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Zerplatzte Seifenblasen
Es war ein gewöhnlicher Wochentag in einer Kleinstadt. In einem Chefarztsekretariat einer Rehabilitationsklinik saßen zwei Schreibkräfte vor ihren Computern. Kurz vor der Mittagspause plauderten sie miteinander und kicherten wie Schulmädchen.
Doch in dem Moment, als sie das schnell näherkommende dumpfe Geräusch von Schritten auf dem Gang vernahmen, wandten sie sich hastig ihren Bildschirmen zu. Sie begannen wieder eifrig auf die Tasten zu hämmern, als hätten sie nie etwas anderes getan.
Mit einem heftigen Ruck wurde die Tür aufgestoßen.
Ohne ein Wort zu sagen, betrat der hochgewachsene ehrgeizige Chefarzt mittleren Alters mit wehendem weißen Kittel das Büro. Mühsam versuchte er zu lächeln, doch es misslang ihm und so zuckte er nur ein wenig mit den Mundwinkeln.
Mit eiligen Schritten bewegte er sich zu dem Schreibtisch der Chefsekretärin. Da diese ihren Urlaub auf Gran Canaria genoss, besetzte die stellvertretende Schreibkraft Eva deren Platz.
Er pfefferte einen Stapel Akten auf die Theke. „Ich habe hier einige Berichte diktiert, die müssen heute dringend noch verschickt werden.“
Von oben herab sah er zu Eva, aber die erinnerte ihn: „Ich habe mich doch heute morgen bei Ihnen entschuldigt, weil ich gleich einen dringenden Arzttermin habe!“
Er stutzte. „Ach ja.“ Sein Blick wanderte zu der Blonden. „Ja, Frau ähm Moser, Sie wissen also was zu tun ist!“ Es klang mehr wie ein Befehl als eine Frage. Eindringlich betonte er: „Ich habe heute Nachmittag eine wichtige Besprechung außer Haus.“
Erschrocken entgegnete sie: „Aber...“ Der Satz blieb ihr im Hals stecken. Er unterbrach sie ruppig : „Kein Widerspruch.“ Nachdrücklich fügte er hinzu: „Ihr Privatleben interessiert mich keinen Stutz.“
Mit diesen Worten verschwand er so schnell, wie er erschienen war.
Die Blonde wartete einen Moment lang, bis sie sicher sein konnte, dass er wirklich außer Hörweite war. Dann fauchte sie wie eine wildgewordene Katze: „Dieser arrogante Typ! Er weiß ganz genau, dass ich meinen Jungen von der Schule abholen muss. Ich lasse ihn sowieso schon immer viel zu lange warten.“
Entschuldigend meinte die andere, während sie in ihren Mantel schlüpfte: „Das tut mir wirklich leid, Sabine, aber ich muss sofort weg!“
Wütend griff die Blonde zum Telefonhörer, um ihre Schwester anzurufen. Widerwillig bat sie diese, ihren Kleinen von der Schule abzuholen und ihn den Nachmittag zu sich zu nehmen.
„Ich sag’s ja immer wieder: Hättest Du Dich bloß nicht von so einem Deppen, der nicht mal den Unterhalt ordentlich zahlt, schwängern lassen!“ kreischte ihre Schwester am anderen Ende in den Hörer. „Dann müsste ich jetzt nicht wieder kilometerweit fahren, um Deinen Fratz abzuholen!“
Sabine verdrehte verzweifelt die Augen. „Die paar Kilometer... Nur noch dieses eine Mal, bitte!“ Und innerlich schwor sie sich, dass sie wirklich das allerletzte Mal um die Hilfe ihrer Schwester bettelte. Zu demütigend war es, sich immer und immer wieder die Schimpfereien über ihren Ex-Freund anzuhören, zu schwer für ihren geliebten Jungen, bei seiner ihn nur duldenden Tante sein zu müssen.
„Ja, also dann hol ich ihn eben ab.“ Und ohne dass sie noch ein Wort entgegnen konnte, hatte ihre Schwester die Verbindung schon beendet.
Sabine atmete erleichtert auf, zwar mit einem etwas unguten Gefühl, doch für heute war der Junge versorgt und ihr Job gesichert.
Währenddessen stieg der stolze Chefarzt in seinen dicken Mercedes.
Hastig ließ er den Motor an, er war spät dran. „Wenn nur kein Stau auf der Autobahn ist“, dachte er. Er musste es einfach noch pünktlich zu seinem Einstellungsgespräch schaffen. Es war entscheidend für seine weitere berufliche Karriere. Raus aus diesem Nest, ein Leben in der Großstadt, ein anspruchsvoller Arbeitsplatz in der Forschung, ein weitaus besseres Gehalt.
Er gab Gas. Er fuhr stadtauswärts, doch dann wurde ihm der Weg versperrt. Umleitung, stand dort geschrieben. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Er fluchte vor sich hin. Der Gedanke an einen Umweg, der um einiges länger dauern würde, ließ ihn noch fester aufs Gaspedal treten. So ignorierte er auch ein Schild, das auf eine Geschwindigkeitsbegrenzung hinwies. Viel zu schnell und zu vertieft in seinen Traum vom neuen, besseren Leben war er, um den Zebrastreifen noch rechtzeitig zu bemerken. Erst kurz davor sah er, wie ein kleiner blonder Junge ansetzte, die Straße zu überqueren. Wie in Zeitlupe sah er ihn vor sich auf die Straße laufen. Diesmal trat er mit aller Kraft auf die Bremse. Vielleicht einen Bruchteil einer Sekunde zu spät. Als der Wagen endlich zum Stillstand kam, hatte er den Jungen längst hinter sich gelassen. Er blickte in den Rückspiegel und sah den Kleinen blutüberströmt auf der Straße liegen. Panische Angst überfiel ihn. Sein Traum von der neuen Stellung drohte wie eine Seifenblase zu zerplatzen, nein nicht nur das, sein ganzes Leben lag vor ihm wie ein Scherbenhaufen! Nein, das durfte nicht wahr sein, das konnte nicht wahr sein. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein Kopf war leer. Wie in Trance und ohne noch länger zu zögern startete er das Auto. Mit quietschenden Reifen verließ er die Unfallstelle.