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Zerbrechliche, sensible Seele
"Ach, du denkst, wir würden dich fertig machen, hä?!" Charlie schubste Sidney voller Wucht nach hinten, so dass sie ihr Gleichgewicht verlor und im Klassenzimmer, wo die ganzen schaulustigen Mitschüler um sie herum standen, auf den Boden fiel. Sidney schüttelte nur mit angsterfüllten Augen den Kopf.
Es ist traurig, dass die Sache so eskalieren musste. Dabei waren Sidney und Charlie doch mal die besten Freunde. Sidney hatte große Angst vor Demütigung. Das hatte sie schon immer. Sie hatte so viel Angst davor, von jemandem ausgelacht zu werden, beschimpft zu werden. Sie hielt sich immer aus Streitigkeiten raus, denn sie wusste, dass sie sowas sehr verletzte.
Doch Charlie und Sidney hatten sich immer öfters gezankt in den letzten Monaten. Und nun stürzt alles auf sie ein. Charlie hatte ihr Tagebuch gelesen.
Ein abosluter Vertrauensbruch für Sidney. Noch dazu ist ihr das total peinlich,
da dort sehr viele private Sachen drinnen stehen, die nicht mal ihre Familie kennt. "Weißt du was? Ich habe dich doch eh nur die ganze Zeit verarscht. Wer will schon mit so einer zurückgebliebenen Ziege befreundet sein?" Brüllte Charlie. Jedes einzelne Wort stach in Sidneys Brust. Sie konnte sich nicht wehren. Sie war wie gelähmt. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, ihr Blick war nur auf Charlies wütendes Gesicht gerichtet. Sie versuchte die Blicke der anderen zu ignorieren, doch sie durchborten sie wie 1000 Dolchstiche. "Du... du verstehst das doch alles gar nicht..." Flüsterte Sidney. Sie konnte kaum richtig Luft holen. "Nicht verstehen? Ich verstehe genau, Sid! Du willst doch überall nur Aufmerksamkeit!" Sidney schüttelte entsetzt den Kopf. Ihr schossen Tränen in die Augen. Ihr Magen schrumpfte von Sekunde auf Sekunde. Sie hatte einen rießigen Kloß im Hals. "Du bist eine kleines, verlogenes, kindisches Miststück!" Charlie knallte ihr das Tagebuch vor die Füße. Jetzt brach sie in Tränen aus und konnte endlich schreien: ,,Du verstehst doch gar nichts! Du weißt nicht, wie das ist, seine Geschwister nicht zu kennen! Du weißt nicht, wie das ist, jahrelang nach ihnen zu suchen, obwohl man weiß, dass sie schon tot sind! Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt alleine zu sein. Wenn einen die Eltern zu Hause verabscheuen und du dich nur noch wie Dreck fühlst! Das weißt du alles nicht!" Die Schüler um sie herum gaben ein entsetztes Laut von sich. Sidney sprang vom Boden auf und rann davon. Sie rann auf die Mädchentoillette und sperrte ab. Das Leben war die Hölle. Sie wollte doch nur eine Schwester haben. Eine große Schwester, mit der sie über alles reden kann und mit der sie lachen kann. Bei der sie sich ausweinen kann, wenn es ihr schlecht geht, ihr einfach in die Arme fallen kann, ohne, dass sie etwas sagen muss.
Sie wollte doch nur einmal im ganzen Leben geliebt werden. Natürlich suchte sie nach Zuneigung. Mit falschen Methoden. Anfangs verletzte sie sich um Aufmerksamkeit zu bekommen, hörte aber damit auf, als sie merkte, wie sinnlos es war. Dann schrieb sie haufenweiße Frauen an, die im Alter ihrer Schwester wären. Doch nichts half.
Sidney strich sich ihr dunkelbraunes, seidenglattes Haar aus dem Gesicht und stemmte ihre Hände am Waschbecken ab. Sie sah, wie eine Träne nach der anderen das Becken herunterfloss. Wie Regen tröpfelten sie herab. Sie schaute in den Spiegel und wischte sich die Tränen weg. "Du bist nicht alleine, Sidney! Sie sind doch hier. Sie sind bei dir." Flüsterte sie zu sich selber. Sie schaute rechts und links von sich und versuchte die Nähe ihrer Schwestern zu spüren, doch das Einzige was sie spürte, war der stechende Schmerz in ihrer Brust. Ihr Herz, das immer mehr austrocknete. Zu einem kleinen, nutzlosen Schwamm wurde. "So ein Quatsch.. Es gibt doch gar keine... Geister..." Bei dem letzten Wort versagte ihre Stimme und sie brach wieder in Tränen aus. "Oh, warum nur?" Sie sakte auf ihre Knie zusammen und weinte bitterlich. Ihre haselnuss-braunen Augen brannten schon vor Weinen. "Dabei habe ich doch gar nichts schlimmes getan!" Murmelte sie.
"Ich will euch doch nur zurück..." Flüsterte sie, und es klang schon fast so, als wäre sie am Ersticken. Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich wieder an ihren 14ten Geburtstag, der vor drei Tagen war. Und es war der schrecklichste Geburtstag aller Zeiten. Ihre Eltern waren Arbeiten und Charlie und sie hatten streit. Sie musste ihn also ganz alleine verbringen.Der Streit mit Charlie vor drei Tagen war wegen der selben Sache wie gerade. Sidney hatte sich einem Mädchen im Internet anvertraut. Sie hat ihr alle Probleme mit Charlie erzählt. Das sie findet, Charlie könnte etwas sensibler mit ihr umgehen. Sie nicht dauernd hin und her zerren. Und dann hat Charlie auch noch ihr Tagebuch gelesen, in dem sie mal Dampf abgelassen hat. Natürlich verletzt das Charlie, aber Sidney hatte doch niemanden, mit dem sie reden konnte. Die einzige Zuflucht war das Internet und ihr Tagebuch, in dem sie immer zu ihren Geschwistern schrieb. Plötzlich schrie Sidney vor Schmerz auf und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte ihre Fingernägel in ihren Arm gebort. Aber nicht nur das schmerzte. Das Zusammenkrampfen in ihrer Brust wurde immer unerträglicher. Sidney wusste nicht, wie lange sie nun schon weinend im Bad saß. "Reiß dich doch endlich zusammen!" Schluchzte sie und erhob sich endlich. Ihr Körper war schwach. Sie konnte kaum richtig stehen. Um nicht umzukippen hielt sie sich am Waschbecken fest.
Sie schaute aus den kleinen Fenstern, die ein Meter über dem Becken waren. Sie wünschte sich, sie wäre an Stelle ihrer Schwestern gegangen. Sie wünschte nicht, sie wären zwölf Jahre vor ihrer Geburt gestorben, sie wünschte, sie wäre tot. "Das hat doch gar keinen Sinn mehr..."Wisperte sie. Sie schluckte kräftig, um den Kloß, der wieder angewachsen war, loszuwerden und kletterte auf den Waschbecken. Mit Angst und Unsicherheit öffnete sie das Fenster. Ihre Hände zitterten, ihr Körper bebte. Ihr Herz spürte sie förmlich schon in den Füßen klopfen. Alles tat ihr weh. Der Kopf, die Augen, der Bauch, die Beine, der Arm, aber vor allem ihre zarte, zerbrechliche Seele schmerzte. Nach langem Zögern kletterte sie aus dem Fenster auf den flachen Dach, der zum Treppenhaus gehörte. Es war kalt.
Ihr Haar wehte im Winterwind und ließ ihre Tränen schnell trocknen.
Ihre Augen waren geschlossen, sie stand nun an der Kante des Daches.
Sie hörte plötzlich viele Schreie von unten. Es hörte sich an, als wären die Kinder alle meilenweit entfernt. Doch nichts konnte sie mehr aufhalten.
Sie fühlte sich plötzlich so frei, so schwerelos. Sie lehnte sich leicht nach vorne, bildete sich ein, der Wind würde sie tragen. Nun öffnete sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken, so, das sie in den Himmel sehen konnte.
Ihre letzte Träne wurde vom Winde verweht "Bis gleich!" Flüsterte sie, schloss ihre Augen, machte den letzten Schritt und damit den Anfang der Reise ins Ungewisse...
Doch plötzlich spürte sie eine eiskalte Hand an ihrem Arm und mit einem Ruck wurde sie zurückgezogen. Ihr ganzer Körper wurde nach hinten geschleudert und knallte mit voller Wucht auf den steinigen Dach. Der Schmerz in ihrer Brust war verschwunden, stattdessen kehrte jetzt ein Schmerz in ihrem Rücken ein. Sie hatte ihre Augen zusammengekniffen. Langsam fing sie an zu blinzeln. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was für einer Gefahr sie ausgesetzt war, was sie sich angetan hätte. Sie hatte erhofft, Charlie neben ihr stehen zu sehen, doch alles was sie sah, war der strahlend blaue Himmel, der jetzt hervorkam. Die hässlichen grauen Wolken waren verschwunden und statt einem kühlen Wind, fühlte sie nun an ihrer Wange warmen Windhauch. Sie lächelte, denn sie wusste, wer sie gerettet hatte.
Ihre Gedanken waren wieder klar. Befreit von all dem, was sie gerade noch gedacht hatte. Von all den schauerlichen Gedanken. Und plötzlich konnte sie sogar wieder richtig fühlen. Sie spürte die Verzweiflung und Schuldgefühle traten in ihr empor.
Was hätte sie bloß damit angerichtet?
"Danke..." Flüsterte sie und damit fielen ihr die Augen zu.
Sie hörte noch ein paar Kinder, die gerade durch das Fenster geklettert kamen.
Sie war gerettet. Beinahe hätte sie den schwersten Fehler ihres Lebens begangen, und damit ihren letzten, wenn sie nicht jemand aufgehalten hätte.
Ihre Schwester? Oder war es einfach nur die Kraft der Liebe?
Liebte sie so sehr, dass sie sich engeblidet hatte, dass sie jemand hinter zog?
Das alles ist jetzt Nebensache. Sie ist gerettet, und das ist das, was zählt!