zeitlos
zeitlos
Von M. Glass
Noch träumend torkelte ich aus dem Schlafzimmer in das Bad, mit der Absicht mich von der schweißgetränkten Schicht auf meiner Haut zu trennen. Es war entweder sehr spät oder sehr früh, denn es war stockdunkel. Aber selbst diese Finsternis konnte meinem sich automatisch lenkenden Finger nicht davon abhalten, den Lichtschalter zu betätigen. Die Helligkeit, das Licht glich einem scharfem Messer, das den Faden zwischen Traum und realer Welt endgültig zerschnitt. War ich zuvor noch nicht richtig wach, so war ich es im Anblick meines erbärmlichen Spiegelbildes auf jeden Fall. Das Alter war einerlei, aber das Altern… schlimm.
War es nun nachts oder morgens? Wenigstens diese banale Frage wollte ich klären, wenn ich schon das Rätsel des Alterns nicht entschlüsseln konnte. Komisch… Ich lauschte… und hörte nichts. Stimmen… Nein. Wer sollte denn heute etwas von sich geben? Elena musste ihre Redegewandtheit heute vor Gericht beweisen, nicht in unserer bescheidenen Wohnung. Also… keine Worte, keine Stimmen. Geräusche… das Surren der sonst so lauten Heizung blieb aus. Ich wandte mich dem Fenster zu, in der Hoffnung einen Blick auf die Außenwelt zu erhaschen, um im Anschluss auf die Jahreszeit zu kommen. Erst dachte ich, ich hätte gar vergessen meinen Kopf zu drehen, weil es mir so vorkam, als würde ich immer noch in den Spiegel blicken, doch dann bemerkte ich, dass die Spiegelung wesentlich schwächer war und ich mich nur im Fenster reflektierte. War es Sommer? Verdammt… denk nach. Erst nach kurzer Überlegung kam ich drauf. Sommer… keine Heizung. Wasch- und Spülmaschine… naja, solche Sachen sind Frauensachen, das erledigt alles Elena und die ist ja heute nicht da und… Uhr. Das Ticken, der Impuls einer kleinen Quarzbatterie, die winzige Zeiger zum Schlagen bringt, die stockende Bewegung in Sekunden-, Minuten- und Stundentakt. Ja, das Ticken der Uhr fehlte. Auch wenn mich dieses Ticken manchmal bis in den Wahnsinn getrieben hat, so hätte ich heute sogar einiges dafür gegeben. Auch die Digitalanzeige dieser nichtsnutzigen Uhr war defekt oder einfach außer Betrieb. Aber naja… Zufrieden mit der Freiheit, weder von Zeit erdrückt, noch von Terminen verfolgt zu werden, reinigte ich meine Zähne und stieg danach in die Dusche.
Gerade als ich zum Handtuch greifen wollte, um die restliche Tropfen Feuchtigkeit von meinem Körper zu entfernen, fiel mir eine kleine, aber dennoch merkliche Veränderung auf, was für mich zugegebenermaßen recht ungewöhnlich ist. Die Uhr stand nunmehr nicht mehr an ihrem alten, gewohnten Platz, sondern direkt auf dem Handtuch. Das war dann auch wohl der Grund, warum mir die Veränderung sofort aufgefallen war. Doch nicht nur die Position dieser gottverdammten Uhr hatte sich geändert. Das Problem - zu diesem Zeitpunkt war es weniger Problem, vielmehr ein Segen - waren die Zeiger. Der ganz kleine, meines Erachtens nennt man ihn Sekundenzeiger, stand still. Das kümmerte mich auch weniger. Mein Augemerk richtete sich ganz auf die beiden anderen Zeiger, den Langen und den Dicken. Dick und Doof. Schwarze Anzüge vor einer weißen rundlichen Kulisse. Der schmale und längste aller Zeiger hatte etwas göttliches, er zeigte gen Himmel, senkrecht nach oben. Also null vor oder sechzig Minuten nach… ja, vor oder nach welcher Stunde? Vor eins… morgens. Es war dunkel…
Ich versuchte mich zu erinnern, aber letztendlich wurde mir dann klar, dass ich gestern keinerlei außergewöhnliche Speisen beziehungsweise Getränke zu mir genommen hatte und ich daher oder zumindest aus diesem Grunde nicht verwirrt sein konnte. Warum zum Teufel noch mal stehe ich hier nackig rum und starre diese blöde Uhr an? Das lange Warten und Beobachten schien langsam Sinn zu machen. Minuten verstrichen und es war immer noch null vor oder sechzig nach. Auch der Minuten- Zeiger war im Eimer und wenn zwei Zeiger nicht funktionieren, dann wird der dritte, dickste und lahmste von allen, auch nicht weiter kreisen. Stopp. Die Digitalanzeige des Weckers… Nicht wie gewohnt in schwarzen, sondern roten Ziffern war 10:00 auf den Blättern zu lesen und nachdem ich mir ordentlich, ja fast schon zu fest die Augen gerieben habe, da berührte ich das Gerät prüfend und da fing es an…
09:59... 09:58... mit jeder Sekunde…
09:57... 09:56... mit jedem Atemzug…
… habe ich wertvolle Zeit verloren. Zeit, die mich sonst nie gekümmert hätte…
Da stand ich nun. Alleine, immer noch entblößt. Auch wenn ich das Gefühl völlig ungekleidet zu sein regelrecht genoss, empfand ich in jenem Moment totale Schutzlosigkeit, ich war ausgeliefert. Nicht den neidischen, gierigen oder gar höhnischen Blicken Fremder, sondern der Zeit. Ich wusste es nur noch nicht…
Die Uhr, das Instrument der Zeit, war unsere Wahl. Elenas Vater (ich vergesse seinen Namen jedes verdammte Mal wieder, deswegen bevorzuge ich ihn nur Mr. Glimpse zu nennen) war freiberuflicher Handwerker. Nicht etwa einer von der Sorte, welche sich die Hände auf Baustellen oder bei sonstigen Arbeiten schmutzig machte. Nein. Seine Tätigkeit fordert weit mehr Feingefühl und Geschick. Als Uhrenmacher stellt er für private Kunden nach deren Wünschen und Belieben Zeitmessgeräte her, die sich sehr deutlich von all den Billigschrott abhoben. Er verkörpert höchste Qualität und Exklusivität. Elena trägt dessen Gene und so scheint es unumgänglich zu sein, ein gewisses Faible für das, was ihr Vater mit völliger Hingabe tat und tun wird, zu entwickeln.
09:37... 09:36...
Verblüffend in welch kurzer Zeit man so viel aus einem doch so unbedeutenden Objekt gewinnen konnte.
09:35... 09:34...
Gerade als ich mit dem Wecker das machen wollte, was man eben mit nervenden Weckern so machte (in die Ecke werfen), fiel mir die erste Begegnung mit Elena wieder ein…
Es war ein schöner Tag. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Liebe meines Lebens heute das erste Mal sprechen werde. (Wer weiß das denn schon?) Jedenfalls sagt man doch, dass Frauen, wenn sie einen schon nicht in den Schritt schauen, tief in Augen blicken. Aber nein. Elenas Augen richteten sich vorerst auf mein nacktes Handgelenk. Man sah ihr an, dass ihr etwas fehlte. Ein Ausdruck von Enttäuschung in ihren kristallinblauen, feurig kalten Augen. Ich trug an diesem Abend keine Uhr. Mein Schmuckstück (wenn man es so nennen kann, Mr. Glimpse hätte wahrscheinlich seinen Bauch gehalten und hemmungslos losgelacht) lag bei Watson & Sons, einem Juwelier, in der Werkstatt. Es musste lediglich die Batterie gewechselt werden. Hätte ich Elena nun verraten, warum ich keine Uhr trug, so hätten sich die Ereignisse in den letzten Jahren mit ziemlicher Sicherheit anders entwickelt. Eigentlich hoffte ich, sie mit meinen guten Aussehen, mit meinen eingeübten Lächeln, mit meinen so charmanten Augenzwinkern oder vielleicht mit meiner stilbewussten Kleidung überzeugen zu können, aber Elena war nicht, wie all die anderen Frauen. Ich brauchte einiges an Fingerspitzengefühl, - ich möchte behaupten, mehr als Mr. Glimpse bei der Herstellung seines besten Werkes benötigt hatte - um mit Elena ins Gespräch zu kommen.
09:02... 09:01...
Das Telefon klingelte. Im Glauben, Elena wartet an der anderen Leitung, um mir mitzuteilen, wie gut das Gerichtsverfahren für sie und wie schlecht es für ihre Gegner verlaufen sei, eilte ich mit immer noch müden Gliedern, den Flur entlang. Doch das Telefon schwieg schon nach dem ersten Läuten.
08:56... 08:55...
Als ich die Wahlwiederholung drückte, um mich mit demjenigen verbinden zu lassen, der mich angerufen hatte, sprach ich mit dem örtlichen Bestattungsinstitut…
08:50... 08:49...
Ich kam oft zu spät zur Schule, verpasste wichtige Arzttermine und vergaß später ab und zu meinen Großvater “Old Dad” vom Bahnhof abzuholen. Eine Uhr wäre da sehr hilfreich, empfahl mir meine Mutter. Seitdem trug ich eine dieser albernen, elektrischen Uhren, die mir bei meinem Zeitproblem auch nur geringfügig weiterhelfen konnte.
Jedes Jahr veranstalteten wir eine Feier, namens Thanks Giving, bei dem sich die komplette Verwandtschaft versammelte. Wir verkleideten uns nicht etwa, wie die Pilgrims und haben so dann den Eingeborenen gedankt. Nein. Bei Thanks Giving ist es wie bei Ostern oder Weihnachten. Der wahre Grund der Feier erlischt immer mehr und verschwimmt von Generation zu Generation. Ich hatte einen Bruder und zwei Schwestern, fünf Onkel und drei Tanten, insgesamt fünf Neffen, zwei Omas, zwei Opas. Mein Bruder und meine jüngere Schwester Sophie waren schon verheiratet gewesen und waren deswegen auch in Begleitung. Vor fünfundzwanzig Jahren genau, mietete mein Vater eine riesige Halle, um auch wirklich allen einen ausreichenden Platz zu garantieren und nicht zuletzt aus prestigeträchtigen Gründen.
Denn dieses Jahr sollten nicht nur Verwandte, sondern auch Freunde und sogar Geschäftspartner kommen. Meine Vater betonte die Dringlichkeit dieser Feier und warnte mich zu spät zu kommen. Ein Wahrsager hätte mir genau das Gegenteil geraten, aber wer schenkt jenem schon Glauben? Ich kam zu spät.
Undurchsichtige, dicke Schwaden Staub versperrten mir die Sicht auf das Gelände, nur einzelne bunte Lichter erhellten den gedämpften Abend. Die Geräuschkulisse wurde von verschiedensten Sirenentönen untermalt. Polizei. Krankenwagen. Feuerwehr. Mehrere Männern versuchten vergeblich den Brand zu löschen und Trupps mit Schaufeln und Spürhunden bemühten sich darum, Verschüttete zu bergen. Die gesamte Halle war eingestürzt und damit auch meine Nächsten, meine Liebsten. Die Trauer war groß, das Erbe noch größer…
Mein gestörter Bezug zur Zeit verhalf mir zum Leben und mein Reichtum erlaubte es mir, ohne Zeit in den Tag zu gehen.
08:29... 08:28...
Meine Blase meldete sich, das Bedürfnis sie zu leeren, verstärkte sich, doch die Erinnerung an das schlimme Ereignis (mag es noch so lange her sein) brachte mich um ein paar Tränen. Von der Toilette aus konnte ich die Digitalanzeige der Uhr sehr gut beobachten…
08:02... 08:01...
Ich grübelte, was mir diese verdammte, rote Anzeige mitteilen wollte, doch da klingelte das Telefon erneut. Schon wieder. Ich beschloss, nicht übereilt zum Ursprung des Läutens zu hetzten, was dann auch nicht mehr notwendig war, denn es verstummte, wie zuvor. Diesmal rief ich nicht zurück. Beim Betätigen der Spülung jedoch wurde ich stutzig. Nicht wegen meiner Hinterlassenschaft, die nicht nur ausschließlich flüssig war, sondern wegen einer Ratte. Das Fell war dreckig, eigentlich braun, aber weil es nass war, glich es einem tiefem schwarz und es war übersät von Bisswunden, die von getrocknetem Blut überdeckt wurden. Von Anstrengungen gepeinigt, krallten sich die Klauen des Kanalisationsungeziefers in die Oberfläche der Kloschüssel. Penetranter übel riechender Gestank, die aufgequollenen Augen des abscheulichen Tieres und das Gefühl von Hunger, ließen mich übergeben. Kurzum schloss ich den Deckel und damit auch all den Graul.
07:46... 07:45
Frei von Kleidung trat ich vor den Kühlschrank. Ich hatte dabei ein ungutes Gefühl, wenn ich auch nach Essen trachtete. Hat heute schon irgendetwas geklappt? Was erwartet mich wohl hinter dieser Tür? Verfaultes Essen? Wahrscheinlich. Ein leerer Kühlschrank? Verwunderlich, aber dennoch realistisch. Von Maden zerfressenes Fleisch? Ich stieß mit dem Kopf gegen die Kühlschranktür und ich schauderte fröstelnd zusammen, als eine klopfende Antwort kam. Doch als das Klopfen erneut eintrat, bemerkte ich glücklicherweise, (Verdammt. Wer kann hier von Glück reden?) dass der Laut aus dem Badezimmer kam.
Ich kramte unter der Spüle nach einer brauchbaren Waffe, um der Ratte endlich den Garaus zu machen, doch in dem Moment, als ich nach der Kehrschaufel griff, tauchten bereits zwei säbelartige Objekte in meine Wade ein. Es waren die gelblich gefärbten Eckzähne, der von meinen Exkrementen besudelten Ratte. Es fühlte sich, wie eine übliche Spritze vom Hausarzt an. Mit dem Unterschied, dass der Inhalt der Injektion nicht etwa eine Impfung, sondern pures Gift war, dass es sich dabei um eine doppelte Dosis handelte, dass mein Muskel angespannt war und der Arzt, in dem Fall Dr. Rat, richtig ungeschickt (sei es Absicht oder nicht) war.
07:24... 07:23...
Ich weiß auch nicht, wie ich es gemacht habe, aber ich nahm die Ratte in die Hand, was eigentlich sehr schwer bei diesen flinken Mistviechern ist. Immerhin war sie noch in meinem Fleisch verfangen und so konnte ich sie leicht greifen. Ich drückte mit aller Kraft zu, doch das schien keine Auswirkungen auf die Gesundheit des Tieres zu haben, ich schleuderte es so dann auf den harten, gefliesten Boden und trat sieben Mal ordentlich hintereinander direkt auf den Kopf der Ratte. Was übrig blieb war ein braun-schwarzer Fleck, der von einem blutgetränktem Digitalanzeigenrot dominiert wurde.
07:16... 07:15
Um dem zu entgehen, was sich hinter der Kühlschranktür verborgen hielt, entschloss ich, mir etwas anzuziehen, um anschließend in den nahe gelegenen Supermarkt zu gehen und mir dort etwas zum Futtern holen. Socken, Hose, Gürtel und Unterhemd waren schnell angelegt, doch beim Hemd dauerte es bei mir immer etwas länger. Da spürte ich am Nacken ein leichtes, aber dennoch spürbares Kitzeln. Wie sehr hätte ich mir jetzt gewünscht, Elena streichle mich mit einer Feder. Wunschdenken eben. Natürlich war es nicht Elena und natürlich war es eine… äh… Spinne. Das achtbeinige Ungetier musste sich ausgerechnet in meinem Lieblingshemd, dem mit dem gestricktem Pferdemuster auf der linken Brust, einnisten. Welch schrecklicher Zufall. Ich klatsche mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf, doch ich musste sie verfehlt haben, denn die Bewegung hörte nicht auf, sondern kletterte jetzt noch höher. Nach mehrmaligen Schlagen auf meinen eigenen Kopf, (als wollte dieses widerliche Insekt, dass ich mich selbst verletzte) erstarrte das Krabbeln und ich spürte, wie sich das Innere der Spinne über meine Kopfhaut ergoss. Ein wirklich unschönes Gefühl. Wieder ein Schmerz am Fuß. An derselben Stelle, an der sich das, was nunmehr am Küchenboden klebt, vergnügt hatte. Aber nachdem ich mich umgesehen hatte, blieb es beim Schmerz. Ein harmloses Phantom.
06:45... 06:44...
Im Eifer des Gefechts mit der Spinne, musste ich gar das Läuten des Telefons überhört haben. Die Anzeige auf der Station blinkte nämlich, wie verrückt. Ich wollte nicht zurück rufen. Hätte ich es getan, meldete sich wahrscheinlich eine Stimme von der Friedhofsverwaltung oder so. Nein. Ich schwankte, erschöpft, angespannt und dennoch überraschend gelassen zur Haustür.
06:42... 06:41...
Endlich raus hier. Ich drückte die Türklinke hinunter und zog die schwere Türe zu mir. Ich nahm einen gehörigen Zug von der frischen Luft, wie ich es immer tat. Eigentlich mochte ich es sehr, draußen zu sein, Sport zu treiben, sich zu sonnen. Aber die reiche Arbeitslosigkeit führte zu Trägheit. Ich habe Elena oft vorgeschlagen, mit dem Arbeiten aufzuhören, doch sie hatte definitiv den Ansporn ihres Vaters. Sie war leidenschaftlich gerne Juristen und konnte einfach nicht ohne dem Gewissen, den Verbrechern Einhalt zu gebieten und denen, die es verdienten, eine gesalzene Strafe zu verpassen, leben. So war ich häufig alleine und verbrachte die meiste Zeit damit, Bücher zu lesen, das Internet zu durchstöbern, Fern zu sehen oder hin und wieder Videospiele zu meistern. Ein trauriges Leben, wenn man so darüber nachdenkt, doch Elena ist meine Erfüllung, sie macht mein Leben lebenswert…
Es war dunkel. Ich vergaß. Es war sehr spät und ich hätte mich darüber auch auf der Anzeige des Telefons erkundigen können. Aber jetzt war ich schon draußen und konnte mir den Blick auf die Weiten des Universums nicht so einfach entgehen lassen. Nach all dem Stress in Herrgottsfrüh brauchte ich etwas Entspannung. Etwas Ablenkung, Ausgleich…
Ich starrte in den Himmel, entzifferte einige Sternzeichen, freute mich darüber, noch einige aus der Schule zu kennen. Der Nachtwind strich mir durch das Haar und erfrischte nahezu, wie die morgendliche Dusche. Keine Sonne, keine Hoffnung auf Nahrung. Wie lange konnte ich das Bedürfnis, irgendetwas Nahrhaftes in meinen Mund zu stopfen unterdrücken, wo ich mich doch übergeben und schon seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen hatte. Ich verweilte einige Zeit vor der Haustür und in einer mir unergründlichen Weise wunderte ich mich, warum das Telefon nicht läutete. Hat es doch zuvor immer wieder geklingelt?
06:09... 06:08
Ich lauschte, wie ich es kurz nach dem Aufstehen tat, doch es war nichts Sonderbares zu hören. Plötzlich vernahm ich einen eigenartigen Geruch. Einen Geruch, der mich sicherlich auch hinter der Kühlschranktür erwarten würde. Ein Atemzug. Tod. Ich konnte den Tod riechen, in seiner Grausamkeit und Fäulnis. Er war dunkel und ich konnte nur unscharf einen Umriss vor mir erkennen. Der Umriss war schwarz. Schwarz, wie die Wand des Hauses, die Pflasterung in der Einfahrt, die Farbe der Garage, der Pflanzen im Garten, der Hintergrund der Sterne. Ich tastete nach einen Lichtschalter und als ich ihn erfolgreich betätigte, da lag eine zerfleischte Katze vor mir. Die arme Nachbarskatze. Ruddle. Ja, ich glaube sie hat Ruddle geheißen. Die Nachbarn mussten sie schon seit einer halben Ewigkeit haben und nun lag sie tot auf meinem Grundstück. Doch die Wunde war nicht natürlichen Ursprungs. Es war keine normale Verletzung, welche Ruddle zum Erliegen brachte. Nein. Das Licht wurde heller, zu hell. Die Eingeweide flossen aus dem Inneren der Katze und bedeckten den ganzen Bereich von der Mitte der Garage bis zu den Stufen der Haustür. Der Saft, der Magensaft, die grün, gelbliche Flüssigkeit, verhalf meinen Hunger gehörig zu mindern. Mein Appetit war verdorben.
06:00...
Die Wunde am Leib der Katze formte sich zu einer sechs, zu einer kaum leserlichen 6. Unmittelbar danach, zersprang das Licht neben mir. Einige Splitter der Birne trafen mich im Gesicht und einer davon musste in meinem Auge stecken, denn von dort an, war ich auf einem Auge blind.
Die spitze Ecke am Ende des Glassplitters drang mühelos in meinen weichen Augapfel ein, verblieb in meinem Glaskörper. Neben all den Schmerzen, und ich meine nicht nur die des Auges, sondern auch die Bisswunde an meiner Wade und der fürchterliche Gestank des bestialisch hingerichteten Ruddle kratzte höllisch an den Innenseiten meiner Nase, begann ich zu philosophieren. Konnte man den Geruchssinn auf einem Nasenloch verlieren? Liegt es im Bereich des Möglichen, nur noch auf einer Seite der Zunge Geschmack zu empfinden? Bestimmt… unwahrscheinlich. Man konnte nur auf einem Ohr taub sein… das ging. Bei mir musste das Gehör jedoch für einen Bruchteil einer Sekunde auf beiden Ohren ausgesetzt haben, denn ich bemerkte die sich nähernden Schritte nicht, nahm sie nicht wahr. Zu sehr war ich mit meinem neustem Verlust beschäftigt, mit der Beschränkung meines Augenlichtes durch die Splitter einer Lampe. Wie konnte die eigentlich zerspringen? Die falschen Fragen zur falschen Zeit…
05:47... 05:46...
Die richtige Frage lautete folgendermaßen: Wer oder was befindet sich unmittelbar in deiner Nähe? Die Antwort darauf (ohne die Frage jemals gestellt bekommen zu haben) beantwortete sich fast von selbst. Ich schwenkte meinen Kopf von rechts nach links, in den Bereich des neuen toten Winkels oder passender des Todeswinkels. Dunkelheit, totale Stille und eine weitere Silhouette im Rahmen der Garage. Wieder schwarze Umrisse… doch die gehörten sicherlich keiner Katze, diese finstre Schablone der Nacht stand auf zwei Beinen. Mit dem Stückchen Humor, von dem an diesem Morgen definitiv nicht mehr viel übrig war, wagte ich es erneut meinen Daumen auf den Lichtschalter zu pressen, in der Hoffnung es käme Licht. Doch anstatt Licht, kam ein Schatten mit rasender Geschwindigkeit auf mich zugesprungen. Meine Arme haben den Angreifer herzlich empfangen und in einer Bewegung, die so oder so ähnlich in einer der Eiskunstlaufsendungen übertragen hätte werden können, geleitete ich den ungebetenen Besucher durch die Luft und verabschiedete ihn am Grund des harten Betonpflasters. Von Schmerzen gelähmt und von Verwirrung benebelt, nutzte ich diese Gelegenheit, um zurück in das Haus zu gelangen, all den Schrecken dieser hässlichen Nacht zu entrinnen.
05:25... 05:24...
Ich hätte mir bei solch einem gewaltigen Sturz wahrscheinlich das Genick gebrochen, aber dieses dunkle Gerippe aus Fleisch und Blut war schon wieder dabei sich aufzurappeln, mich erneut zu attackieren. Äußerst vorsichtig presste ich mich gegen die Oberfläche der Haustür, meinen einäugigen Blick stets auf das gerichtet, was ich fürchtete. Die verdammte Dunkelheit behielt schreckliche Details für sich. Von dem weißem Holz, aus welchem die Haustür gefertigt wurde, war nur ein grauer Schleier zu erkennen.
Sie gab meinem Gewicht nach und schwenkte nach innen. Der Bewegungsensor im Flur registrierte diese Tätigkeit und reagierte mit einer abrupten Beleuchtung. Ich begann die Türe zu schließen, der Blickkontakt zu diesem Menschen riss ab und ich versicherte mich, dass auch ja nichts hinter mir auf mich wartete.
05:12... 05:11...
Kurz bevor sich der Spalt zwischen Hauswand und schwingbarem Holz schließen konnte, schob sich eine Hand dazwischen und verhinderte jegliche weitere Bewegung. Ich befahl mir zu atmen. In solchen Momenten vergisst man das hin und wieder. Der ekelerrengende Geruch von vorhin war jetzt noch intensiver und scheuslicher als zuvor. Ich musste nicht nur meine Atmung regulieren, sondern auch noch darauf achten, dass mein Mageninhalt, auch Inhalt des Magens blieb. Erstaunlich, wie schwierig die Grundfunktionen des Körpers aufrecht zu erhalten waren. Mein Herz schlug von selbst weiter, schneller als je zuvor, das Klopfen war deutlich hörbar und hätte ein Doktor (nicht unbedingt Dr. Rat) sein Stetoskop an meine Brust gelegt, wäre er wahrscheinlich nach diesem Unterfangen taub gewesen. Wie verlockend es doch wäre einfach wegzurennen, der Angst nachzugeben, sich in irgendeinen Raum einzusperren und abzuwarten. Mein Verstand hingegen forderte Mut, unerschöpfliche Kraft, die mit aggressiver Ausgelassenheit gegen diese Hand ankommen sollte. Jetzt oder nie! Ich ließ dem ständigem und heftigem Druck nach, riskierte, dass es noch weiter in meine vier Wände eindringen konnte. Ich zog die Tür an mich, verlieh ihr spürbare Energie, mit viel Schwung den störrenden Arm abzutrennen. Es war ein Laut zu hören, ein Knurren, ein verzerrter, schmerzerfüllter Schrei, aber was mich persönlich mehr interessierte, war das Geräusch, welches der Arm abgab. Wider aller Erwartungen hörte ich, wie die harten Knochen gegen die Holzkante schlugen. Das Fleisch wurde sorgfältig abrasiert und bedeckte nun den Boden, wie frisch entfernte Bartstoppeln. Der Eindringling wollte fliehen, seinen Arm aus dem Spalt ziehen, da schlug die Wucht der Tür ein zweits Mal direkt unter dem Handgelenk auf und trennte es genau an dieser Stelle ab.
05:00...
Die zitternden Finger erstrahlten im Licht. Kein Telefon... Dafür fünf ausgestreckte, mit Knochensplittern und Hautfetzen übersäte, Finger...
Ohne weiter darüber nachzudenken, was ich da gerade getan hatte, wandte ich mich von diesem grausamen Anblick ab und kroch auf allen Vieren ins Schlafzimmer. Ich schaffte es jedoch nur bis in den Flur, der ins Bad führte. Meine Schmerzen, meine Gedanken drückten mich zu Boden, mein einziges Auge auf die Digitaluhr im Bad gerichtet.
04:48... 04:47...
Die Welt um mich herum verschwamm und ich wurde in einen Strudel des Unterbewusstseins hinabgesogen. Ich drohte zu ertrinken, doch ich war im Stande zu träumen. Ein nächtlicher Tagtraum...
Es war weniger ein Traum, viel mehr eine verblichene Erinnerung. Alles schien so geheimnisvoll, auf eine unglaubliche Weise täuschend. Täuschend echt. Ich wusste, dass es nicht real sein konnte. Mein Horizont wurde nunmehr wieder von zwei Augen erkundet. Was zu sehen war, war krankhaft poliertes Glas, überall. An den Wänden, in den Vitrinen, auf den Schränken, Tischen. In der Hand eines Greises. Mr. Glimpse. Neben ihm ein junges, hübsches Mädchen, mit den gleichen Gesichtszügen und der gleichen Faszination für das Glas in seiner Hand. Elena. Sie entführte den zerbrechlichen Gegenstand ihres Vaters, trat einen Schritt auf mich zu und vertraute mir dieses wertvolle Glas an. Ich fürchtete, es fallen gelassen zu haben, doch es befand sich fest in meinem Griff, ich spürte es nur nicht. Ein angestrengter Blick auf das Glas ließ mich Schmunzeln. Was ich in der Hand hielt, war eine Uhr.
Ich sah auf. Elena bewegte ihre weich geformten Lippen, denen ich in diesem Moment so gerne einen Kuss entlockt hätte. Es folgte eine lange Diskussion, welche von all den Uhren am besten für unser Bad geeignet wäre. Mr. Glimpse war es gleichgültig, welche Uhr mein Bad zierte, doch das Bad seiner Tochte wollte er anständig eingerichtet wissen. Elena tendierte natürlich zu einer Mechanischen aus den Händen ihres Vaters, einen Schmied der Zeit. Ein solch großes Geschenk, für konventionelle Kunden ein Vermögen wert, konnte und wollte ich nicht annehmen...
Ein weit entferntes Klingeln zog mich aus den Tiefen des Unbewussten. Das erste, was mir in mein Auge stach, war die blutrote Anzeige der Digitaluhr, für die wir beziehungsweise ich mich dann entschieden hatte.
04:00.. 03:59...
Das zweite, was mir in mein Auge stach, war der immer noch vorhandene Splitter. Anders als sonst, setzte sich das Klingeln weiter fort und ich beschloss den Hörer abzunehmen. Gespannt konzentrierte ich mich auf das, was aus der Hörmuschel quillte. Ein monotones, mittellautes Piepsen ohne jegliche Sinn. Enttäuscht, aber dennoch erleichtert, dass sich nicht irgendetwas Schreckliches meldete, verblieb ich in stehender Haltung, mein Kopf in Richtung Bad.
03:54... 03:53...
Ich stand still. Mein Kopf tat es und die Leitung auch. Das änderte sich. Ich wählte Elenas Mobilnummer und wartete ab. Ihre Stimme begrüßte mich süßlich und ich verspürte ein derartiges Verlangen, ihr all die unglücklichen Ereignisse dieses Morgens zu schildern, aufzulisten. Ich musste ihr alles erzählen. All die Geschehnisse der letzten sieben Minuten und sieben Sekunden, die ich nur als allzu lange empfand. Mein Verlangen schmolz mit den nächsten Worten aus Elenas Mobilbox. >Leider bin ich derzeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie doch hinter dem Signalton eine Nachricht.< Ich schluckte. Mein Atem roch nach Gift, meine Stimme klang ängstlich, wie bedrohlich. Piep. Ich begann ihr meine letzten Worte ewig zu machen. Abgespeichert für das Leben nach mir.
03:33... 03:32...
Sorgen plagten meinen Magen, wie Krämpfe. Warum hat Elena ihr verdammtes Handy ausgeschaltet? Warum, wie, wo und vor allem wann? All die Fragen versprach ich mir von ihrem Vater beantworten zu lassen. In all den Jahren habe ich ihn nur zu Geburts- und Feiertagen angerufen, nie außerhalb dieser geregelten Zeiten. Mr. Glimpse würde sehr verärgert sein, wenn ich ihn zu dieser Stunde aus seinem so hoch gelobten Schlaf reißen würde. Vielleicht würde er mich danach gar als Schwiegersohn verleugnen.
03:27... 03:26..
Ich wählte, wartete ab. Doch anstatt einer verschlafenen, äußerst verärgerten Stimme, schallte der Rufton eines Mobiltelefons aus dem Wohnzimmer hervor. Ich legte auf. Das Läuten verstummte.
Gelähmt von Schmerzen, der Koordination wegen eines Splitters entrissen, schritt ich langsam, aber unaufhaltsam in mein beliebtestes Zimmer. Den Zimmer der langen Fußballnächte, den Zimmer der DVD-Abende, der gemütlichen Zusammenkünfte. Ich warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer. In der Dunkelheit war auf Anhieb nichts zu erkennen. Die Fernbedienung bat mir an, statt dem Licht, den Fernseher anzuschalten, was mir eine grelle Blendung ersparren könnte. Die Pixel auf der flachen Oberfläche des TVs formten sich zu einem Bild. Es lief STIRB LANGSAM. Das gedämmte Licht beleuchtete den netten Herren auf meiner Couch. Es war Mr. Glimpse höchstpersönlich.
Er saß regungslos da. Was machte er zu dieser späten Stunde, uneingeladen, auf einmal hier in meinem Haus? Ich öffnete den Rollo, um zu überprüfen ob sein Wagen auf der Straße parkte. Es drang noch mehr Dunkelheit in den Raum ein. Ich schwenkte mein eingeschränktes Augenlicht, wie einen Leuchturm über das Meer Straße. Kein einziger Wagen stand am Gehsteig. Der Himmel war immer noch voller Sterne und die Nachbarn schienen immer noch seelenruhig zu schlafen. Wie konnten sie nur?
Katze. Nein. Das Fell dieser Katze, das Fell von Ruddle, glitze aus den Zähnen dessen hervor, was urplötzlich an die Scheibe klatschte, und seinen zuvor von mir abgetrennten Arm zurückforderte, indem es mit seinem blutigem Stumpen an dem Glas schabte. Die dünne Scheibe wird dieser Belastung nicht mehr lange stand halten können.
Mein Herz stockte. Mein Blut blieb stehen. Ich brauchte Flüssigkeit. Mit dem verunstalteten Eindringling vor dem Fenster in Gedanken und mit einem Auge auf Mr. Glimpse, begab ich mich in die Küche. Das fehlende Blut im Zentrum des Denkens ließ mich den Kühlschrank ohne längeres Zögern öffnen und eine Flasche Wasser herausnehmen. Erstaunlicherweise erwartete mich hier nichts Schreckliches. Für die Gefahr, die im Kühlschrank lauerte, waren die menschlichen Sinne nicht ausgelegt. Ich gesellte mich zu meinem Schwiegervater.
Ich genoss die Anwesenheit meines Gastes. Zu seiner Rechten baumelte eine selbst hergestellte Uhr. Auch diese schien genauso wie ihr Besitzer, den Geist aufgegeben zu haben. Heute spielten irgendwie alle Uhren verrückt.
??:??... ??:??...
Das Gefühl völliger Gleichgültigkeit erfüllte mich. Die Zeit ist relativ, behauptete einst ein irrer Physiker. Ich streckte meine Zunge heraus, fühlte mich wie er. Ich behaupte, die Zeit ist mir relativ egal.
00:26... 00:25...
All die Schmerzen verkrochen sich, zogen sich dahin zurück, wo sie ursprünglich herkamen. Mein Hirn wurde träge, unempfänglich, jeglicher Wahrnehmung nicht mehr gewachsen. Dringende Fragen verblassten zu einer unwichtigen Nebensache. Eigentlich ist alles nebensächlich... sogar ich.
00:13... 00:12... Ich dachte an die Vergangenheit.
00:05... 00:04... Ich dachte an die Gegenwart...
00:01... 00:00... Denn es gab keine Zukunft...
...nicht für mich.
Elena steht weinend vor ihrem Mann. Sie war beunruhigt und verstörrt von ihrem Aufenthalt im Swiss Diamond aufgebrochen. Nachdem sie es insgesamt drei Mal vergeblich probiert hat, ihren Mann zu erreichen, musste sie sofort ins Auto gestiegen sein, um ihn aufzusuchen. Die Suche war kurz. Sie fand ihn in sitzender Haltung auf der Wohnzimmercouch. Sein Haar war völlig zerzaust, fettig und klebrig. Er war vornehm gekleidet, als wollte er Einkaufen gehen, dennoch vollkommen verschwitzt. Seine Hose war an den Knien aufgeschabt, an der Wade total aufgerissen. Die Augen standen weit offen, das rechte Auge war stark gerötet. In seiner Hand hielt er diese alberne Uhr, der man sowohl durch einer digitalen Anzeige als auch durch Zeiger die Uhrzeit entnehmen konnte. Vor ihm stand eine leere Plastikflasche. Mit viel Überwindung tat Elena das, was man in all den Filmen so oft beobachten kann. Sie schloss seine Augen, gab ihn einen letzten Kuss und benachrichtigte anschließend die Polizei.
Der Obduktionsbericht besagte: Tod aufgrund Hyoscyamin, einem Nervengift. Rückstände dieser Substanz wurden sowohl in der leeren Plastikflasche als auch in allen im Kühlschrank vorhanden Lebensmitteln festgestellt. Hätte der zuständige Arzt den Anruf früher getätigt, hätte er Elena vielleicht damit retten können.
Am Tage der Beisetzung trägt Leonard Joseph Glimpse keine Uhr. Mit einem von Trauer überspieltem Lächeln schüttelt er die Hand des Paters.
Treue ist nicht jedermanns Sache...