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Zettel

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19.10.2021
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Zettel

Zettel

Seit einigen Tagen, genauer gesagt, seit Hermanns Briefe ausgeblieben sind, ist Wollschon sehr verstört. Kaum, dass er noch grüßt im Park, und selbst wenn er nach langen ziellosen Wanderungen auf den Wegen am Weiher entlang endlich auf einer Bank ausruht, laufen seine Finger fahrig weiter auf den schmächtigen Oberschenkeln.

Manche behaupten, Hermanns Briefe hätten bemerkenswerte Geldbeträge enthalten, die Wollschon jetzt schmerzlich vermisse. Einige versteigen sich sogar zu der Behauptung, er habe endlich den Mut gefunden, eine geschmacklose Liaison zu beenden, und lächeln anzüglich bei der Vorstellung greiser Lust.

Wollschon, von verschiedenen Seiten auf seine offensichtliche Niedergeschlagenheit angesprochen, hüllt sich in Schweigen. Hermann dagegen tut seit Tagen sehr gesellig, doch kann man beobachten, dass er bei seinen Spaziergängen stets den Teil des Parks meidet, den Wollschon gerade abschreitet.

Ich fürchte, dass diese Verhaltensweisen zu weiteren üblen Gerüchten führen können. Es ist bekannt, dass Müßiggänger großes Talent besitzen, schlecht über andere zu reden, und wer in unserem Haus wäre nicht müßig. Mir selbst sind schon Gedanken gekommen, für die ich mich schämen müsste, würden sie publik. Der Konflikt zwischen Wollschon und Hermann belastet mich auf sehr persönliche Weise, obwohl ich zu beiden kein inniges Verhältnis habe. Sie lassen ungern jemanden an sich heran, sind wenig zuvorkommend, auch den Damen gegenüber, und sind recht einsilbig. Hätte sich seinerzeit nicht durch einen dummen Zufall herausgestellt, dass Hermann Briefe an Wollschon schickt, wären wir gewiss davon ausgegangen, dass die beiden keinerlei zwischenmenschliche Kontakte pflegen. Im Lauf der Monate haben alle im Haus mitgekriegt, dass diese einseitige Korrespondenz besteht, doch nun, da sie unterbrochen ist, sprießen die Spekulationen. Hinter vorgehaltener Hand zerreißen sich die anderen das Maul und warten ab.

Ich ertrage solche Situationen einfach nicht, auch wenn ich selbst gar nicht beteiligt bin. Deshalb, und nur deshalb, habe ich heute Morgen diese Zettel geschrieben und jeweils einen unter den Zimmertüren von Hermann und Wollschon durchgeschoben, nachdem beide das Haus in Richtung Park verlassen hatten. Jetzt ist gleich Mittagszeit, und nach dem Essen wird sicher jeder der beiden ein wenig ruhen wollen. Ich bin gespannt.

Es hat zum Abendbrot geläutet. Heute bin ich einer der ersten im Speisesaal. Ich gehe dem Küchenpersonal zur Hand, verteile die Schüsseln mit Frühlingssuppe auf die Tische und hantiere an der Brotschneidemaschine, deren Tücken Frau Wilms, die Köchin, fürchtet. Eben klingen Schritte vom Stiegenhaus herunter. Auch den Fahrstuhl habe ich gehört. Ich laufe zum Eingang des Saals und schaue verstohlen hinaus. Da kommen doch tatsächlich Wollschon und Hermann Seite an Seite den Flur entlang. Beide lachen, wohl über eine Zote, und Hermann klopft Wollschon auf die Schulter. Nie waren sie sich wohl näher. Und dabei habe ich nur „Verzeih mir“ auf die Zettel geschrieben.

 

Hallo @Corso,

willkommen bei uns Wortkriegern!
Dein kleiner Einstand hat mir sehr gut gefallen. Nicht nur, weil es ein schön sinnhaftes Happy End gibt, denn ich bin nicht happyendsüchtig. Sondern auch, weil du alles in der Geschichte drin hast. Es bleibt bis zum Ende hin spannend und dem Leser bleibt genügend Raum für eigene Phantasien in Bezug auf das, was die beiden wohl entzweit haben könnte und natürlich auch, was sie überhaupt verbunden hat. Und durch das pfiffige Ende ist zwar einerseits bis dahin alles offen und steht in Fragezeichen, aber wird am Ende so aufgelöst, dass es nicht mehr als brennende Frage stecken bleibt zum Abschied.
Gut gemacht! Mehr davon!

Lieben Gruß

lakita

 

Ja, das hat mir gut gefallen: anekdotisch, nicht zu lang, sprachlich prezis und auf dem Punkt.
Einzig das hier

Manche behaupten, Hermanns Briefe hätten bemerkenswerte Geldbeträge enthalten, die Wollschon jetzt schmerzlich vermisse. Einige versteigen sich sogar zu der Behauptung, er habe endlich den Mut gefunden, eine geschmacklose Liaison zu beenden und lächeln anzüglich bei der Vorstellung greiser Lust.
verstehe ich nicht ganz. Wieso könnten da Geldbeträge drin sein, wenn die beiden sich jeden Tag sehen und persönlich Geld übergeben könnten?

Die Lösung find ich schön und sie ist einleuchtend.

 

@FlicFlac
@Corso ,

verstehe ich nicht ganz. Wieso könnten da Geldbeträge drin sein, wenn die beiden sich jeden Tag sehen und persönlich Geld übergeben könnten?
Weil das vielleicht zwei schrullige Typen sind, die auf diese Weise kommunizieren und erst recht, wenn es um Geld geht? Das ist ja das Schöne an diesem Text, du darfst dir die Lösung/Antwort selbst aussuchen.

Lieben Gruß an euch beide

lakita

 

Hallo Corso,

der Begriff Anekdote trifft es wohl. Ich sehe nicht so richtig eine Entwicklung, sondern eine Situation löst sich auf.

Aber das finde ich mal zweitrangig. Wichtiger finde ich, dass dein Text gut geschrieben ist. Da stört einfach sprachlich nichts. Dann ein nicht ganz kurzer Abschnitt, in dem du den Ich-Erzähler eine Position zu den Geschehnissen beziehen lässt. Das ist ein bisschen mutig, die eigene Geschichte in der Geschichte analytisch zu betrachten. Es geht aber auf, die Person spricht ja nur für sich als für eine Figur aus der Geschichte. Zudem hat es auch einen ganz bestimmten Grund, warum sie ihre Position beschreibt.

Dann die Auflösung. Zum einen ist sie ein kleiner witziger Zug. Zum anderen von einer zentralen Weisheit zum Thema Konfliktlösung: Der Konflikt wird überwunden allein durch die beiderseitige Fiktion, die andere Seite habe einen Fehler eingestanden. Das bringt in der Sache nichts, vergewissert die Personen aber des Respekts der jeweils anderen Seite.

Die Geschichte hat eine gewisse Belanglosigkeit, ich bin geneigt, sie nur nett zu finden. Aber es steckt etwas mehr drin. Diese ganze Gehässigkeit und Sensationsgier in einem Altenheim, die lässt sich trotz weniger Worte nachempfinden, und sie ist deswegen so gut, weil es eigentlich eine beliebige Community sein könnte, in der man sich gegenseitig beäugt und tratscht und intrigiert. Das tun die Leute nicht, weil sie alt sind, sondern die nötige Muße haben. In dem Zusammenhang lohnt ein Blick auf den Erzähler: Der führt ja ein schönes gutes Ende herbei. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass er bei den Ränkespielen auch mitmacht. Durch seine Zettelaktion. Das bemerke ich wertfrei, geht ja nicht drum, den Protagonisten Orden zu verleihen. Es macht aber deutlich, dass auch der Gute nur Teil des ganzen ist.

Dazu dieses Angedeutete, was lakita schon bemerkt hat: Wir erfahren gar nicht, was das für eine Beziehung zwischen den zweien ist. Das lässt einerseits Raum für Spekulationen, andererseits lässt es deren Bedeutungslosigkeit erkennen. Wesentlich ist nur, was passiert ist: Es hat einen Konflikt gegeben, und er wurde gelöst. Aber die bloße Andeutung einer Liebesgeschichte macht etwas mit dem Text.

Das alles ist dann doch mehr als nur nett, vielleicht noch viel mehr, als ich mit ein bis zwei Mal Lesen erkannt habe.

Zwei Kleinigkeiten:

Einige versteigen sich sogar zu der Behauptung, er habe endlich den Mut gefunden, eine geschmacklose Liaison zu beenden [KOMMA] und lächeln anzüglich bei der Vorstellung greiser Lust.

hinter vorgehaltener Hand wird sich das Maul zerrissen und abgewartet.
Keine schöne Konstruktion, besonders nicht „wird sich das Maul zerrissen“. Diesen Teil des Satzes einfach durch Punkt abtrennen und aktivisch formulieren mit „sie“ (=alle, wurden zuvor bereits erwähnt)?

„Wollschon“ ist ja übrigens ein super Name. Einfach vom Klang, ob er auch inhaltlich mit Bedacht gewählt ist, wird wie vieles andere dem Leser überlassen, der spekulieren oder einfach genießen kann.

Beste Grüße von daedalus

 

Hallo Corso,

willkommen bei den Wortkriegern.

Deine kleine Anekdote hat mir sehr gut gefallen. @Henry K. hat es schön beschrieben: Sie hat eine schlichte Eleganz. Und aus meiner Sicht verdichtest Du sehr schön, in den Sätzen schwingt eine wenig "altmodisches" oder eher gesetztes mit, dass die Situation gut unterstreicht. Hier und da ein paar Andeutungen runden das ab. Bis zum überraschenden Schluss sehr schön.

Vom Erzählstil erinnert mich das ganze an die Geschichten von Herrn K.

Eine kleine Anmerkung: Hier bei den Wortkriegern ist es üblich, den Text gleich oben im Eingangspost zu bearbeiten (wenn Du denn auf die Anregungen eingehen willst). Das betrifft vor allem Rechtschreibfehler und Kommafehler, aber auch stilistisches. Dann sehen die Kommentierenden, dass Du am Text arbeitest.

Ich habe ein paar kleine Anmerkungen.

Seit einigen Tagen, genauer gesagt, seit Hermanns Briefe ausgeblieben sind, ist Wollschon sehr verstört. Kaum, dass er noch grüßt im Park, und selbst wenn er nach langen ziellosen Wanderungen auf den Wegen am Weiher entlang endlich auf einer Bank ausruht, laufen seine Finger fahrig weiter auf seinen schmächtigen Oberschenkeln.
Der Anfang zieht mich sehr in die Geschichte hinein, der Name Wollschon ist - wie bereits angemerkt - sehr schön. Ich würde empfehlen, das zweite "seine" zu ersetzen. "... laufen seine Finger fahrig weiter auf den schmächtigen Oberschenkeln".

Mir selbst sind schon Gedanken gekommen, für die ich mich schämen müsste, würden sie publik. Der Konflikt zwischen Wollschon und Hermann belastet mich auf sehr persönliche Weise, obwohl ich zu beiden kein inniges Verhältnis habe.
Die eigenen Gedanken, für die Erzählerin sie sich schämen müsste, sind ein schönes Detail und vertiefen dieses etwas gesetzte, altbackene.

ch ertrage solche Situationen einfach nicht, auch wenn ich selbst gar nicht beteiligt bin. Deshalb, und nur deshalb, habe ich heute Morgen diese Zettel geschrieben und jeweils einen unter den Zimmertüren von Hermann und Wollschon durchgeschoben, nachdem beide das Haus in Richtung Park verlassen hatten.
deshalb, und nur deshalb, .... gefällt mir gut.

Ich würde aber vor dem "Deshalb" einen Absatz einfügen.

Ich gehe dem Küchenpersonal zur Hand, verteile die Schüsseln mit Frühlingssuppe auf die Tische und hantiere an der Brotschneidemaschine, deren Tücken Frau Wilms, die Köchin, fürchtet.
Auch so ein schönes Detail .

Insgesamt sehr gerne gelesen und kommentiert.

Viele Grüße, Gerald

 

Hallo, ihr Lieben,

habt Dank für eure wohlwollenden Kommentare. Ich habe eure Anmerkungen und Vorschläge weitgehend berücksichtigt und bin zufrieden mit dem Ergebnis.

LG, Corso

 

Im Lauf der Monate haben alle im Haus mitgekriegt, dass diese einseitige Korrespondenz besteht, doch nun, da sie unterbrochen ist, sprießen die Spekulationen …

„Gerüchte“, will ich meinen – und die kommen nicht aus der Küche, wie mancher meint, sondern vom Ruf, der einem vorauseilt oder nachgesagt wird, wie etwa den beiden alten Herren, und was den meisten schwierig erscheint, Konjunktiv II (irrealis und potentialis zugleich), korrekt umzusetzen, was zunächst einen hohen Aufwand an Konzentration erfordert, gelingt Dir auch in den Zweifelsfällen, wo die indirekte Rede (Konj. I) sich mit dem Indikativ kreuzt, auch bei denen man sich durchaus verzetteln kann.

Gern gelesen und damit herzlich willkommen hierorts,

lieber Corso,

vom Friedel,
der auf Dein nächstes Werk gespannt ist und
einen schönen Restsonntag wünscht.

 

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