Zeitreisender
Jacob lehnte sich erschöpft gegen einen Baum. Sein Atem ging stossweise. Es hörte sich schon bedrohlich an. Kurz schweiften seine Gedanken zu seiner Vergangenheit. Er hatte es ja so gut gehabt! Er war ein junger Bauer gewesen. Seinen eigenen Hof hatte er gehabt. Zugegeben, er musste beinahe all seinen Ertrag an den Vasallen abgeben. Doch er hatte ein Leben. Und seine geliebte Frau Linnea! Sie trug doch nun endlich ein Kind in sich.
Jacob schreckte aus seinen Gedanken auf, als er ein Knacken hörte. Das waren sie, die Teufel, die sich Doktoren nannten. Er begann sogleich wieder zu rennen. Nein, die würden ihn nicht fangen! Eher würde er sich in diesem Fluss ertränken.
Nach einer langen Zeit der Rennerei, brach Jacob schliesslich zusammen. Er war am Ende seiner Kräfte. Ausserdem spielten ihm seine Sinne nur noch Streiche. Er konnte sich nicht mehr auf sie verlassen. Mühevoll schleppte er sich zum Fluss, hinter ein Gebüsch. Vielleicht würden sie ihn nicht finden! Er betete inständig zu Gott dafür. Aber Gott hatte ihn verlassen, er war allein...
Seine Gedanken drifteten erneut zu Linnea. Sein Vater hatte die Ehe mit ihr zwar arrangiert, dennoch liebte er seine Frau. Es war ja seine Pflicht. Schwer fiel es ihm nicht, da seine Frau ein hübsches Ding war. Endlich war sie schwanger! Jacob hatte schon befürchtet, keinen Erben zu haben. Gott hatte ihre innigen Gebete erhört und ihnen ein Kind geschenkt. Einen Sohn, den er nie kennen lernen würde...
Jacob weinte. Er konnte es nicht verhindern, obwohl er wusste, dass Männer nicht weinen durften. Es war alles so ungerecht und grausam. Er würde nie wieder seinen Hof, seine Frau und sein Kind sehen! Und das alles nur, weil er an diesem stürmischen Nachmittag aus dem Haus gegangen war, um zu der Versammlung des Vasallen zu gehen. Welche schreckliche Sünde hatte er begangen, um eine derartige Strafe zu verdienen? Er war immer in die Kirche gegangen, hatte keines der Gebote verletzt, keine Todsünde begangen. Wie hatte er den Allmächtigen nur so erzürnen können?
Jacob war nicht mehr der Jüngste aber auch noch kein alter Mann. Er war gerade 25 Jahre alt geworden. Älter als sein Vater es geworden war. Seine einzige Freude waren sein Heim und der Besuch in der Kirche mit den wunderschönen Bildern. Schönere (und auch überhaupt irgendwelche) Bilder hatte er nie vorher gesehen. Er war ein frommer Mensch, stets darauf bedacht, nicht zu sündigen. Und nun kehrte ihm Gott den Rücken zu. Jacob begann seinen Glauben zu verlieren.
An einem stürmischen Tag war er von Zuhause weggegangen, um an der besagten Versammlung teilzunehmen. Doch ehe er dort ankam, schlug ein Blitz vor ihm ein und er befand sich an einem anderen Ort. Er erinnerte sich nicht mehr, ob er eingeschlafen war oder nicht. Der Blitz war das letzte, an das er sich erinnerte, bevor er hierher gekommen war. Und dann Bäume.
Er sah Bäume und wollte hinaus. Er irrte etwas herum, da ihm der Wald fremd war. Als er endlich herauskam- schon fast verrückt vor Angst- wurde er von gewaltigen, grellen Lichtern geblendet. Er schrie und tobte, als er das Ungeheuer sah, dessen Augen ihn anstarrten. Es schien im Sternenlicht zu glänzen und es brummte gewaltig. Plötzlich kamen Leute aus dem Ungetüm heraus und fragten etwas offensichtlich in Besorgnis. Jacob konnte sie nicht richtig verstehen. Sie sprachen seine Sprache, ohne Zweifel, jedoch in solch seltsamen Dialekt. Er starrte immer noch ungläubig das Ungetüm an, das die Leute „Auto“ genannt hatten. Das Ding und dessen Name waren ihm völlig unbekannt. Ehe er sich wehren konnte, hatten diese merkwürdig angezogenen (wobei die Frau eher nackt als angezogen war, was Jacob nicht fassen konnte, da man sich so niemals zeigen durfte) Leute in das Ungetüm gestopft. Er verstand Worte wie „helfen“ und „keine Angst“. Das Ungetüm bewegte sich und Jacob wurde übel. Er hatte noch nie auf einem Pferd gesessen, geschweige denn in einer Kutsche. Dieses „Auto“ war ja wohl eine Art Kutsche. Jedenfalls diente es zum Transport.
Als das Ungetüm anhielt, stand vor ihnen ein riesiges Haus, so wie der Turm von Babel! Jacob staunte ehrfurchtsvoll und fürchtete sich zur gleichen Zeit. Es reichte bis zum Himmel, es verschmolz sogar etwas mit ihm.
In diesem Haus war alles erleuchtet, ohne dass Jacob auch nur eine Kerze sah. Das helle Licht schmerzte ihn in den Augen. Er war es nicht gewohnt. Es tauchten andere Menschen auf, angsteinflössende und unangenehmriechende Menschen. Sie trugen weisse Kutten und sahen irgendwie wie Mönche aus. Nur konnten dies keine Diener Gottes sein. Diese Menschen beobachteten ihn, berührten ihn, auch unsittlich. Sie berührten ihn mit kalten Sachen, kein Holz. Jacob verstand nicht, was geschah. Zunächst sagte er kein Wort, aus Angst diese Menschen zu verärgern und somit eine noch schlimmere Behandlung von ihnen zu erfahren. Er war Strafen gewohnt, er war schon mal ausgepeitscht worden, weil er nicht genug geerntet hatte. Aber das hier war noch viel schlimmer.
Als er es nicht mehr aushielt, fragte Jacob sie, wo er sei. Die Menschen schienen begeistert von seiner Aussprache. Er verstand die Worte „Aus der Vergangenheit“, „15.Jh.“ und „Therapeuten“. Was sollte das wieder heissen?
Die Leute, die sich Doktoren nannten, brachten ihn in einen Raum. Es war ein einziges Zimmer, dabei war es so gross wie sein ganzes Haus. Er staunte, diese Doktoren mussten sehr reich sein. Adlige waren sie sicherlich nicht, demnach mussten sie doch Diener Gottes sein. Nur die Kirche war sonst so reich.
Er musste sich umziehen. Der Stoff seines neuen Gewandes war so weich, wie Wolle selbst. Dagegen waren seine alten Kleidungsstücke hart wie Stein. Nicht einmal sein Herr hatte solch kostbare Roben besessen.
Ein Mann kam zu ihm, ein weishaariger Mann mit gütigem Gesicht. Er nannte sich Doktor Peterson. Doktor Peterson bat ihn zu erzählen, was ihm zugestossen war.
Und Jacob erzählte. Als er geendet hatte, lachte ihn Peterson nicht aus. Stattdessen fragte er ihn, welches Jahr sie hätten. Überrascht erwiderte Jacob 1434. Der ältere Mann grummelte etwas und meinte vorsichtig: „Wir haben hier das Jahr 2000!“ Jacob lachte auf. Das war ja lächerlich. Jahr 2000 von wegen! Er wäre dann ja ein halbes Jahrhundert alt. Jacob lächelte. Dieser Peterson wollte ihn wohl nur prüfen. Peterson versuchte noch ihn schonend zu überzeugen. Aber Jacob wollte nichts mehr hören, nichts mehr wissen.
Nachdem Peterson gegangen war, verspürte Jacob eine grosse Angst vor all den Dingen um ihn herum. Er sah seltsame Dinge, die er nicht kannte. Manche gaben Geräusche von sich. Hohe Töne waren dabei, das tat in den Ohren weh. Aber die Gerüche waren die schlimmsten. Er vermied es so lange es ging, einzuatmen. Nur so hielt er die Gerüche für eine kurze Zeit fern. Alles machte ihm Angst; das grelle Licht, die Menschen in den weissen Kitteln, sogar sein Zimmer.
Peterson erklärte ihm später, dass sie ihm nur helfen wollten. Obwohl ihre Hilfe eine fürchterliche war. Sie brachten Jacob kurz darauf in einen Raum. Es war ein karges Zimmer mit nur einem Bett und einem Tisch, wohl für das Essen. Ach ja, Essen! Er hatte schon lange nichts mehr gegessen. Er bat einen der Männer vor der geschlossenen Tür um etwas zu essen. Der Mann brachte ihm einen Teller Fleisch( stell sich einer vor, Fleisch, dazu noch gekocht und essbar!) mit Kartoffeln und ein Glas Wasser. Er stellte es wortlos auf den Tisch und verschwand.
Jacob setzte sich. Er betrachtete das Besteck. Er hatte zuvor nur bei seinem Vasallen Besteck gesehen. Dieses hier war jedoch ungemein kostbarer, es war aus Silber!
Jacob wagte es nicht solch edle Sachen anzurühren und schon gar nicht zu benutzen. Er ass alles mit den Händen, die er sich an seinem Gewand abwischte. Das Glas Wasser trank er gierig. Es war klar und schmeckte sauber. So ein Wasser hatte er nie zuvor getrunken.
Schliesslich begann ihm das grelle Licht in den Augen zu brennen und er versuchte es auszupusten. Als es nicht ging, zertrümmerte er das eiartige Ding an der Decke. Denn davon schien das Licht zu kommen. Tatsächlich wurde es dunkel. Jacob legte sich auf ein ungewohnt weiches Bett. Da übermannte ihn die Traurigkeit.
Mit der Zeit zimmerte sich eine Theorie zurecht. Der Blitz hatte ihn getötet. Aber in seinem Leben hatte er zu wenig Gutes getan, um in den Himmel zu kommen. Nun war er im Fegefeuer und musste etwas Besonderes leisten, um sich einen Platz im Himmel zu ergattern. Das war eine Lösung, die ihm gefiel. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er ein.
Er hatte ausserdem etwas Wichtiges herausgefunden. Diese Doktoren waren Teufel, keine Engel oder Wächter im Fegefeuer, wie er gedacht hatte. Sie hatten ihn mit Messern aufschlitzen wollen. Jacob ass beinahe nichts mehr. Es konnte ja etwas vergiftet sein. Diese Teufel wollten ihn nur in die Hölle locken. Aber nein, nicht mit ihm. Er würde ihnen schon entkommen, er hatte schon einen Plan. Peterson vertraute Jacob und Jacob ihm. Trotzdem konnte er Peterson nicht von seinem Plan erzählen. Es könnte ja jemand mithören. Oder gar würde Peterson zu ihnen gehören!
Jacob überredete Peterson zu einem Spaziergang durch den Wald. Er wollte unbedingt frische Luft riechen und einatmen. Peterson willigte ein. Sie gingen in den Wald. Allerdings befanden sich überall diese uniformierten Männer. Jacob wartete einen günstigen Moment ab. Als sich einer bot, floh er sofort. Natürlich stürzten jene Männer hinter ihm her. Sie würden ihn aber nicht kriegen. Er kannte sich aus im Wald, er würde sich ganz einfach im Wald verstecken. Leider hatte es sich herausgestellt, dass es doch um einiges schwieriger war. Die Männer waren schnell, sehr schnell. Er selbst wurde immer langsamer. Er fiel hin, zerkratzte sich den Körper oder drohte zu ersticken. Jene Teufel waren geübte Kämpfer, da konnte er nicht mithalten.
Nach langer Rennerei war er hier an diesem Fluss gelandet. Er atmete kaum noch. Ihm wurde schwarz vor Augen...
Als er erwachte befand er sich wieder in derselben Kammer wie einige Stunden zuvor. Verzweifelt seufzte er auf. Sie hatten ihn doch gefangen. Er war der Verdammnis geweiht!
Peterson kam zu ihm und redete lange. Er war nicht zornig, weil Jacob versucht hatte zu fliehen. Aber Jacob war nicht bereit für die Welt da draussen. Die Welt da draussen war wohl der Himmel. Jacob flüsterte Peterson verschwörerisch zu: „Mein Freund, sie sind mein Prüfer. Sagen sie mir, wann kann ich in den Himmel? Wann bekomme ich Erlösung? Bitte, helfen sie mir!“
Peterson lächelte traurig. Er meinte nur: „Nein, Jacob! Du bist hier in der Zukunft. Ein unfreiwilliger Zeitreisender. Das ist sicher schwer zu verstehen, ich weiss. Das Raum/Zeitkontinuum wurde durchbrochen und...“
„Nein, Lügen, nur Lügen!!!!“ kreischte Jacob dazwischen. Er war am Ende seiner Nerven. Wahrscheinlich war er bereits wahnsinnig. Doch das war ihm egal. Er wollte zurück zu seinem Leben. Er tobte und schrie Peterson an, er würde auch zu den Bösen gehören. Peterson versuchte nochmals ihn zu beruhigen, aber Jacob liess es nicht zu. Also gab Peterson auf und schlurte mit hängenden Schultern aus dem Zimmer.
Jacob wusste, er wurde beobachtet( seine Paranoia hatte sich ausgezahlt), also handelte er schnell. Er nahm den Gürtel seines Gewandes und band ihn sich um den Hals. Das andere Ende hängte er an eine Art Balken, wo das lichtspendende Ding hing. Er zog die Schlinge zu. Dann sprang er vom Bett ohne zu zögern.
Noch bevor Peterson die Tür vollständig geschlossen hatte, rannte ihn ein Kollege fast um.
"Er bringt sich um! Los, Peterson! Los!" schrie ihm Dr. Meyers im Vorbeilaufen zu. Auch Peterson stürmte in Jacobs Zimmer, aber es war zu spät. Jacob war schon tot, sein Genick war gebrochen. Traurig meinte Peterson zu seinem Kollegen: „Er war unsere einzige Chance mehr über die Geschichte zu erfahren. Und dieses Ende hatte er nicht verdient!“ Sein Kollege entgegnete: „Ich hätte meinem Leben auch ein Ende bereitet, hätte ich das gleiche erdulden müssen wie er. Ohne Familie, völlig allein, irgendwo in einer falschen Zeit...“