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Zellteilung
Wie der Körper einer Schnecke, zog sich der Raum um das Pärchen zusammen. In dahinschwappenden Wellen. In gleichmäßigen Kontraktionen. Tatsächlich schrumpfte das Zimmer und als er es bemerkte, stieg ihm die Magensäure in den Rachen. Es brannte lange, weit hinter der Zunge und zwang ihn, zu schlucken. Wieder und wieder. Doch auch als er ungläubig die Augen schloss, verschwand es nicht. Viel schlimmer! Jetzt konnte er es fühlen, wie es um die beiden mit jeder vergehenden Minute enger wurde. Der quadratische Raum schmolz wie ein Eiswürfel weg. Ratlos starrte er auf die nestelnden Finger der Frau neben ihm. Die Haut ihrer schmalen Hände war spröde gewaschen. Wenn sie die fahlen Fäuste zu sehr ballte, traten feucht glänzend feine Risse in blassem Rosa hervor. Sie zog die Ärmel ihres farbarmen Jäckchens, schupp, über die Daumen und ließ sie unter Spannung, zupp, zurückschnellen. So leiern sie nur aus, wollte er mahnen. Doch schluckte er diese Worte samt bitterer Galle hinunter. Mühsam verdrängte er den Gedanken, wann es soweit gekommen war, dass sie sich nichts mehr sagen wollten. Bestimmt mussten. Aber es geht halt nicht mehr, wusste er. Das schrumpfende Drumherum verkam zu einem Hintergrundrauschen, als sein Blick über die dicken Wälzer in den hohen Regalen schweifte. Kompetenzalibis, dachte er abfällig und wieder wollte er ihr den Gedanken sogleich mitteilen.
Sie hörte ihn kräftig schlucken. Ihre Haarsträhnen hingen ihr im Gesicht und rochen nach Pfirsich. Sie konzentrierte sich still auf einen Punkt vor ihr, denn das Atmen fiel schon ohne Ablenkung schwer genug. Die Nervosität fraß die Luft um sie. Und er neben ihr, er fraß sie auch. Derart gierig, wie sie ihn nicht kannte. Der Duft des Shampoos lag wohltuend auf ihr und sie fand dies behütend. Das schien ihr bitter nötig, jetzt, wo der Mann neben ihr das nicht mehr übernahm, nicht konnte. Sie sog das bisschen Luft ein, dass er ihr zugestand. Schupp. Zupp. Schupp. Wie lange sie schon diese Angewohnheit hatte, die Ärmel der Oberteile auszuleiern, vermochte sie nicht mehr zu sagen. Beim besten Willen. Er hatte schon oft gefragt. Sie tat es stets, wenn sie mit einer aufkeimenden, schlimmer, einer hervorpreschenden Nervosität rang und zu verlieren drohte.
Still sitzen konnte er nicht mehr und da sprang er auf und zog in dem schlecht beleuchteten Zimmer in rastlosen Kreisen umher. Was das doch für ein schrecklicher Raum war, fand er. Überall waren Bücher gestapelt, die sicher nie einer las. Dick Staub lag schon darauf! Schiefe Türme, vergessen in Regalen und Schränkchen. Und auch jetzt, bei genauem Betrachten, zog sich der Raum weiter zusammen. Alles rückte näher und näher. Wie lange noch, bis das geschmacklose Inventar seine Seiten streifen würde? Ihn presste und quetschte? Der Gedanke verschaffte ihm Schwindel. Und heiß war ihm auch. Er setzte sich und die Angst brodelte. Das musste es sein! Herrje, so fängt es an. So fängt es an. Er hatte es! Wieder riss er hoch und pustete seine Verzweiflung lautstark in den dahinschwindenden Raum. Dann achtete er darauf, ob die Frau es ihm auf ihre Weise gleich täte. Ihm zeigte, dass auch sie nicht mehr könne. Er sah auf sie hinab, auf den Haarscheitel, der sich ihm so vertraut entgegenstellte und ab und an zur Seite wippte. Ihren Kopf hielt sie weiter schweigend gesenkt. Wie zu erwarten. Diese Schlampe… diese Schlampe! Nichts kam von ihr! Nichts! Ihm war klar warum. Sie wusste es. Sie wusste, wer hier die Verantwortung… nein, die Schuld trug!
Natürlich verstand sie den Quell seines unruhigen Treibens. Doch zermürbte diese Rastlosigkeit den letzten Funken Selbstbeherrschtheit, den sie auf ihrer Seite zu wissen meinte. Möge er sich doch setzen, herrje. Still sitzen und abwarten, so schwer es ihm fiel. Doch trat keine dieser Bitten hörbar hervor und so schloss sie die trockenen Lippen wieder. Da grübelte sie, wann sie denn das letzte Wort gesprochen hatte. Wochen musste es nun bereits her sein. In dieser Zeit hatte er gesprochen. Ständig. Viel. Viel geschrien. Und sie, sie starrte derweil auf seine wild gestikulierenden Hände. Wie aufgetriebene Vögel flogen sie kreuz und quer um ihn herum. An solchen Tagen säuberte sie häufig, was ihr nun unsäglich schmutzig erschien. Natürlich war sie ihm auch schweigend in dieses Zimmer gefolgt. Flupp. Jetzt, wie ein eingesperrtes Tier, wanderte er getrieben von einem Ende des Raumes zum anderen. Als sie ihn so aus dem Augenwinkel sah, quellte da die Wut. Zupp. Wo war sie geblieben, seine erdrückende Entschlossenheit? Sonst schwitze er sie doch förmlich aus! Es war wirklich typisch. Typisch für ihn. Stets am falschen Ort zur ständig falschen Zeit. Das hatte sie ihm schon davor gesagt. Oft. Ihn gewarnt davor. Doch er blieb eben nur ein Mann mit unzureichenden Fähigkeiten. Dieser Gedanke zwang sie zu einem schiefen Grinsen. Dann schnappte sie wieder nach Luft. Tatsächlich roch alles in diesem Raum mild nach Pfirsich.
Die Fingernägel der Frau waren hellblau lackiert. Die Farbe darauf bereits an mehreren Stellen abgeblättert und so erinnerte es ihn an sich lösende Eisschollen, immer da, wo der weiße Nagel hervorblitzte. Ja. Der Raum schrumpfte weiter, spürbar. Was tun? Er konnte ihn schon spüren, ihren dürren Körper. Wie es ihn anwiderte. So wie sie da selbstherrlich in Resignation zerging. Dabei trug sie alleine die Schuld! An alledem. An dieser Enge. Scharf sog er die Luft ein. Er behielt sie lange in sich und zuckte unter dem dumpfen Wummern in seiner Brust zusammen.
Hinter ihnen zählte eine imposante Wanduhr die Zeit. Nun lauter. Dunkelbraun und fein verziert, in Höhe und Breite wie ein Mann, bemühte das Gehäuse den Raum um die gebührende Muße. Tack. Schwer schlug der goldfarbene Zeiger um, als der Arzt hastig den Raum betrat. Schupp. Mit leichtem Schritt verschanzte er sich hinter seinem Schreibtisch, den weißen Kittel wie Bühnennebel hinter sich herziehend. Vor ihm aufgereiht waren veraltete Fotos von Frau und Kind. Darunter Bücher. Der Mediziner versank in einem wenig stattlichen Bürostuhl und sah die Papiere durch, die er mit hineingebracht hatte. Bedächtig, tack, hob er den Kopf und schüttelte ihn ernst. Zupp.
Das Pärchen spürte die große Wanduhr schmerzhaft heranrücken. Kühl lag das Ziffernblatt auf den Nacken beider, drängte gegen die Schulterblätter und verschluckte den letzten Raum, der sie umgab. Beide Körper wurden fest gegeneinander gepresst. Er erschrak, als er ihre raue Oberfläche auf seiner Haut spürte. Doch um voneinander zurückzuweichen, blieb ihnen kein Platz mehr.