ein Feigling ist. In der Wirklichkeit hätte er es niemals über sich gebracht Selbstmord zu begehen, das konnte er nur in der Virtualität, wo seine Handlungen ohne Konsequenzen blieben.“
Sie hatten genug gehört, um sich ein besseres Bild der Person Nubbs machen zu können: arrogant und ausfällig nach außen, aber innerlich unsicher und feige. Emo Nubb war seit Jahren dem Wahnsinn nahe und seine Zurückgezogenheit schien einzig und alleine dem Ziel zu dienen, dies vor der Weltöffentlichkeit geheim zu halten. Die Aufklärung seines Todes würde ein Dreckwelle der Berichte über ihn verursachen.
„Ich verstehe, vielen Dank, Doktor!“ Sagte Stilt und stand auf.
„Professor...“, verbesserte Kurtzweil ihn erneut.
Stilt stand auf, Zhu tat es ihm nach. Als sie an der Tür waren, drehte sich Stilt noch einmal um und fragte:
„Sagen sie, ist seine Frau Nora Nubb eigentlich auch bei ihnen in Behandlung?“
Der Professor nickte.
„Ja, ist sie. Aber aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht kann ich zu ihrer Person keinerlei Angaben machen.“
Stilt lachte.
„Herr Professor, wir ermitteln in einem Mordfall und sie gehört zum engsten Kreis der Verdächtigen. Sie möchten doch nicht, dass ich dem Staatsanwalt erzähle sie schützen eine Kriminelle?“
Der Professor seufzte.
„Na gut, was wollen sie wissen?“
„Nur eine Frage: Halten sie Nora Nubb für fähig einen Mord zu begehen?“
Es dauerte einen Moment bis er antwortete.
„Ich halte sie dessen für absolut fähig.“
„Nochmals vielen Dank, Herr Professor.“
Im Auto und auf fast der gesamten Rückfahrt stritten er und Zhu über die Argumente des Professors. Was Emo Nubb anging mochte er ja Recht haben, aber Zhu wollte auf keinen Fall glauben, dass mit Nora irgendetwas faul sein könnte. Er nannte die ganze Psychologie einen „Haufen Scheiße mit Schlagsahne“. Die Art und Weise wie der Professor erlaubte sich ein Urteil zu bilden, schien ihm viel zu einfach und aus der Luft gegriffen. Er vermutete Nora hasste ihn und war nur zu den Sitzungen gegangen, weil Emo sie dazu gezwungen hatte. Sie als Verbrecherin abzustempeln war ein Skandal!
„Würdest du auch so vehement Einspruch erheben, wenn sie weniger gut aussehen würde?“
„Nein – ja...ist doch egal! Ich besitze Menschenkenntnis. Ich weiß wenn man mich anlügt und diese Frau hat niemanden umgebracht. Zudem hätte die Spurensicherung irgendwelche Schmauchspuren an ihren Händen finden müssen. Außerdem hat sie uns erzählt, dass sie mit Emo gestritten hat, dabei hätte sie es auch einfach verschweigen können.“
„Und das hätte sie erst recht verdächtig gemacht.“
Zhu fragte zornig:
„Und du? Warum glaubst du dem Alten alles was er über sie erzählt? Du hast sie doch gesehen – meinst du sie hat uns angelogen?“
„Ich glaube ihr was sie uns erzählt hat“, gab Stilt zu, „aber ich glaube auch, sie hat uns nicht alles erzählt.“
„Warum denkst du das?“ Wollte er wissen.
„Für eine Frau, die vor nicht einmal 12 Stunden ihren Mann verloren hat, schien sie mir kein bisschen traurig zu sein, dabei war sie ansonsten recht warmherzig und mitfühlend. Das einzige worauf es ihr anzukommen schien, ist das die Mordkommission weiterarbeitet, denn wenn es Selbstmord wäre, bekäme sie gar nichts!“
„Das weiß ich“, brummte Zhu, „aber ich kann sie trotzdem verstehen.“
Danach redeten sie kein Wort mehr. Beide kombinierten in Gedanken die unmöglichen Puzzlestücke dieses Falles. Als sie am Revier ankamen sagte Stilt:
„Es hilft nichts. Ohne die Mordwaffe bekommen wir auch von niemanden ein Geständnis und können andererseits nicht erklären, dass es Selbstmord war. Egal wie verrückt Nubb danach war zu sterben.“
„Was schlägst du vor?“
„Wir sollten nochmal zum Tatort fahren und alles absuchen. Wir müssen irgendetwas übersehen haben. Aber vorher interessiert mich, was die Autopsie ergeben hat.“
(Er drehte auf der Straße vor dem Revier und fuhr dem bunt beleuchteten E-Tower im Herzen des Handelsbezirks entgegen.)
Aufgrund der besonderen Schwere des Falles und der Wichtigkeit der Person Nubbs lag der Obduktionsbericht bereits vor als sie ins Revier zurückkehrten. Stilt überflog ihn und machte sich dann umgehend auf in die Pathologie. Er wollte ganz sicher sein, dass er verstand, was er gelesen hatte.
In der Kühlhalle traf er Doktor Petersen, den er zu den Ergebnissen des Berichts befragte. Petersen war ungeheuer beschäftigt und rannte während des gesamten Gesprächs durch die Räume der Pathologie, um sich Unterlagen zu beschaffen, Notizen zu machen, oder im Computer nach Informationen zu suchen. Der Doktor hatte einen Beruf gefunden, in dem ihm niemals die Kunden ausgehen würden – auch wenn er sie niemals persönlich kennen lernte.
„Nubb war schwerkrank“, bestätigte Petersen den Bericht und scannte ein Identifikationskärtchen am dicken Zeh eines seiner „Patienten“. „Er hatte es mit den Drüsen.“
Stilt nickte und versuchte zu vergessen, wo er sich befand. Er konzentrierte sich auf die Fakten.
„Wie lange hätten sie ihm noch gegeben?“
„Drei Wochen, vielleicht einen Monat. Diese Art der Erkrankung führt rapide zu einer Verschlechterung, auch wenn äußerlich kaum Merkmale vorhanden sind.“
Stilt folgte ihm in den Nebenraum, wo Petersen den Computer mit Daten fütterte.
„Dann wäre er also sowieso gestorben? Gab es gar keine Heilungschance?“
„Mit 100% Sicherheit wäre er daran gestorben, es sei denn sie wollen an Wunderheilung glauben...“
Petersen kratzte sich am Kopf. „Und selbst dann wäre mir kein Fall bekannt, in dem sich jemand mit einer derartig schweren Stoffwechselkrankheit wieder erholt hätte.“
„Könnte es nicht sein, dass die Symptome durch eine andere Art der Erkrankung hervorgerufen wurden? Haben sie irgendwelche verdächtigen Substanzen gefunden?“
Petersen nahm ein paar Laken aus einem Schrank hinter ihm und öffnete die Glastür zum Operationssaal. Stilt folgte ihm abermals und hatte das Gefühl eine Tour der Pathologie zu unternehmen.
„Detective – lesen sie nicht? Das steht alles im Bericht. Der ganze Mann war eine einzige Sammlung illegaler Substanzen. Ich konnte so ziemlich jede Droge nachweisen, die es legal und illegal zu kaufen gibt. Einzig Heroin scheint er nie genommen zu haben. Dafür aber Brom 13 in solcher Menge, dass ich nicht weiß, ob er überhaupt jemals nüchtern war.“
Stilt hatte es inzwischen satt hinter dem Doktor herzulaufen, der schon wieder auf dem Weg zu einem neuen Patienten war und die Operationswerkzeuge überprüfte, während er sie zurecht legte.
„Gut, das deckt sich mit dem was ich schon weiß. Allerdings wusste ich bisher nicht, dass er todkrank war. Das wirft ein neues Licht auf einige Fakten. Danke, Doktor!“
„Jederzeit wieder!“
Er drehte sich um und schickte sich an zu gehen, als der Doktor ihm hinterher rief:
„Wollen sie nicht noch etwas bleiben? Mir ist die Krankenschwester abhanden gekommen und ich habe niemanden, der mir meine Instrumente reicht. Stilt versteckte sorgsam seinen Ekel und lächelte bloß:
„Wenn sie meinen sie bekommen mich dazu hier alles vollzukotzen, irren sie sich. Ich hab' schon schlimmere Sachen gesehen als aufgeschnittene Menschen.“
„Gesehen ja, aber hier bekommen sie auch die Geräuschkulisse geliefert. Das Krachen, wenn man so einen Brustkorb aufbricht vergessen sie nicht mehr.“
Grinsend blickte er Stilt hinterher, während dieser wortlos den Raum verließ. Die Mediziner und ihren seltsamen Sinn für Humor würde er wohl niemals im Leben verstehen. Vielleicht sollte er nächstes Mal Zhu hier runter schicken.
-
Stilt hatte einige Nachforschungen zu machen, diesmal brauchte er eine Technische Expertise. Wieder in ihrem Büro angekommen fragte Zhu wie's war und Stilt antwortete sarkastisch:
„Großartig! Solltest du auch mal versuchen!“
„Ich meinte, ob wir was neues Wissen.“
„Oh ja“, erwiderte Stilt. Wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass einer unserer Verdächtigen lügt.“
Am Nachmittag kamen sie wieder in Nubbs Büro zusammen. Niemand hatte zwischenzeitlich den Raum verlassen oder betreten, das Siegel war intakt. Vor das Loch im Panzerglas hatte man eine Scheibe Plexiglas geklebt, so dass der Raum hermetisch abgeriegelt war.
Außer Nora Nubb war auch Professor Kurtzweil anwesend, weil Detective Stilt ihn dazu gerufen hatte. Gemeinsam prüften sie die, mittlerweile trockenen Fußabdrücke und sahen sich die phosphorisierend gekennzeichneten Umrisse von Nubbs Körper genau an. Kurtzweil war besonders beeindruckt von dem Loch im Panzerglas und konnte sich das Rätsel der plötzlich endenden Schritte auch nicht erklären. Nora Nubb stand unbewegt neben dem Schreibtisch und hörte sich die Ausführungen Stilts an. Detective Stilt hatte auf dem Sessel, der Nubbs Bürostuhl gegenüberstand Platz genommen und erklärte, was sie gefunden hatten, und welche Schlussfolgerung er daraus zog.
„Mrs Nubb, sie erklärten ihr Mann und sie haben am besagten Abend des Mordes miteinander gestritten. Sie konnten sich aber nicht mit Sicherheit festlegen, worüber gestritten wurde. Ist es ihnen mittlerweile wieder eingefallen?“
„Wie ich ihnen sagte, ging es um Beleidigungen und darum mich zu einer Reaktion zu reizen. Um konkrete Themen stritten wir selten.“
„Aber an diesem Abend, stritten sie da vielleicht wegen einer bestimmten Sache?“ Hakte er nach.
„Nein“, antwortete sie, „nein, wir stritten uns bloß unsinnigerweise und als ich mich mit ihm versöhnen wollte, fand ich ihn tot hier liegen.“
Sie deutete mit einem kleinen Nicken in Richtung Bürosessel. Stilt wandte sich an den Professor.
„Herr Professor! Sie sagen Emo Nubb litt zuletzt an schweren Depressionen. Was würden sie sagen wie lange er schon diese Depressionen hatte?“
Der Professor antwortete, wie gewohnt, sehr präzise.
„Die Depressionen traten auf, nachdem man ihn wegen Brom-Missbrauchs klinisch untersucht hatte und er herausfand, dass er körperlich am Ende war. Das ist etwa acht Monate her.“
„Und seit diesem Zeitpunkt hat er sich vermehrt mit Selbstmordphantasien beschäftigt?“
„Jawohl, er wollte auf jeden Fall einen schmerzhaften Tod vermeiden – insofern so etwas überhaupt möglich ist. Er spielte eine Menge Szenarien durch, um sich die Angst vor dem Tod zu nehmen.“
„Könnte es nicht ebensogut sein, dass er diese Szenarien virtuell erprobte, um herauszufinden, welche Methode des Selbstmordes für ihn die geeignete ist?“
Der Professor räusperte sich.
„Nun, ich habe ihnen ja bereits erzählt, dass er ein Feigling war. Er hätte es niemals über sich gebracht Gewalt gegen sich selber anzuwenden.“
„Aber im virtuellen Raum blieb diese Gewalt doch völlig konsequenzlos. Vielleicht wollte er sich sensibilisieren.“
„Möglich, aber unwahrscheinlich.“
„Welchem Zweck könnten diese simulierten Selbstmorde dann gehabt haben.“
Der Professor legte den Kopf leicht schief und dachte nach. Kurz darauf antwortete er:
„Ich weiß es nicht.“
„Sie vielleicht?“ Stilt richtete die Frage an Nora.
„Ich, wieso sollte ich was darüber wissen? Es waren seine Programme, wir spielten nicht zusammen.“
Stilt schüttelte den Kopf.
„Sehen sie – ich begreife das nicht. Warum erzählt er seinem Psychologen davon, aber seine Ehefrau, die ihn kennt wie kein zweiter bemerkt nichts von dessen Selbstmordplänen.“
„Naja, warf sie ein. Bemerkt habe ich es ja. Ich wusste nur nicht, dass er tatsächlich derart verrückt mit seinem Leben spielte.“
„Ah“, sagte Stilt zufrieden, „also wussten sie, dass er Selbstmord begehen wollte, aber sie wussten nicht auf welche Weise.“
„Ich ahnte es, ich wusste es keineswegs!“ Protestierte sie.
„Warum glaubten sie nicht, dass er sich umbringen würde.“
„Wie Professor Kurtzweil bereits sagte: in diesem Punkt war Emo zu feige. Er hatte schreckliche Angst davor verletzt zu werden und sich selbst zu verletzen.“
„Wussten sie von seiner Brom 13 Sucht?“
„Natürlich wusste ich davon – und ich habe darunter gelitten...“
Sie hatte Tränen in den Augen. Stilt wippte in seine, Sessel nach hinten, dann stand er auf und ging durch den Raum, während er den Fall in seinen Worten zusammenfasste:
„Wir haben einen rätselhaften Mordfall zu lösen! Es gibt ein Loch in einer gepanzerten Scheibe, durch die ein unbekannter Attentäter zwar hereinkam aber nicht wieder hinausging. Es findet sich keine Spur der Mordwaffe und außer dem Kaliber haben wir keinerlei Informationen, um was es sich gehandelt haben könnte. Es muss nicht zwingend eine Handfeuerwaffe gewesen sein...“
Er machte eine Pause und blickte in die Runde.
„Ich sage ihnen jetzt was ich denke, wie es sich zugetragen hat.
Mit beiden Händen stützte er sich auf die Rückenlehne des Sessels vor ihm und begann:
„Emo Nubb war es gewohnt Dinge zu manipulieren. Seit frühester Kindheit hatte er die Macht zu tun und zu lassen, wonach ihm der Sinn stand. Er war ein Egoist und Einzelgänger, der es liebte sich andere Menschen Untertan zu machen. Im Großen geschah das auf Firmenniveau, im kleinen auf familiären Niveau. Die letzte von sechs Ehen währte am längsten und darf, wenn es nach ihnen geht“, er sah Nora Nubb an, „als Erfolg gewertet werden.“
Nora nickte.
„Dennoch wussten sie, dass es um ihren Ehemann nicht sonderlich gut stand. Sie kannten seine sadistische Ader und wussten, dass sie im Falle seines Selbstmordes von Vermögen und Erbe des Nubbschen Imperiums ausgenommen sein würden.“
Beiläufig fügte er hinzu: „Ich habe ihren Ehevertrag geprüft. Es besagt explizit, dass sie im Falle seines Selbstmordes vom Erbe ausgeschlossen würden. Ich frage mich nach wie vor, warum Nubb diese Klausel nachträglich einfügen ließ und mir bleibt nur ein Motiv übrig: Rache.“
Kurtzweil warf ein:
„Das passt zu seinem Charakter. Rachegedanken waren zuletzt neben den Selbstmordphantasien das einzige, was ihn noch anzutreiben schienen.“
Stilt ließ die Erklärung einfließen und fuhr dann fort:
„Emo fühlte sich aufgrund seiner Fettleibigkeit und wegen seines Äußeren insgesamt in Liebesfragen benachteiligt. Er konnte und wollte nicht glauben, dass sich gut aussehende Frauen wie sie, Nora, wegen seines Charakters mit ihm einließen. Also quälte er sie Tag und Nacht und zwang sie Verzicht und Unterlassungserklärungen zu unterschreiben. Jede der vorherigen Ehen endete mit einer gebrochenen Frau. Eine seiner Ex-Frauen hat Selbstmord begangen, keine von ihnen heiratete wieder und sie stimmen lediglich darin überein, ihre besten Jahre mit Emo verschwendet zu haben.“
Nora protestierte:
„Ich hatte nie das Gefühl unsere Zeit sei verschwendet. Ich habe Emo geliebt und getan, was er wollte. Die anderen Frauen waren Zicken, die nicht sein Genie erkannten, sondern nur auf sein Geld aus waren.“
„Womit wir beim Stichwort wären: Geld“, sagte Stilt lächelnd. „Geld ist bekanntlich Macht und Emo hatte beides im Überfluss. Er kannte so etwas wie Angst kaum, bis er von Brom 13 abhängig wurde. Durch seine Paranoia konnte er niemandem mehr glauben und wusste nicht, wann etwas Wahrheit oder Lüge war. Das muss sie doch sehr belastet haben, nicht wahr?“
Sie antwortete:
„Es gab schwierige Momente, aber wenn wir stritten, wusste ich ja auch immer, dass er es nicht wirklich so meinte und dass da die Krankheit aus ihm sprach.“
„Also warteten sie treu und ergeben darauf, dass ihr Mann eines natürlichen Todes starb, damit sie das Vermögen erben? -Nein, ganz sicher nicht!“
Stilts Stimmlage änderte sich jetzt. Er sprach in schnellerer Wortfolge und eine unterschwellige Wut schien seine Wörter zu begleiten.
„Sie wussten, dass ihr Mann fast pausenlos seinen Tod simulierte. Sie wussten, dass er nach der Einnahme einer großen Dosis Brom 13 nicht mehr in der Lage war zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden und sie stritten mit ihm über seine Versuche sich virtuell umzubringen. Der Grund, warum sie versuchten ihm seine Selbstmordgedanken auszureden mag wirklich Fürsorge gewesen sein, aber bei einem paranoiden Menschen wie Emo erreichten sie dadurch das Gegenteil. Er ließ den Vertrag um die Selbstmordklausel erweitern, um sie zu quälen. Er wollte, dass sie sich immer im Ungewissen befanden, welchen Todes er sterben würde. Ein natürlicher Tod war für sie die einzig verwertbare Möglichkeit...oder eben ein Mord.“
„Ich protestiere!“ Rief Nora erbost. „Nichts von dem stimmt oder ist nachweisbar. Ich hatte bis zu Emos Tod ein liebevolles Verhältnis und wollte nur das Beste für ihn. Das würde ich sogar unter Eid und mit Lügendetektor aussagen.“
Stilt lächelte verschlagen.
„Das weiß ich, Frau Nubb, das weiß ich. Aber was, wenn das beste für Emo sein rascher Tod gewesen wäre. Hätten sie ihm nicht auch einen Gefallen getan, wenn sie ihn von seinem Leiden erlöst hätten?“
Nora wandte den Kopf ab und weigerte sich darauf zu antworten. Stilt holte ein kleines Gerät, dem Anschein nach eine Fernbedienung aus der Tasche.
„In der Nacht seines Todes stritten sie. Emo hatte eine große Dosis Brom 13 intus und sagte ihnen, er werde jetzt Selbstmord begehen. So oder so ähnlich lief wahrscheinlich jeder seiner Versuche ab. Danach ging er in sein Büro und stellte die Konsole ein. Bevor er die Simulation starten konnte, klopfte aber schon der Attentäter an das Fenster und Emo beobachtete, wie er sich durch das Glas brannte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte er vergessen, dass er sich in der Realität befand und glaubte einfach irgendein Programm liefe vor ihm ab.
Innerhalb kurzer Zeit hatte der Angreifer das Glas durchschnitten und trat in den Raum ein. Weil es draußen schwer geregnet hatte, hinterließ er Fußspuren auf dem hellen Teppich. Sehr kleine Fußspuren, möchte ich bemerken. Der Angreifer zögerte nicht lange, sondern schoss ein Projektil unbekannter Art auf Nubb ab, das seinen Kopf beidseitig durchschlug, aber nirgendwo zu finden ist. Der Fehler unserer Ballistik-Experten war, das sie versuchten die Waffe zu rekonstruieren, anstatt den Mörder selbst.“
Er nickte Zhu zu, der daraufhin die Tür sicherte, so dass niemand auch nur an einen Fluchtversuch denken würde. Dann fuhr er fort, die Fernbedienung in seiner Hand schwenkend.
„Da weder Mörder noch Mordwaffe gefunden werden konnten standen wir vor einem Rätsel. Erst ziemlich spät – genau genommen gestern – wurde mir klar, dass weder der eine noch der andere den Raum verlassen haben. Nimmt man dazu die relativ geringe Größe des Mörders in Rechnung und folgt der Spur seiner Fußabdrücke, dann kommt man bis hierher.“
Er versetzte dem Ledersessel einen Klaps.
„Genau hier, wo dieser Sessel steht, muss sich der Mörder befunden haben, als er den tödlichen Schuss abfeuerte.“
Er untersuchte die Fernbedienung und fand den Knopf, den er brauchte, drückte ihn aber noch nicht.
„Die Forschungsabteilung von CraneX war so gütig mir diesen Auslöser zur Verfügung zu stellen, der jeden Angel in seine vorherigen Formen zurückverwandeln kann. Wenn ich richtig verstanden habe, muss ich nur einmal drücken...“
„Schon gut!“ Rief Nora überraschend laut. „Sie haben gewonnen!“ Gab sie kleinlaut zu.
„Ja, ich war's, ich hab's getan – und zwar genau so wie sie es erklärt haben und hätte es in dieser verfluchten Nacht nicht geregnet wären sie nie darauf gekommen.“
Sie seufzte.
„Aber ich wollte Emo wirklich helfen. Er war zu feige es selber zu tun. Selbst seinen Tod sollten andere für ihn übernehmen. Verstehen sie, ich lebte in der ständigen Angst er könnte Selbstmord begehen, dazu kam noch, dass ich dann nichts besessen hätte und auf der Straße gesessen hätte. Emo wollte sterben, er musste sogar sterben und in ein paar Wochen wäre es sowieso mit ihm aus gewesene. Aber aus reiner Gehässigkeit würde er noch auf dem Todesbett Selbstmord begehen, nur um mir und er gesamten weiblichen Rasse eins auszuwischen. Er war pervers und selbstzerstörerisch. Ich konnte nicht zulassen, dass er Selbstmord beging, aber ich wollte nicht von der Gnade eines Paranoiden abhängig sein. Darauf war kein Verlass.
Ich wusste auch, dass kein Attentäter jemals bis in die Nähe von Emo kommen konnte und erst als er mir die neuen Angels zeigte und ich mir einen aussuchen durfte, sah ich eine Gelegenheit kommen, wie wir alle aus der Sache gut herauskommen würden. Einen Angel zu programmieren ist ein Kinderspiel. Das Problem ist nur, dass sie nicht sonderlich groß sind. Ich sah mir Emos Selbstmordprogramme an und fand eines, in dem er, in seinem Büro, von einem Schulmädchen erwürgt wurde – weitere Details lasse ich lieber aus. Ich rüstete meinen Angel mit zwei Plasmabrennern aus und nutzte die Gelegenheit als Emo sich nach unserem Streit in sein Büro verkroch. Das Programm lief genauso ab, wie er es geplant hatte, nur dass er sich eben noch in der Wirklichkeit befand und nicht in der virtuellen Welt. Einen friedlicheren Tod kann man sich kaum wünschen...“
„Machen sie Witze?“ Fragte Kurtzweil. „Einen Kopfschuss würde ich kaum als friedlichen Tod bezeichnen!“
Stilt bedeutete ihm mit einer Handbewegung ruhig zu sein.
„Fehlt immer noch die Tatwaffe!“ Sagte er und drückte den Knopf. Vor ihren Augen verwandelte sich der Sessel in dem Detective Stilt eben noch gesessen hatte in eine Schulmädchen von vielleicht 12 Jahren, im karierten Rock und weißer Bluse. Sie stand völlig unbeweglich vor dem Schreibtisch und bewegte sich nicht.
„Warum bewegt sie sich nicht?“ Fragte Zhu verblüfft über die Enthüllung.
„Das Programm ist abgelaufen, finito, vorbei!“ Erklärte Stilt und wandte sich an Nora Nubb.
„Mrs Nora Nubb, ich verhafte sie wegen Mordes an Emo Nubb. Da sie ein volle Geständnis abgelegt haben, dürfte sich das strafmindernd auf den Schuldspruch auswirken...“
„Womit muss ich rechnen“, fragte sie mit Tränen in den Augen.
„Mindestens Lebenslang.“ Sagte Stilt leise.
Zhu hatte sich ihr genähert und hätte gerne etwas tröstendes gesagt, aber dazu war es zu spät. Nora Nubb drehte sich abrupt zu ihm um und riss seine Waffe aus dem Halfter. Bevor jemand reagieren konnte, presste sie das kalte Metall gegen ihre Schläfe und drückte ab. Zhu wurde mit Blut vollgespritzt und rief verzweifelt:
„Oh mein Gott, nein!“
Der Psychiater Prof. Kurtzweil starrte fassungslos auf den leblosen Körper der jungen Frau. Nach einer kleinen Weile wandte er sich Detective Stilt zu und sagte:
„Jetzt wo sie tot ist kann ich es ihnen ja sagen – sie hatte zeitlebens Versagensängste und erst die Beziehung zu Nubb schien ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Als er dann in paranoide Schübe abdriftete war sie verzweifelt und jeder Versuch ihm zu helfen endete in einer Katastrophe...so auch dieser.“
Stilt wirkte ganz unbeteiligt und sah auf das reglose Schulmädchen und dann hinab auf die tote, junge Frau.
„Das hätte nicht passieren dürfen, aber wenigstens blieb ihr eine Wahl. Hoffen wir, dass sie die letzte ist, die dem unersättlichem Appetit Emo Nubbs zum Opfer gefallen ist.“
Er nahm sein Telefon zur Hand und rief das Revier an.
..
Ende