Mitglied
- Beitritt
- 11.09.2010
- Beiträge
- 4
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Zettel der Erkenntnis
Zettel der Erkenntnis
Es war mal wieder einer dieser grauen und launigen Tage. Die Stadt pulsiert, die Zeit rennt und die Bahn knirscht durch die Straßen. Wie immer sind sie verstopft und die Autos lärmten hupend Meter für Meter. Menschen winken nach Taxen, andere rennen zum Bus und wieder andere streiten sich über die Aktienkurse. Überfüllte Geschäfte gehören genauso zum Stadtbild wie riesige Hochhäuser, bettelnde Obdachlose, schreiende Kinder und laute Haustiere.
Nur einen scheint das alles gar nicht zu stören. Er ist da auch wenn er nicht da ist. Er sieht die Stadt, auch wenn andere ihn nicht sehen. Er hört nur das rauschen des Windes, er spürt die warmen Strahlen der Sonne, ohne die störenden Schatten der Hochhäuser. Er bewegt sich ohne Bus, Auto und Straßenbahn schneller als all die anderen.
Er ist ein Vogel. Frei von Sorgen, stets der Freiheit entgegen fliegend. Mit tiefer Abneigung sieht er dem Stadtbild tagein und -aus zu. Den Kopf schüttelnd fliegt er über all die gequälten Seelen, sieht stets Schmerz, Glück, Liebe und Trennung.
Auch heute sitzt er wie immer um die Mittagszeit herum auf dem höchsten Turm der Stadt. Er sagt, dass man um diese Zeit besonders viele verrückte Menschen beobachten könne. Hier, weit oben über den Häusern auf der Antenne des Fernsehturms sang er in den schönsten Tönen die Lieder der Freiheit.
Er vernimmt eine zweite Stimme. Ein anderes Tier? Wer kann denn so schön singen? Er nimmt Reißaus und fliegt um das Hochhaus herum. Was er sieht, raubt ihm die Sprache. Ein anderer Vogel, anderen Geschlechts, sitzt auf einer Fensterbank des 94. Stocks. Er singt das Lied der Zeit. "Zeitlos dahin leben, stets nach Glück und Freiheit streben" - Wow. Was für ein Text, denkt sich der Vogel und reagiert seinerseits direkt mit dem Gesang der Freiheit. Das Duett der Vögel, ist der schönste Klang, den die Welt je vernehmen durfte. Sie singen von Freiheit, Liebe, Treue und Glück.
Seit diesem Tag wurde der Vogel nie wieder gesehen. Auch der Zweite mit der schönen Stimme war nie wieder zu hören.
Einzig allein ein Zettel flog Stunden nach dem Duett vom Fernsehturm auf die Erde nieder. Ein kleiner Junge hob den Zettel. Er las:" Meine Begegnung ist die Erfüllung. Wir alle sind ständig nur auf der Suche. Das habe ich gemerkt. Wir suchen Zeit. Zeit für die Lieben. Zeit für uns. Zeit für das Leben und Zeit für die Vorbereitung auf den Tod. Gemeinsam lässt sich schöner vorbereiten. Das habe ich nun vor. Ich halte meine Begegnung fest. Wie wir es viel öfter tun sollten. Ich hoffe du auch." Der Junge schreit laut "Ja". Die Mutter erschreckt mit dem Kind an der Hand und forderte ein zügiges weiterlaufen, da es schon sehr spät sei. Der kleine Junge aber riss sich von der Hand, rannte zu einer großen sonnigen Stelle an der Ecke der Straße. Kein Hochhaus wirft sein Schatten auf diese Oase. Er sah zum Himmel und rief "Ja".
fp