Zeitumstellung
Er sah auf die Uhr, tick, tack. In seinem Zimmer war Winterzeit, während die restliche Welt nach der Sommerzeit eilte, streßte und den Schein nach außen wahrte.
"Max, das Essen ist fertig!" erklang eine Stimme, laut und kräftig im Erdgeschoß, abschwellend die Treppe hinauf, durch Türritze und Türschloß an sein Ohr. Sechs Creolen in einem Ohrläppchen waren ihm zu langweilig, erst das Brustwarzen-Piercing brachte es ihm.
"Jouuuh Mudder, ich komm' ja schon!" Ein rascher Blick auf die Uhr. Punkt 19Uhr.
Jetlag geschädigt schlurfte er die Treppe hinunter, dreckige Springerstiefel auf sauber geputzten und gefegten Stufen.
Da saßen sie alle. Der Vater, die Mutter und seine kleine Schwester. Eine typische deutsche Familie, wie sein Vater immer betonte. Üblicherweise hat diese im Durchschnitt 1,4 Kinder. Er war fühlte sich der 0,4 sehr verbunden.
"Na, was hast du heute so gemacht?" fragte ihn der fröhliche Vater. Max setzte sich gelassen auf seinen Stuhl, nahm ein Scheibe Mehrkornbrot aus dem Brotkorb, packte die Schöpfkelle und entnahm dem großen Suppentopf einen Teller voll. Dann sagte er: "Ich war bei Christian, wir haben Playstation gespielt." Über Christian und den Rest seiner Clique fiel Max immer viel zu erzählen ein.
"Bist du da nicht ein bißchen zu alt für? Mit 21 habe ich solche Spiele nicht mehr gespielt." horchte der Vater skeptisch nach. "Genau, mit 21 spielt man doch nicht mehr Playstation!" wiederholte seine elfjährige Schwester.
"Zu deiner Zeit gab es auch noch keine Playstation und außerdem ist man dazu nie zu alt!" entgegnete Max und tunkte sein Brot in die Suppe.
"Ja, es gibt Sachen, da ist man nie zu alt für", fuhr seine Mutter fort. "Ach, wie lange hast du mit Legosteinen gespielt, manchmal tagelang und Frieda aus der Kirchengruppe hält das Spielen, egal in welcher Form, für pädogisch wertvoll. Aber erziehen, das hast du ja eh hinter dir, hmmh Mäxchen?"
"Jou Muddi." Sagte er und biß kraftvoll in sein Brot. Geräuschvolles Klappern unterbrach die Familienstille. Ein unregelmäßiger Rhythmus, bis sein Vater das Wort ergriff.
"Wie lange hast du jetzt noch Urlaub?" fragte sein Vater. "Sagtest du nicht zwei Wochen? Dann mußt du doch morgen wieder arbeiten, nicht wahr?"
"Yup, muß morgen wieder schuften geh'n!" bejahte er, entnahm seinem Teller, weiß mit blauem Rand, den letzten Löffel Suppe, stand geräuschvoll auf und ging zurück in sein Zimmer, in seine Zeit.
Auf der Treppe hörte er noch: "Wieso muß ich warten, bis alle fertig gegessen haben und er nicht?" Seine Schwester.
Die Eltern sagten nichts, er vernahm lediglich ein sturres rhythmisches Löffeln.
Im Zimmer packte er seine Lederjacke, ging wieder hinab zur Haustür, rief ein: "Ich fahr wieder zu Christian" und verließ das kleinbürgerliche Grundstück.
Am Kaufhaus suchte er seine Kumpels. Er fand nur Nat in der Eingangshalle mit seinem Standard-Schild: "Arbeitslos, obdachlos. Brauche nen Euro für'n Brot." Immerhin machte Nat heute nicht auf Blind.
"Jou Alter, läufst jut heut?" fragte Max und klatschte ihm in die hingehaltene Hand. Dann hockte er sich nben ihm. "Poor, du hast ne Fahne für zwei!" begann Max.
"Jou, du nicht!" erschnupperte Nat.
"Nee, zu Hause geht doch nicht, meine Ollen, du weißt doch, außer Mundwasser und Dolomon ist da nichts drin."
"So'n Scheiß Alter. Wie packst du dat bloß? Hier, hab nur ein paar Schmerztabletten. Kann dir zwei geben."
"O jou, das wär wat! Ach ne, laß ma, heut nicht."
"Häääähhh? Bist de krank?"
"Nee, ich muß det meinen Ollen heut beibringen, will clean bleiben, nur heute."
"Du tickst doch nicht sauber. Bleib einfach hier. Ich schnorr ein paar Euros für dich mit, Alter!"
"Nee, vergiß es, hab doch meinen Job geschmissen, ich muß es Ihnen sagen. Heute!" Energisch stand er auf. Sein Kreislauf spielte verrückt, ihm wurde schwindlig.
Nat drückte ihm noch eine Schmerztablette in die Hand, für den Notfall, betonte er. Max bedankte sich und schlenderte in Richtung Haltestelle.
Er bestieg die Straßenbahn, Linie 72, das wußte er. Seine Hände zitterten und auch die Schweißperlen auf seiner Stirn erregten die Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste, unzählige Augenpaare starrten ihn an. Er begann in seiner Jackentasche zu kramen, seine zittrigen Hände hatten Probleme sie zu ertasten. Endlich bekam er die Tablette zu fassen und steckte sie schnell in den Mund.
Langsam zerschmolz sie auf seiner Zunge. Seine Hände wurden ruhiger und er konnte sich entspannen.
"Na, du bist ja früh zurück. Hatte Christian keine Zeit?" entgegnete ihm seine Mutter, als er zu Hause ankam. "Nicht direkt, die Playstation ist kaputt, aber ich bin auch hier, weil ich mit euch reden muß!" sagte Max, der sich sicher an die Wand lehnte. "Ja, klar, brauchst du Geld?" fragte sie und rief im selben Atemzug ihren Mann in die Küche.
"Setzt euch!" forderte er sie auf und lehnte sich selbst gegen den Kühlschrank.
"Was gibt es denn so Wichtiges, viel Geld?" fragte seine Mutter.
"Ich nehme Tabletten!" sagte Max geradewegs heraus, mit der Zunge hatte er gerade den letzten Rest der Tablette genußvoll zerbröselt. Er liebte die kleinen Krümmel, die seinen Mund nun bevölkerten und eine pelzige Zunge nach sich zogen.
"Ach, wenn man mal Halsschmerzen hat, dann darf man das auch wohl mal." beschwichtigte ihn seine Mutter.
Sein Vater saß da und starrte die Decke an, eine rot-weiß karierte Tischdecke.
"Mutter, ich nehme sie auch, wenn ich keine Halsschmerzen habe! Tu doch nicht so, du hast mich im Kaufhaus neulich genau gesehen. Du hast weg geschaut. Ich habe es doch gesehen!"
"Im Kaufhaus? Da war nur einer, der sah aus wie du. Einer dieser Penner, das warst nicht du. Ich werde doch wohl noch meinen eigenen Sohn erkennen können!" entgegnete sie schnell.
"Ach, und so ein paar Vitaminpräparate tun dir auch bestimmt ganz gut. Du bist seit einiger Zeit so blass um die Nase." ergänzte sein Vater.
"Wollt ihr es nicht verstehen? Ich nehme Tabletten, ich habe meinen Job deswegen verloren!" setzte Max noch einmal nach, seine Stimme wurde etwas lauter. Aber das machte nichts. Er war so ruhig, so wunderbar ruhig und entspannt.
Da saßen seine Eltern, verwirrt und bestätigt.
Sie, eine fleißige Hausfrau, für ihr Alter noch recht hübsch, kaum Falten um die Augen, trotz der traurigen Augen und für jeden sozialen Zweck zu haben.
Er, der Arbeiter, das Geld einbringend, abends seine Ruhe haben wollend, höchstens ging er mal zum Skat. Das pelzige Gefühl auf seiner Zunge ließ langsam nach.
"Hey, es war alles nur ein Spaß, ein Gag, ein Witz!" stieß Max plötzlich aus und lachte lauthals los.
Seine Eltern schauten ihn irritiert an. Dann erhellte sich die Miene seiner Mutter.
"Ein Spaß!" gackerte sie los, "alles nur ein Spaß. Aber ein reichlich überzogener Spaß!"
Nun fiel auch sein Vater in das Gelächter mit ein.
"Alles nur ein Gag. Mein Sohn, tablettensüchtig, dass wär's ja auch noch" gluckste er und hielt sich seinen Bauch.
Das Gelächter erfüllte das ganze Haus. Max lachte am lautesten, zu laut.
Am nächsten Morgen weckte ihn seine Mutter. Er sah auf seine Uhr. Es war sechs. "Ich muß doch erst um sieben Uhr aufstehen!" jammerte er. "Es ist sieben Uhr!" erscholl die Stimme seiner Mutter aus dem Flur.
Er stand auf, ganz normal, wie jeden Arbeitstag.
Dann stieg er in die Straßenbahn, Linie 72.
Linie 72 in Richtung Kaufhaus.
[ 15-04-2002, 19:45: Beitrag editiert von: Maya20 ]