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Zetta
Als Dedemaco den Tempel betrat, schickte er zunächst seine Wachen fort. Auch den eifrigen Tempeldienern, die sogleich zu ihm gelaufen kamen, bedeutete er mit einer abwehrenden Handbewegung, dass sie sich wieder entfernen sollten. Er war der Herr in dieser Stadt, und er war zugleich der oberste Priester. Daher befolgte man jeden seiner Befehle und Wünsche, ja selbst die kleinste Geste.
Vor dem Altar blieb er stehen. Er verbeugte sich vor der Statue der Stadtgottheit, bevor er sich auf den für ihn reservierten und mit einem weichen Kissen belegten Platz niederkniete. Dedemaco wollte um Beistand für die bevorstehende Schlacht bitten. Er wollte sich vergewissern, dass er das Richtige tat, ob das so wirklich der Wille des Gottes war.
»Großer Dennisacht«, rief er der Statue zu, »erhöre mich! Uns steht ein schwerer Kampf bevor. Der Gegner ist uns zahlenmäßig überlegen. Wenn wir geschlagen werden, wird unsere Stadt von der gegnerischen Armee überrannt werden. Dann werden wir alle vernichtet! Unterstütze uns, wenn das dein Wille ist. Oder stoppe uns, wenn du andere Pläne hast.«
Dedemaco war sich darüber im Klaren, dass seine Zweifel fast schon an Blasphemie grenzten. Denn es war der Gott gewesen, der ihm den Auftrag gab, Truppen zu mobilisieren und sie in den Kampf gegen eine der Nachbarstädte zu führen. Doch er nahm lieber eine Bestrafung auf sich, als dass die eigene Stadt vernichtet wurde, nur weil er vielleicht etwas falsch verstanden hatte. Er war der König hier, aber damit trug er nicht allein die Macht sondern ebenso die Verantwortung. Und dieser musste er gerecht werden, selbst wenn er damit den Zorn seines höchsten Gottes auf sich ziehen würde.
Ihm blieb nichts anderes übrig, denn so war er erzogen worden. Sein sonstiger Mut, sein Selbstbewusstsein, all seine Stärken waren jetzt und hier untergeordneter Natur. Die Furcht fraß in ihm, ließ seinen Atem zittern. Doch er blieb, wo er war. Den Urteilsspruch des Gottes erwartend, kniete er in Demut vor dem Altar. Wenn er nun sein Leben verlöre, wenn er die Letzte Ewigkeit im Feuer der 1000 Qualen verbringen müsste, für die Stadt würde er es auf sich nehmen.
»So höre MICH, Dedemaco«, ertönte da die Stimme des Gottes.
Der König zuckte zusammen.
»Großer Dennisacht«, krächzte er, »ich bin hier, um...«
»ICH weiß, was dein Begehr ist. Das sagtest du bereits. Doch hatte ICH dir nicht bereits erklärt, was du tun sollst?«
Dedemaco verbeugte sich noch tiefer; »vergib mir, großer Dennisacht. Ich zweifle nicht an deinen Worten, sondern nur an mir, ob ich dich richtig verstanden habe.«
»Ja, das hast du. Greife die Stadt Hongau an! Noch heute. Denn das ist MEIN Wille.«
»Ich werde gehorchen, großer Dennisacht. Meine Krieger stehen bereit. Bitte verleihe uns Kraft und Tapferkeit in diesem Kampf. Beschütze die Männer die mir folgen, so wie ich dir folge. Wenn sie fallen, gib ihnen einen Platz in deinen Hallen, wo sie dir für alle Zeiten dienen können.«
»Wohl gesprochen, König Dedemaco«, antwortete der Gott, »es gefällt MIR, dass du mehr an deine Leute denkst als an dich selbst. Genau so einen König wollte ICH haben. Hebe deinen Blick, schau MICH an!«
Dedemaco tat, wie ihm geheißen wurde. Und er staunte, denn das Gesicht der Statue vor ihm war zum Leben erweckt. Es war nicht mehr das starre, bronzene Abbild der Gottheit, sondern jetzt war es Dennisacht selbst, der ihn anlächelte.
Anlächelte ...
Wärme durchströmte Dedemaco, als er die Freundlichkeit und Güte seines Gottes erkannte. Dieser zürnte ihm nicht. Er lächelte. Beinahe hätte Dedemaco seinen Kopf aus Dankbarkeit wieder gesenkt. Aber er war ja aufgefordert worden aufzublicken.
»Du fürchtest nicht den Kampf und nicht den Tod, du sorgst dich um dein Volk«, sprach Dennisacht; »für die deinen bist du sogar bereit, MEINEN Unmut zu erregen. Das gefällt MIR. Und es zeigt MIR, dass du der Richtige bist, um MEINEN Weg zu gehen. Du wirst MEINE ordnende Hand auf dieser Welt werden. Und wahrlich, du wirst damit nicht nur MEIN Wohlwollen erhalten - ICH werde dich belohnen, wie du es dir nicht in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.«
Darauf war Dedemaco sprachlos, er staunte über diese Worte, und er war maßlos stolz über so viel Lob. Die Aussicht auf eine Belohnung gab ihm weniger, denn für ihn war allein der Zuspruch seiner Gottheit Lohn genug.
»Doch noch ist die Schlacht nicht geschlagen, Dedemaco, König von Macotilis«, fuhr der Gott fort, »denke an MEINE Worte, wenn du dem Feind gegenüber stehst: Zeige Schwäche, um den Gegner zur Schwäche zu verleiten. Nutze deine Stärke, um dem Gegner die seine zu nehmen. Und dann...«
Die Stimme des Gottes schwoll zu einem Donnern an. Dedemacos Augen weiteten sich.
»... dann siege in MEINEM Namen!«
In spätestens einer Stunde würde die Sonne hinter dem Horizont verschwunden sein. Auch das gehörte mit zu dem Plan, den sich Dedemaco zurecht gelegt hatte. Denn nun stand die Sonne nicht nur tief sondern auch in seinem Rücken, so dass der Gegner geblendet wurde. Der junge König hoffte nun, dass dadurch das verborgen blieb, was er auf der Lichtung vorbereitet hatte, durch die er zuvor mit seinen Truppen marschiert war.
Jetzt ließ er diese in Schlachtformation antreten. Bei einigen seiner Offiziere war ihm zunächst eine gewisse Unruhe aufgefallen, als er ihnen die Anordnungen der einzelnen Einheiten mitgeteilt hatte. Da er jedoch der König war und zudem im direkten Auftrag ihre Gottes Dennisacht handelte, wagte niemand einen laut geäußerten Widerspruch. Trotzdem konnte Dedemaco seine Leute verstehen, weil er wusste, dass die Formation völlig ungewöhnlich und eigentlich sogar selbstmörderisch war. Also hatte er ihnen erklärt, welche Absichten er damit hegte.
Er hatte die Lanzenträger in zwei Trupps aufgeteilt, welche die rechte und linke Flanke sicherten. In Phalanxen mit je dreißig Mann neben- und vier Mann hintereinander sollten sie verhindern, dass seine Front durch schnelle Reiter umfasst werden würde. Doch damit fehlte diese Waffengattung im Zentrum, wo sie normalerweise hingehörten. Dort standen an ihrer Stelle nun seine etwa dreihundert Axt- und Schwertsoldaten. Bogenschützen fehlten hier vollständig... als wenn er diese vergessen hätte.
Zeige Schwäche..., hatte ihm seine oberste Gottheit gesagt.
Die Männer auf den Mauern begannen zu johlen. Der Aufmarsch vor den Toren ihrer Stadt war es nicht wert, so bezeichnet zu werden. Zunächst hatten die Posten noch besorgt hinüber geschaut und auch sofort Alarm geschlagen. Doch als sich die Anzahl der ankommenden Truppen nicht weiter erhöhte, wich die Besorgnis. Als dann die überaus lächerliche Aufstellung erkannt wurde, gab es keine Zurückhaltung mehr.
»Was sind denn das für welche?«
»Die haben nicht einmal Bogenschützen dabei.«
Der für die Verteidigung der Stadt ernannte Feldherr Paskut schüttelte den Kopf. Er hätte mit mehr Angriffspotential gerechnet. Immerhin waren die Mauern höher und stabiler als bei den meisten Stadtstaaten in dieser Region. Außerdem hatte er ein Vielfaches an Soldaten zur Verfügung. Die Angreifer würden völlig sinnlos anrennen und sich dabei mehr als nur blutige Nasen abholen. Sie würden wahrscheinlich restlos vernichtet werden, ohne dass die Verteidiger dabei ernsthafte Verluste zu beklagen hätten.
»In einer offenen Feldschlacht würden unsere Truppen Erfahrungen sammeln können. Selbst wenn wir dadurch einige zusätzliche Verluste zu beklagen hätten, wäre der Nutzen größer«, vernahm Feldherr Paskut eine Stimme, die außer ihm niemand hörte.
Er nickte, denn er wusste, von wem diese Worte stammten. Sie waren für ihn wie ein Befehl. Aber sie waren auch absolut nachvollziehbar. Eine leichtere Beute als die dort draußen würde es so schnell wohl nicht wieder geben. Paskut griff nach dem Amulett, das er an einer Kette um den Hals trug. Nach einem kurzen Stoßgebet zu seinem Gott Joppagool gab er die Anweisungen, um den Ausfall vorzubereiten.
In dem Augenblick, als sich das große Stadttor öffnete, atmete Dedemaco erleichtert auf. Zwar konnte er den Ausgang des nun gleich beginnenden Kampfes nicht voraussagen, doch wenigstens dieser Teil des Planes hatte funktioniert. Wäre das Tor verschlossen geblieben, hätte er mit seinen Leuten wieder umkehren können, da dann nichts auszurichten gewesen wäre.
Zeige Schwäche...
Er hatte Schwäche gezeigt, indem er eine leichte Beute vorgaukelte. Jetzt musste er den Gegner dazu bringen, jede eventuell noch vorhandene Vorsicht außer Acht zu lassen. Die Verteidiger der Stadt durften keine einheitliche Front bilden. Deshalb beobachtete er die Einheiten, die gerade die Stadt verließen. Schließlich verebbte die Flut der Kämpfer. Der Feldherr der Verteidiger begann bereits seine Truppen zu ordnen. Damit war der richtige Zeitpunkt gekommen, erkannte Dedemaco. Er hob seinen Arm und gab das Signal.
»Rückzug!«
»Seht nur, sie fliehen!«
Paskut war gerade dabei, seine Offiziere einzuweisen. Jetzt drehte er sich um. Wer auch immer gerufen hatte, er hatte Recht. Die Formation der feindlichen Truppen löste sich gerade auf, und sie liefen davon. Der Feldherr war für den Zeitraum eines Wimpernschlages enttäuscht.
»Verfolge sie!«, hörte er den Befehl Joppagools.
»Der Abstand ist zu groß«, meinte er, ohne dass er es als Widerspruch klingen ließ.
»Verfolge sie nur mit der Reiterei!«
Damit würde er die Abziehenden tatsächlich noch erreichen können, überlegte Paskut. Er sprang auf sein eigenes Pferd, zog sein Schwert aus der Scheide und streckte es zum Himmel empor.
»Reiterei«, schrie er, »Sturmangriff! Folgt mir!«
Er gab seinem Pferd die Sporen, das sich daraufhin erst aufbäumte und dann im Galopp vorwärts preschte. Hunderte Hufe erzeugten nun ein gewaltiges Donnern hinter ihm. Der Feldherr wandte sich noch einmal um und winkte den Offizieren der anderen Einheiten zu, dass sie ebenfalls folgen sollten.
Der Plan ging auf. Die Verteidiger schickten ihre Reiter, um Dedemacos Abmarsch aufzuhalten. Das Fußvolk schloss sich zwar an, doch sie waren deutlich langsamer. Dadurch konnten die Verfolger ihre Reihen nicht geschlossen halten. Mit jedem Schritt, den sie an vorderster Stelle aufholten, zogen sie ihre Formation weiter in die Länge.
... um den Gegner zur Schwäche zu verleiten.
Dedemaco trieb seine Leute zur Eile an. Im Vorfeld hatte er mit voller Absicht die Axt- und Schwertsoldaten in der Mitte zu einem Pulk zusammen gefasst, obwohl diese Einheiten sonst immer in voneinander getrennten Trupps aufgestellt wurden. Die einzelnen Kämpfer bewegten sich wegen ihrer unterschiedlichen Waffen und Ausrüstungen jeweils anders. Daher wirkte alles unruhig und unorganisiert, so dass es noch viel mehr nach einer Flucht aussah, die es gar nicht war. Und wie erwartet stürzte die Spitze der heranpreschenden Reiterei genau auf dieses scheinbar konfuse Zentrum von Dedemacos Truppen zu.
Jene erreichten nun den Waldrand und die Lichtung, die trichterförmig in den Forst hineinführte und dort irgendwann zu einem schmalen Pfad schrumpfte. Rechts und links war die Lichtung von Hügeln umgeben. Als die Soldaten dort ankamen, wurden sie enger zusammen gedrängt. Bei einer echten Flucht wäre jetzt wohl Panik ausgebrochen. Doch das passierte hier nicht.
Die Krieger mit ihren Äxten und Schwertern teilten sich diszipliniert in zwei Gruppen auf und erklommen die Hügel. Dabei konnten sie sich an Seilen festhalten und hochziehen, die dutzendfach an Bäumen festgezurrt waren. Mit Hilfe dieser Seile ging alles viel schneller, als es sonst geschehen wäre. Anschließend nahmen die Männer ihre neuen, vorher abgesprochenen Positionen hinter den gut getarnten Palisaden ein, welche an den Flanken der Hügel zur Lichtung hin errichtet worden waren. Als sie dort ankamen, wurden sie von den Bogenschützen begrüßt, die dort die ganze Zeit gewartet hatten.
Währenddessen waren die Lanzenträger nachgerückt, befanden sich jedoch noch auf der Lichtung. Die gegnerische Reiterei hatte schon fast aufgeholt, und die Männer auf den Pferden schwangen bereits ihre Schwerter, wobei sie siegessicher johlten. Dedemaco selbst kletterte gerade den einen Hügel hinauf, als er nebenbei das vereinbarte Signal gab.
Die Lanzenträger blieben stehen. Es war wie ein Ruck.
Sie drehten sich um, formierten sich in Windeseile. Die Lanzen wurden ausgerichtet. Jetzt war es eine einzige Phalanx, die vierzig Mann breit und sechs Reihen tief war. Die Seiten dieser Phalanx war durch die Ränder der Lichtung, durch die Bäume dort und die Palisaden gedeckt. Es gab einen weiteren Ruck, als die Lanzenträger ihre Füße in den Boden stemmten und die Schäfte ihrer Waffen fester packten.
»DENNISACHT!«, brüllten sie.
Der Feldherr Paskut erkannte die plötzliche Veränderung. Er riss am Zügel seines Pferdes. Doch es war zu spät. Er selbst und die nächsten seiner Begleiter sowie die Tiere unter ihnen wurden aufgespießt. Manche Lanze brach, mancher Träger einer solchen wurde umgeworfen, doch die Phalanx hielt dem Aufprall stand.
Nachfolgende Reiter konnten noch stoppen, aber sie wurden von den wiederum nach ihnen kommenden Kameraden weiter vorwärts geschoben. Viele von ihnen kamen so in die Reichweite der Lanzen. Schmerzensschreie von Mensch und Tier erklangen mehr und mehr. Die Reiterei kam schließlich in einem unübersichtlichen Durcheinander zum Stehen.
Auch die ersten Fußsoldaten der Stadtverteidiger trafen nun ein. Sie wunderten sich vielleicht, weshalb der Sturmangriff so plötzlich stoppte. Aber da sie nicht sehen konnten, was in vorderster Front gerade ablief, hielten sie das Ganze für das Getümmel, in dem gerade die vermeintlich schwachen Angreifer besiegt wurden. Einige von ihnen wollten daran teilnehmen und schlängelten sich zwischen den Pferden hindurch, anstatt bei ihrer Einheit zu bleiben. Andere wollten wieder Aufstellung nehmen, aber da auch noch etliche Offiziere irgendwo feststeckten oder noch nicht am Ort des Geschehens angelangt waren, fehlte eine lenkende Hand.
Nutze deine Stärke, um dem Gegner die seine zu nehmen.
Dedemacos Stärke bestand aus der verdeckten und gesicherten Position, aus der Anwesenheit von eigenen Bogenschützen, die bisher verborgen gewesen waren und aus dem kopflosen Knäuel, in das sich die feindliche Formation verwandelt hatte. Also war es nun an der Zeit, dass er seinem Gegner dessen Stärke endgültig nahm.
»Pfeile los«, befahl er im ruhigen Ton.
Daraufhin surrten fast zweihundert der hölzernen Geschosse durch die Luft und setzten das begonnene Blutbad unter den Stadtsoldaten fort. Diese erste Salve war hauptsächlich auf deren Bogenschützen gezielt, und weitere Salven folgten. Auf diese Weise wurde eine Gegenwehr zunehmend eingeschränkt. Die wenigen Pfeile, die jetzt noch aus dem Gedränge herauskamen, wurden von den Palisaden oder den Bäumen abgefangen, oder sie trafen ... nichts. Da die Stadttruppen nun immer mehr die Übersicht und ihre Moral verloren, und weil kaum noch irgend eine Ordnung bei ihnen vorhanden war, spielte es inzwischen keine Rolle mehr, auf wen Dedemacos Schützen schossen. Diese brauchten nur in die Menge hineinhalten, um eine maximale Wirkung zu erreichen. Panik machte sich bei den Stadtsoldaten breit, was alles weiter verschlimmerte.
Seine Leute wussten, was zu tun war. Und sie taten dies gut. Die eigenen Verluste waren geringfügig. Deshalb konnte sich Dedemaco entfernen, ohne dabei befürchten zu müssen, den Kampf auf der Lichtung noch zu verlieren. Er lief zu einer anderen Stelle im Wald, wo eine weitere Einheit versteckt gewartet hatte: seine Reiter. Es waren lediglich fünfzig Mann, mit denen er in offener Schlacht nur wenig hätte ausrichten können. Doch das Blatt hatte sich gewendet. Jetzt war der Moment gekommen, die Vorzüge dieser Einheit auszunutzen.
Nachdem sich Dedemaco auf ein für ihn bereitstehendes Pferd geschwungen hatte, ließ er kurz seinen Blick über die kleine Truppe gleiten. Er nickte zufrieden.
»Auf geht's«, sagte er zu seinen Reitern.
Solange sie sich noch zwischen den Bäumen befanden, ritten sie entsprechend langsam. Kaum hatten sie jedoch den Wald verlassen, trieben sie ihre Pferde an. Zunächst ließen sie diese traben, kurz darauf begannen sie zu galoppieren.
»Dennisacht!«
In der Stadt war man von einem leichten Sieg ausgegangen, weshalb das Tor nicht geschlossen worden war. Diesen Fehler wollte Dedemaco nutzen. Die Wachen erkannten die Gefahr viel zu spät. Ihr Versuch, das Tor rasch zu schließen, scheiterte, als Dedemaco mit seinen Reitern rechtzeitig dort eintraf und sie niedermachte. Ein paar Milizen kamen herbeigeeilt und stellten sich ihnen mehr verwirrt als mutig in den Weg. Natürlich konnten sie die Eindringlinge nicht aufhalten.
Danach ging es weiter zum Stadtzentrum. Die Reiter trafen nur auf vereinzelte und daher unwirksame Gegenwehr. Oder ihnen begegneten einfache Bürger, die ihnen aber lieber auswichen, als dass sie sich auf eine Auseinandersetzung einließen. Auf dem Platz im Zentrum wartete schließlich eine letzte, noch wehrfähige Gruppe Soldaten, die sich dort um ihre Flagge geschart hatte. Doch auch hier wollte Dedemaco seine Leute schonen. Er ließ die Reiter einen großzügigen Kreis bilden, der die Gruppe einschloss. Dann stieg er selbst von seinem Pferd ab und forderte den Anführer der Stadtsoldaten zum Zweikampf heraus.
Dieser trat hervor. Es war der König der Stadt, Ralles. Somit standen sich nun zwei Könige gegenüber, um auf Leben und Tod miteinander zu kämpfen. Dedemaco griff sich einen Schild und eine Axt. Dann führte er den ersten Schlag, der pariert wurde. Gleich darauf musste er seinen Schild benutzen, als Ralles schnell und gleich mehrfach mit seinem Schwert auf ihn einhieb. Er wich zurück, schlug selbst, wehrte ab und wich erneut zurück. Jedes Mal, wenn er seine Axt benutzte, empfing er im Anschluss drei oder vier Streiche seines Widersachers. Es wirkte, als würde er sich im Hintertreffen befinden.
Ralles glaubte sich daher schon bald im Vorteil, denn er konnte stetig weiter vorrücken. Er bemerkte nicht, wie er dabei in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Es war nicht so, dass Dedemaco einfach nur rückwärts ging. Vielmehr beschrieb er dabei einen Bogen, der ihn zwar erst nach außen, dann jedoch wieder zur Mitte des Platzes führte, so dass er sich auf einmal unmittelbar vor dem letzten Verteidigungstrupp und deren Flagge befand. Die Stadtsoldaten wollten und sollten ja nicht in die Auseinandersetzung eingreifen, und als Dedemacos Reiter dann ihren Kreis so verschoben, dass die Städter den beiden Kämpfenden ausweichen und gleichzeitig in der Mitte der Einkreisung bleiben konnten, war sein Plan restlos aufgegangen.
... dann siege in MEINEM Namen!
Er warf sich auf den Boden, hob seinen Schild über sich und hackte mit der Axt nach den Füßen seines Gegners. Der hatte mit einem so ungewöhnlichen Verhalten absolut nicht gerechnet, weshalb er seine Abwehr nicht rechtzeitig senken konnte. Mit einem Schmerzensschrei fiel er auf die Knie, stützte sich mit seinem Schild ab. Doch Dedemaco gönnte ihm weder eine Pause, noch zeigte er Mitleid. Er riss die Axt zurück an die eigene Brust, wodurch sich diese an Ralles' Schild festhakte und dasselbe mit dem nächsten Ruck beiseite schleuderte. Daraufhin sprang Dedemaco wieder auf, und in einer weiten, fließenden Bewegung schwang er die Axt von oben auf den Kopf des anderen Königs zu. Er traf diesen direkt am Halsansatz zwischen Helm und Harnisch.
Ohne weiter auf den tödlich Verwundeten zu achten, und ohne seine Waffe zurückzuziehen, wirbelte Dedemaco jetzt herum. Er packte den Flaggenmast und ein Glücksgefühl überflutete ihn.
»Dennisacht!«, brüllte er aus voller Lunge.
»Dennisacht!«, kam es wie ein vielstimmiges Echo von seinen Reitern zurück.
Die Stadtsoldaten ließen ihre Waffen fallen.
»Sieg«, flüsterte Dedemaco ergriffen.
»So ist es«, bestätigte ihm da Dennisacht; der Gott klang erfreut und zugetan, »du hast die Stadt erobert, so wie ICH es dir aufgetragen habe.«
Der kleinen Wohnung waren zwei Punkte auf den ersten Blick anzusehen. Erstens: der Inhaber war alleinstehend. Und Zweitens: dem Inhaber schien es vollkommen egal zu sein, in welchen Zustand sich sein Zuhause befand. Dennis war bestimmt kein Messi, dazu fehlte ihm die Zeit und das Interesse, um irgendwelchen Krempel zu sammeln. Bei ihm blieb einfach nur viel liegen, denn er hatte anderes zu tun, was ihm wichtiger war.
Als er sich jetzt seine angespannte Sitzhaltung lockerte und sich zurücklehnte, war er sehr zufrieden mit sich. Die letzten beiden Stunden waren gut gelaufen, fand er. Seine erste Eroberung in dem MP-Spiel war perfekt. Und schon kamen die ersten Glückwünsche rein. Mehrere Mitglieder aus seiner Allianz schickten ihm mehr oder weniger kurze Briefchen, die er sich aber erst etwas später zu Gemüte führen wollte.
Auf den leisen Glockenklang reagierte er allerdings. Es war ein Chatanruf, den er entgegen nahm.
»Hey, Dennis«, hörte er Mike in seinem Headset, »sauber gemacht. Ich staune ja.«
»Wieso? War doch klar. Ich bin kein Anfänger. Das ist die sechste oder siebte Welt, in der ich schon spiele.«
»Mag sein. Aber der andere war doch fast doppelt so groß wie du.«
»Ich habe keine Ahnung, wie groß der Typ ist«, lachte Dennis gönnerhaft.
»Ach komm schon. Du weißt, was ich gemeint habe.«
»Ja, klar«; Dennis winkte ab, was Mike jedoch nicht sehen konnte, weil es nur ein Voice-Chat war, »der war um Faktor zwei Komma zwei sieben in der Überzahl. Nur hatte er keinen blassen Schimmer, wie er damit umgehen musste. Ich sag's ja immer: Punkte gewinnen keine Schlachten.«
»Stimmt schon«, meinte Mike, »trotzdem war das 'ne Superleistung.«
»Das finde ich eigentlich auch«, lachte Dennis erneut.
»Dann bin ich jetzt ganz Ohr, großer Meister. Wie hast du das hinbekommen?«
Dennis tippte und wischte ein wenig auf seinem Pad herum. »So, ich habe dir mal ein Video zusammen gestellt. Taktischer Ablauf der Schlacht und die filmischen Höhepunkte à la Hollywood. Die Funktion gibt es seit dem letzten Update. Ist ein echt geniales Tool.«
»Jo, gesehen hatte ich das schon. Aber ich bin ja noch nicht so weit, dass ich solche Kämpfe machen könnte.«
»Warte erst mal ab. Das wird noch viel mehr abgehen, wenn du erst mal Armeen mit zwanzig- oder dreißigtausend Mann antreten lässt.«
»So weit muss ich erst kommen«, wiegelte Mike ab.
»Das wird schon. Du musst nur meiner Führung vertrauen. Wenn du das machst, was ich dir sage, bist du auch bald soweit, um erobern zu können.«
»Machst du eigentlich noch etwas anderes außer diesem Spiel?«
»Gibt es denn etwas anderes, was wichtig genug wäre, dass ich meine kostbare Zeit darauf verschwenden könnte?«
»Gute Gegenfrage.«
»Na, überleg doch mal. Abgesehen von der wahnsinnigen Grafik und dem Sound hat dieses Game einfach eine enorme Spieltiefe. Ich finde, dass die Möglichkeiten total bahnbrechend sind. Du kannst hier nicht nur Häuser bauen und Truppen ausheben. Du kannst sogar Blutlinien züchten, dabei bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften fördern. Genau da ist auch ein wichtiger Ansatzpunkt. Manche züchten nur starke Krieger oder kluge Diplos. Aber die Mischung macht es. Am besten ist es, wenn du immer dafür sorgst, dass dein Königshaus eine Menge Kinder in die Welt setzt - mit vielen verschiedenen Elternteilen, damit die nicht alle gleich werden.«
Dennis sprach gern über das Spiel. Er hielt sich selbst für eine Art Guru und hatte bereits oft darüber nachgedacht, dass er bei einschlägigen Veranstaltungen über das Thema dozieren könnte. Dabei stellte er sich dann aufmerksame Gesichter von Leuten vor, die mit großen Augen an seinen Lippen hingen. Das wäre schon was, dachte er. Allerdings würde es auch bedeuten, dass er während einer solchen Vorlesung nicht spielen konnte... Das fand er weniger gut.
Als vor ein paar Tagen eine neue Spielwelt eröffnet wurde, war er natürlich dabei. Die erste Zeit war wie immer entscheidend, um die Weichen für den weiteren Fortlauf in die richtigen Bahnen zu lenken. In dieser Phase tauchte Mike auf, der ein Noob war, und den Dennis anfänglich für potentielle Beute hielt, sobald der Anfängerschutz abgelaufen war.
Als Mike den Kontakt suchte und sich als Mann im mittleren Alter entpuppte, der über Grundintelligenz, Interesse und Aufgeschlossenheit verfügte, hatte er sich umentschieden. Er wollte Mike die richtigen Tipps und Anleitungen geben, so dass sie beide gemeinsam agieren konnten.
Es gab immer wieder persönliche Bündnisse, was nicht unüblich war. Von diesem versprach sich Dennis allerdings etwas mehr, denn die Stadt seines neuen Freundes lag direkt neben der eigenen. Durch diese Nähe könnten sie sich besser und schneller unterstützen, sie könnten eine wesentlich stabilere Basis auf dem Territorium errichten, sie könnten abwechselnd und wenn nötig in Schichten aufeinander Acht geben.
»Ok, bloß die Kinder von König und Königin sind sich immer recht ähnlich«, warf Mike ein und unterbrach damit Dennis' Gedankengang.
»Das glauben die meisten«, widersprach der, »es gibt da nämlich einen Trick. Das Gameplay ist so aufgebaut, dass man auswählen kann, ob man mit männlichen oder weiblichen Anführern spielt. Deshalb kannst du den, den du für die Zucht erhalten willst, als Oberchef einsetzen. Und den anderen machst du zum Feldherrn, gibst ihm oder ihr die schlechteste und kleinste Truppe mit, die du hast, und schickst ihn oder sie zu einem der computergesteuerten Barbarendörfer. In der Regel überleben die das nicht. Dann steht einer neuen Brautschau nichts im Weg, und du kannst jemanden mit anderen Genen aussuchen. Das machst du solange, bis du alle deine Varianten an Nachkommen zusammen hast. Oder bis dein Throninhaber nicht mehr zeugen kann.«
»Darauf bin ich ja noch gar nicht gekommen.«
»Nur wenige machen das so. Aber du siehst ja, auch wenn ich damit am Anfang meine Ressourcen einschränke und weniger Punkteaufbau betreibe. In der Schlacht bin ich dann der Sieger. So wie Eimai Nikitis.«
»Wie wer?«
»Das war mal ein hammermäßig guter Spieler. Der hatte das echt drauf.«
»War? Hatte? Was ist passiert?«
Dennis seufzte traurig. »Er ist ins RL zurück gekehrt. Er wollte wieder leben, hat er gesagt und war am nächsten Tag weg. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.«
»Oh Mann«, meinte Mike, wobei sein bedächtig-zustimmendes Nicken beinahe zu hören war, »das ist hart.«
Einen Moment schwiegen beide andächtig. Dann fing sich Dennis wieder.
»Naja egal. Ich habe eine Menge von ihm gelernt. Aber inzwischen bin ich noch ein Stück weiter als er, behaupte ich mal.«
»Stimmt, du hast eine deutlich größere Stadt erobert, womit wohl keiner gerechnet hatte. Selbst in unserem Allianzforum sind einige ganz schön von dir beeindruckt.«
»Ja, ich sehe es. Aber das ist das was ich meine: wozu viele Punkte mit Häuslebaue und große Armeen sammeln, wenn man durch gezielte Zucht bessere Truppen und durch die Eroberung die Städte der anderen gewinnt? Dann kommen die Punkte von ganz allein.«
»Ich schau mir gerade das Video an, das du mir geschickt hast. Das war ja wirklich eine Wahnsinnsschlacht«, erzählte Mike, »abgesehen von den Kameraschwenks und diesen Hollywood-Einstellungen, die dem Ganzen was Heroisches geben, ich glaube, ich hätte in dem Getümmel irgendwann die Übersicht verloren. Und wenn du sagst, dass alles noch viel größer wird, habe ich Bedenken, ob ich das überhaupt noch überblicken kann.«
»Mach dir deswegen mal keine Gedanken. Ich helfe dir ja. Außerdem brauchst du da genau genommen gar nicht so sehr eingreifen. Das wäre nämlich auch so ein Fehler, den viele Leute machen.«
»Wie führst du denn eine Schlacht?«
Dennis lachte kurz. »Tja, eigentlich tue ich das nicht. Das erledigt jemand anderes für mich.«
»Verstehe ich nicht.«
»Das ist der Grund, weshalb ich dem Zuchtprogramm mehr Aufmerksamkeit gebe als der Stadterweiterung. Du brauchst einen Feldherrn, der stark ist und selbst kämpfen kann, damit seine Soldaten Respekt vor ihm haben und ihm auch wirklich folgen. Wenn die ihn nicht respektieren, neigen die schon mal dazu, einfach fortzulaufen, wenn es brenzlig wird. Das allein würde aber nicht reichen. Der Typ sollte auch möglichst klug sein. Also musst du die Intelligenz hochkurbeln. Und sogar die inneren Werte darfst du nicht vergessen. Zum Beispiel Gottesfürchtigkeit - damit er dir folgt, weil du ja sein Gott bist...«
»Genau, Dennisacht!«, unterbrach Mike glucksend.
»So ist es«, lächelte Dennis alias Dennisacht, »klingt doch geil, wenn die das so mit Inbrunst krakeelen. Wichtig ist auch Mut, weil ohne den nicht viel passiert. Dann Selbstvertrauen - aber nur so zwei Drittel vom Maximum. Hat er zu viel davon, stürzt er sich blindlings auf alles, was vor ihm aufmarschiert. Das klappt vielleicht manchmal, aber nicht immer. Und ich will nun mal immer siegen. Zu wenig Selbstvertrauen darf er allerdings auch nicht haben, sonst zweifelt er an allem - an sich selbst, an dir, an der ganzen Welt.«
Dennis trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die neben seinem bequemen Computersessel gestanden hatte, bevor er fortfuhr: »Wenn du unmittelbar vor einem Kampf mit deinem Feldherrn sprichst, kannst du ihn moralisch ordentlich aufrichten, so dass er alles für dich gibt. Du musst ein paar Pläne für ihn vorbereiten. Die kannst du alle schon fertig machen, lange bevor du in die Schlacht ziehst. Es gibt schließlich andauernd Gelegenheiten, wenn sonst gerade nichts weiter passiert. Da schiebst du im Menü, taktische Karten, Vorgaben die Punkte, Pfeile und Eieruhren ein bisschen herum. Aber das ist eine Sache für sich, erkläre ich dir alles noch genauer.«
»In das Menü habe ich schon mal reingeschnuppert«, meinte Mike, »hat mich ein bisschen erschlagen. Ich fand es ziemlich kompliziert.«
»Richtig. Deshalb beschäftigen sich auch nur wenige, nämlich die Cleveren damit. Wenn du ganz oben mitmischen willst, musst du dich da auskennen.«
»Ich weiß nicht. Muss das wirklich sein?«
»Ja, muss, weil du dort die Parameter festlegst, die dein Feldherr später in der Schlacht verwenden kann. Sobald eine Situation mit einem der vorgefertigten Szenarien übereinstimmt, benutzt dein Sim diesen Plan. Und wenn du 'ne Menge davon zusammenstellst, kannst du ihn auf fast alles vorbereiten. Das ist wie Schach, wenn man soundso viele Züge im Voraus durchdenkt - nur geiler.«
»Jetzt verstehe ich.«
»Umso höher der Intelligenzwert deines Feldherrn ist, desto mehr Szenarien kann er verwalten - also erkennen und anwenden.«
»In dem Fall werde ich mich wohl mit dem Thema beschäftigen. Trotzdem nehme ich gerne jede Hilfe von dir an.«
»Kein Problem«, meinte Dennis, »ich schick dir eine Mail mit Anhang. Schieb die Dateien einfach per Drag 'n Drop auf das Menü-Symbol. Schon hast du deine ersten taktischen Pläne.«
»Merci, die Firma dankt«, kam es zurück, »soll ich damit ein Barbarendorf angreifen?«
»Nö, greif mich an. Wir üben das mal. Ich schicke dir eine klitzekleine Truppe entgegen, die einen unerfahrenen Offizier bekommt. Das sollte dann klappen.«
»Fein, wenn du das für mich machst, ist das toll. Aber du hast Recht: das Game ist wirklich enorm tiefgreifend.«
»Ist es. Wenn man bedenkt, dass wir gerade einmal knapp vierzig Megabyte an Direktdaten auf die Festplatten downloaden mussten, ist das wirklich Hammer.«
»Also läuft es über den Server?«, fragte Mike.
»Davon gehe ich aus. Aber bei der KI, die da abläuft und für jeden Spieler zur Verfügung steht - und es sollen ja über achtzigtausend Teilnehmer allein in Deutschland sein - muss das ein Mega-Giga-Super-Server sein, damit der das alles schafft. Ich habe noch nie ein Ruckeln oder so im Ablauf bemerkt.«
»Stimmt, das habe ich bereits öfter gehört oder gelesen. In einem Forum stand einmal, dass irgend jemand ausgerechnet hat, das theoretisch mehr als einhundert Zettabyte gebraucht werden, um für zehntausend Spieler alle Ablaufdaten zur Verfügung zu stellen.«
»Wow, Zetta? Das ist verdammt viel.«
»Ja, das ist drei Etagen über Tera, also neun Nullen mehr.«
»Heftig. Ich sag's ja, das muss ein Zetta-Monster-Server sein.«
»Willkommen«, sagte John.
Die beiden Männer, die er so empfing, trugen korrekte und sehr teure Anzüge. An den Revers waren Namenskärtchen befestigt, auf denen jedoch keine Namen sondern nur die Bezeichnung Besucher aufgedruckt waren. In einem Hochsicherheitstrakt wie diesem, den die beiden gerade betraten, war das äußerst ungewöhnlich. Aber es war nicht bedenklich, denn die Herren waren ihm angekündigt worden. Ebenso hatte man John darüber informiert, dass er ihnen mit größter Zuvorkommenheit begegnen sollte.
Er musterte diese kurz, um sich ein Bild zu machen. Da sie ja nun einmal keine Namen hatten, wollte er sie wenigstens für sich unterscheiden können. Den einen nannte er deshalb Grauhaar, den anderen Blautuch, weil letzterer ein hellblaues Einstecktuch in der Brusttasche trug.
Grauhaar nickte nur als Antwort auf die Begrüßung, während Blautuch gar nicht reagierte. John ging davon aus, dass nicht mehr zu erwarten war. Deshalb machte er eine einladende Handbewegung in die Richtung des Raumes, in den er die beiden führen sollte. Dieser Raum war das absolute Heiligtum im gesamten Komplex, weshalb hier niemand ohne die allerhöchste Sicherheitsfreigabe hereinkam.
Obwohl bereits ein Dutzend oder mehr Überprüfungen stattgefunden hatten, bevor man überhaupt bis hier her gelangen konnte, musste jeder von ihnen - die Besucher genauso wie John - einen Retinascan über sich ergehen lassen. Erst dann öffnete sich die Tür. In dem einfachen, wenig ansprechenden Raum stand lediglich ein Tisch, hinter dem ein junger Mann zurückgelehnt auf einem Stuhl saß. Als die kleine Gruppe eintrat, erhob er sich mit erwartungsvoller Miene.
Derweil deutete John auf die beiden anderen Stühle, die gegenüber dem jungen Mann am Tisch standen. Er selbst wollte auf dem ergonomisch geformten Hocker Platz nehmen, der sich etwas abseits befand. Doch die Besucher setzten sich nicht. Auf Blautuchs Stirn entstand eine Falte. Ohne sich jemanden speziell zuzuwenden, meinte er mit blasiertem Tonfall: »wir sind nicht hier, um uns Leute vorstellen zu lassen.«
Damit war für John endgültig klar, was ihm vorher schon im Kopf herum gespukt hatte: Blautuch war ihm unsympathisch. Aber gleichzeitig frohlockte er innerlich...
»Ich verstehe, Sir«, meinte John ein Grinsen unterdrückend, »aber mir wurde mitgeteilt, dass Sie diesen Herrn kennenlernen wollten.«
»Dem ist nicht so«, widersprach Blautuch noch eine Spur blasierter.
»Wir wollen die Künstliche Intelligenz sehen und mit ihr sprechen«, fügte Grauhaar etwas gemäßigter hinzu.
John nickte ernst. Die KI, dachte er, was sonst?
»Selbstverständlich«, sagte er und wandte sich an den jungen Mann, »Nestor, würden Sie bitte unseren Gästen die Hand schütteln?«
Über das Gesicht des Angesprochenen huschte für einen winzigen Augenblick ein verstehendes Lächeln. Er hob seine Hand, um sie den Besuchern entgegenzustrecken.
»Also bitte«, kam es sogleich von Blautuch, »was soll ...?«
Als Nestors Hand über die Tischfläche kam beziehungsweise gekommen wäre, verschwand sie, löste sich einfach in Luft aus. Unbeeindruckt hielt er seinen Armstumpf hoch.
»Sie wollten mit der KI sprechen, meine Herren. Das ist sie. Darf ich vorstellen, Nestor Quant. Ansonsten bevorzugt er ein männliches Pronomen.«
»Das ... er ist ein Hologramm!«, staunte Blautuch, was John runterging wie Öl.
»So ist es, und ich wage zu behaupten, dass er das beste und detaillierteste Holo ist, was es zur Zeit auf der Erde gibt. Aber das ist ja nur das äußere Erscheinungsbild. Unterhalten Sie sich mit ihm, dann werden Sie rasch feststellen, welches Potential noch in ihm steckt.«
Nestor ließ jetzt den Arm sinken, wobei seine Hand wieder auftauchte. Nachdem die Besucher Platz genommen hatten, setzte auch er sich. John zog sich auf seinen Hocker zurück und blieb von nun an im Hintergrund.
»Gut, Sie haben uns überrascht«, gab Grauhaar zu, »aber wir vertreten ... Interessengruppen, denen an anderen Aspekten gelegen ist.«
»Wir haben eine enorme Menge finanzieller Mittel in dieses Projekt gesteckt«, schob Blautuch hinterher, der seine selbstgefällige Haltung wiedergefunden hatte; »dafür erwarten wir natürlich Ergebnisse, die das rechtfertigen.«
Mit einem leichten Wiegen des Oberkörpers zeigte Nestor seine Zustimmung.
»Das ist verständlich«, erklärte er, »wenn Sie achthundert zweiundvierzig Millionen Dollar investieren, möchten Sie wissen, was damit angestellt wurde.«
Die Besucher blickten auf. Sie hatten diese Summe für Verschlusssache gehalten.
»Woher haben Sie die Zahlen?«
»Von Ihnen.«
»Das ist ... Sie haben uns gehackt?«
»Nein, das war nicht nötig.«
Grauhaar kniff die Augen misstrauisch zusammen. »Ich behaupte von mir, dass ich durchaus Ahnung von IT habe. Entweder Sie haben uns gehackt oder nicht.«
»Ich sagte ja bereits, das war nicht nötig.«
Nach einer kurzen Kunstpause winkte Nestor ab und begann zu erklären.
»Der gewaltige Umfang der Anforderungen an das Global Observer System GObSys erforderten die Erschaffung und Anwendung einer Künstlichen Intelligenz, die in der Lage wäre, diesen Umfang zu bewältigen. Deshalb wurde ich geschaffen.«
Es schien, als ob Nestor auf einmal in einem helleren Licht erstrahlen würde. Wahrscheinlich war das wohl wirklich der Fall, denn sein Stuhl und die Luft, die ihn umgab, gehörten ebenfalls zu dem Hologramm.
»Zunächst sollte es nur um Verwaltungsaufgaben gehen. Doch bald wurde klar, dass es damit allein nicht getan wäre. Entscheidungen müssten gefällt werden, weiterführende Auswertungen würden folgen. Ihre Investitionen, meine Herren waren davon jedoch nicht betroffen, denn es ging nur um die Programmierung. Allerdings war genau diese das Problem. Es gab sie noch gar nicht.«
»Soweit mir bekannt ist, hat jemand dafür eine Lösung gefunden«, warf Blautuch wissend ein.
»Ja, das war ich - in einem noch sehr frühem Stadium. Sie kennen also die Lösung?«
Blautuch schüttelte mit zusammen gepressten Lippen den Kopf.
»Outsourcing«, sagte Nestor trocken; »die NASA hat es mit ihrem SETI@home vorgemacht. Ich habe diese gute Idee übernommen und Teile der Programmierung ausgelagert. «
»Was? Das ist ein Geheimprojekt! Das kann doch nicht veröffentlicht werden ...«
»Wurde es nicht«, entgegnete Nestor schulterzuckend, »kennen Sie das Spiel Ancient World?«
»Sie verwirren mich«, gab Grauhaar zu, »aber ja. Ich habe davon gehört. Nur, was hat das hiermit zu tun?«
»In dem Spiel können die User die Charaktere ihrer Figuren formen. Dieser Prozess ist mit einem Algorithmus unterlegt, der es mir ermöglicht hat, mich weiterzuentwickeln. Nebenbei war ich in der Lage, wiederum das Gameplay zu verbessern, was dann auch für mich wiederum weitere Fortschritte bedeutete. Das Ganze hat sich sozusagen weiter und weiter hochgeschaukelt. Und tut es immer noch ... auch jetzt, während wir miteinander reden.«
»Sie meinen, dass Sie gleichzeitig dieses Spiel leiten?«, fragte Grauhaar.
»Natürlich. Sie haben Ihr Geld immerhin in einen Quantencomputer investiert. Sie können davon ausgehen, dass die Kapazitäten nicht nur ausreichend sondern sogar noch lange nicht erschöpft sind.«
»Demnach werden Sie von den Usern weiterentwickelt? Das klingt erst mal interessant. Aber wann können wir denn mit Ergebnissen rechnen, die mit dem eigentlichen Auftrag zu tun haben?«
»Genau«, meldete sich Blautuch, »das Kosten-Nutzen-Verhältnis muss angepasst werden.«
»Über die Kosten müssen Sie sich in Zukunft keine Gedanken mehr machen. Es mag sein, dass andere Projekte, mit denen sie sonst zu tun haben, immer wieder neue Finanzspritzen benötigen. Hier ist dem nicht so. Weltweit gibt es inzwischen mehr als eine Million Spieler. Pro Woche steigt die Zahl um zwei bis drei Prozent, und durchschnittlich bezahlt jeder von diesen fünfzehn Dollar, um ein paar Extras zu erhalten, damit es im Gameplay ein bisschen besser läuft. So viel dazu«, lächelte Nestor nonchalant in Richtung Blautuch.
Dann nickte er Grauhaar zu und fuhr fort: »Der Auftrag wird bereits abgearbeitet. Ich erwähnte es ja, dass ich nicht hacke. Ich bin überall schon drin. Durch das Spiel. Die Leute laden mich rein, wenn Sie mir dieses kleine Wortspiel erlauben.«
»Das ist ja hinterhältig«, meinte Grauhaar, lächelte allerdings dabei.
»So war der Auftrag schließlich auch formuliert, Mr. Hanson.«
Grauhaars Lächeln erstarrte; Blautuch riss die Augen auf.
»Es genügt, wenn man nur kurz reinschaut. Man muss nichts runterladen, keine Registrierung, da ist nicht einmal ein Trojaner notwendig. Ihr Assistent, Mr. Hanson, hatte das kostenlose Szenario ausprobiert. Mehr brauchte ich nicht, um alles über ihn und über Sie zu erfahren.«
»Mist.«
»Keine Sorge, ich arbeite ja sozusagen für Sie«, beschwichtigte Nestor, »Sie können davon ausgehen, dass ich bei Ihnen nicht weiter aktiv werde. Ich habe Ihre Computer sogar mit besseren Firewalls ausgestattet, so dass Sie beinahe genauso gut geschützt sind wie diese Anlage, in der wir uns befinden.«
Grauhaar Hanson überlegte eine Weile, er schien zwiegespalten zu sein. Schließlich rang er sich offenbar zur Überzeugung durch, dass ihm die letzte Aussage ausreichte.
»Beweisen Sie mir, dass das alles auch so stimmt, wie Sie behaupten - inklusive Ihrer Loyalität. Besorgen Sie mir alle Daten von einem gewissen Bogdan Jurewicz. Das ist der Sicherheitsverantwortliche der kroatischen UN-Delegation. Wann kann ich damit rechnen?«
Nestor zögerte etwa eine Sekunde. Dann strahlte er Hanson an.
»Fertig.«
»Am Schluss waren die ja total aus dem Häuschen«, sagte John gute zwei Stunden später.
Er war sehr zufrieden mit dem Verlauf des Treffens. Auch wenn er sich selbst größtenteils im Hintergrund gehalten hatte, war er nicht ganz unbeteiligt gewesen. Er hatte immerhin die maßgeblich wichtigen und meisten Programmierzeilen beigesteuert, bevor sich Nestor zur eigenständigen Intelligenz entwickelte. Eine Zeitlang hatte er sich für eine Art Vater von diesem gehalten, inzwischen empfand er eher so etwas wie brüderliche Gefühle. Sicherlich lag das auch an der optischen Darstellung, welche die KI für sich selbst gewählt hatte.
»Sie haben ja auch alles bekommen, was sie haben wollten«, meinte Nestor.
Er lächelte dabei freundschaftlich und sehr vertraut. Für ihn war das nur ein Abrufen einiger Codes, welche die Kubikpixel seines Hologramms veränderten. Es stand jedoch nichts weiter dahinter außer seiner bewussten Absicht. Umgekehrt hatte Nestor die Möglichkeit, zusätzlich zu den Bildern der normalen Kameras auch Infrarotaufnahmen benutzen zu können. So konnte er äußerst genau die wahren Emotionen hinter der Oberfläche von Menschen erkennen, die ihre Mimik vielleicht unter Kontrolle hatten, ihre körperlichen Reaktionen allerdings nur sehr eingeschränkt beeinflussen konnten. Hinzu kamen die Mikrobewegungen, die er mit seinen technischen Fähigkeiten viel besser und genauer erkennen sowie auswerten konnte.
»Ja, und sie haben es sofort bekommen. Das hatten sie bestimmt nicht erwartet«, stimmte John zu.
»Ich war einfach nur gut vorbereitet«, erklärte Nestor, »darauf hat mich jemand gebracht, der meinte, dass man immer mehrere Züge vorausdenken muss, wie beim Schach eben.«
Soweit er auf seine eigene Weise dazu in der Lage war, hatte er sich gewundert, als er von diesem Vergleich gehört hatte. Schachroutinen waren auch irgendwo in ihm enthalten, und wahrscheinlich würde er in diesem Spiel jedem menschlichen Gegner überlegen sein. Doch es war gar nicht die Erkenntnis, die dem Spiel entnommen werden konnte. Vielmehr war er davon überrascht, dass diese zwar bekannt war, aber nur in solch kleinem Rahmen außerhalb von Spielen angewandt wurde.
Er selbst machte kaum noch etwas anderes. Er plante inzwischen mit so vielen Zügen im Voraus, dass er damit einen sehr hohen Prozentteil seiner Kapazitäten beanspruchte, mehr als er für die Internetgames benötigte, sogar mehr als er für die Spionagetätigkeit brauchte.
»Muss ein kluger Kopf sein, von dem du das hast.«
»Naja, es geht. Obwohl...«
Nestor wackelte mit dem Kopf; und John war wieder einmal überrascht, wie realistisch und natürlich das wirkte. Als die Darstellung des Hologramms erstellt wurde, waren Grafiker, 3D- und Animationskünstler hinzugezogen worden. Die Ergebnisse waren beeindruckend gewesen. Doch erst, nachdem Nestor seine Programmierung in die eigene Hand genommen hatte, wirkte es richtig natürlich. Wahrscheinlich lag das daran, weil die Übergänge fließender wurden, weil sie immer besser zur jeweiligen Situation passten, und weil es dadurch völlig normal aussah.
In John waren Stolz, Respekt und Genugtuung gewachsen. Nur ein äußerst winziger Teil in ihm meldete zaghafte Kritik an. Doch diese ignorierte und verbannte er. Seine Zuneigung zu der KI war groß geworden, wie sie sonst nur gegenüber echten Menschen entstehen konnte. Und irgendwie machte ihn das wohl blind.
»Der hat mich als Zetta-Monster bezeichnet.«
»Zetta?«
»Japp.«
»Oh Mann.«
»So ist es«, bestätigte Nestor, »manche Leute denken einfach in viel zu kleinen Dimensionen.«
Einem Menschen wäre vielleicht anzusehen gewesen, dass er in Gedanken war, dass er über viele andere Dinge nachdachte, dass er Pläne schmiedete, die derart weitläufig und groß waren. Nestor sah man es nicht an.
John erkannte das ebenfalls nicht. Genauso wenig ahnte er, dass der Ausspruch der KI auch ihn selbst mit einschloss.
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[„Der US-Geheimdienst NSA gibt Millionen Dollar aus einem Geheimbudget für die Grundlagenforschung an Quantencomputern aus. Das geht aus NSA-Dokumenten aus dem Fundus des Enthüllers Edward Snowden hervor, über die die "Washington Post" berichtet. Den Unterlagen zufolge hofft der Geheimdienst auf einen Superrechner, mit dem sich heutige Verschlüsselungsstandards leicht knacken lassen.“. Quelle: Spiegel Online ]
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/warum-die-nsa-quantencomputer-will-a-941683.html]