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Zeithalt
Ich mag es, das Netz nach hübschen Aphorismen und Lebensweisheiten zu durchforsten. In der Regel einfach eine hübsche Ausflucht der heutigen Zeit aus einer verpflichtungs- und ankerlosen Stunde. Außerhalb dieser Regel zuweilen ein Katalysator kommender Stunden. Leise einhuschende Empfindungen werden durch wenige klare Worte katalysiert, verdichten sich zu gedankenähnlichen Ahnungen. Solch innere Metamorphosen motivieren bewusste Reflexion, deren Ergebnis den Fortlauf der Zeit verändern kann.
Eine solch denkwürdige Ereigniskette wurde an diesem Tag durch Wilhelm Busch ausgelöst. „Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir liebten“, hat er einmal gesagt, und ein zeitgenössischer Mitmensch befand diese Feststellung im weltweiten Netz veröffentlichenswert.
Die Wärme, die mich seit dem Weihnachtswochenende wie ein wohltuender Hauch umschmeichelte, das wunderliche, Sicherheit mit sich führende Gefühl, ein wenig fester auf dem Boden unter meinen Füßen zu stehen als gewohnt, die Spur von Leichtigkeit wie nach dem glimpflichen Überstehen einer Erkältung, all das schien in den Worten des Dichters Sinn zu finden.
Ich hatte an diesem Wochenende geliebt, und war geliebt worden. Wir hatten gelebt, ein Stück gemeinsames Leben gelebt.
Unsere Leben sind schon seit fast drei Jahren miteinander verwoben. Solange kennen wir uns, vielleicht lieben wir uns auch seit dem. Vielleicht lieben wir uns seit dem Abend, an dem Paul mich ansprach, und wir die erste gemeinsame Nacht miteinander verbrachten. Es folgten so viele Tage und Nächte, unzählige Nächte, unzählige Stunden, jede für sich einzigartig, unvergesslich. Und doch waren die Weihnachtstage so vollkommen anders als alle Stunden zuvor. Zwei Jahre lang näherten und entfernten wir uns von einander. Jedes Entfernen wurde zum neuen Aufeinander zu gehen, als hielten wir es nicht aus ohne einander. Zumindest den Gedanken, für immer ohne einander zu sein, hielten wir nicht aus. Doch auch das Miteinander hielt der Zeit und den jeweils eigenen inneren Unruhen nie stand. Wir taten uns sehr weh. Ich tat ihm weh, weil ich in ihm mehr gesucht habe als einen Mann an meiner Seite, ich suchte bedingungslosen Halt und unumstößliche Sicherheit –Bollwerke, die wenn überhaupt ein menschliches Wesen, dann nur die Eltern ihrem Kind schaffen können. Er tat mir weh, weil der Platz an seiner Seite nie frei für mich gewesen ist, er aber dennoch nie von unserer Verbindung abließ. Wir taten uns liebend weh. Die Liebe für einander, und die Liebe zu jeweils einem Menschen, der außerhalb unserer Verbindung steht, brachte den Schmerz.
Im letzten Sommer gingen wir auseinander. Und wir gingen mit einer größeren Endgültigkeit als jemals zuvor.
Ich trug Paul seitdem immer weiter im Herzen. Doch ich ging einen Weg, der mir aufzeigte, was uns immer wieder hatte scheitern lassen, ich ging meinen Weg, fand mich selbst. Und auch Paul ging. Er ist bereits unterwegs gewesen, bevor er von mir ging, und blieb auf diesem seinen Weg. Fand verloren Geglaubtes seiner selbst. In seinem Leben gab es eine andere Frau, in meinem Leben einen anderen Mann.
Und plötzlich wurden die Telefonate, die wir hin und wieder führten, anders. Wir sprachen miteinander, von einander, von uns selbst –von dem, was wir über Sommer und Herbst gefunden hatten. Wir berührten, fanden und verstanden einander im Gespräch. Und beschlossen, uns an Weihnachten wieder zu sehen.
Ich fuhr die 200 km, die uns inzwischen trennten, mit einer unbestimmten Vorfreude. Nachdem ich auf der Fahrt eine Autopanne hatte, mischte sich in die Vorfreude eine entschlossene Sehnsucht – plötzlich war mir alles andere egal, ich musste zu ihm, wollte keine Minute zu lang unterwegs sein. Die letzten 80 km fuhr ich in Angst, das Auto könnte jeden Augenblick liegen bleiben. „Was wäre, wenn Dir heute auf dieser Fahrt etwas zustößt“, fragte ich mich. Und mir wurde noch deutlicher, wie sehr ich ihn sehen musste. Etwas in mir sagte, dass wenn ich heil bei ihm ankommen würde, ich nicht mehr weggehen wollen werde.
Ich kam heil an. Und es war wie nach Hause kommen. Er empfing mich mit einer Umarmung. Mit einer Umarmung wie nur Paul umarmen kann. Eine Umarmung, in der ich die Welt vergesse. Vor Last, Hast, Schwere, Unsicherheit, Angst und Mühsal schließt diese Umarmung einen schützenden Ring um mich, bildet einen flauschigen Teppich vor dem wärmenden Kamin einer idyllischen Berghütte. Und im Moment der Umarmung scheinen diese Arme allein dafür gemacht, sich um meinen Oberkörper zu schließen, die Schulter allein dafür, mein Gesicht darin zu verbergen, die Brust allein dafür, mit meiner zu einer einzigen zu werden, die ein einziges Herz beherbergt.
„Schön dass Du da bist“ sagte er. Die Worte im Festgewand seiner tiefen samtenen Stimme waren der heiße süße Kakao, der mir zu Flauschteppich und Kaminfeuer gereicht wurde. Während ich noch dachte, wie froh ich bin, dass wir die Irrungen und Wirrungen einer Beziehung, die eine sein wollte und keine sein konnte, hinter uns gelassen haben, und dass die Einsamkeit und Selbstverlorenheit in meinem Herzen einer Freundschaft Platz geschaffen haben, zeigte Paul mir seine neue Frisur. Eigentlich war es der Beginn seiner neuen Frisur, ein paar gekürzte Strähnen. Paul schnitt seine Haare immer selbst. „Ich habe erst in einer halben Stunde mit Dir gerechnet, dann wären die Haare schon fertig gewesen“ erklärte er grinsend. Perfekt grinsend. „Musste einfach direkt zu Dir fahren, bin gar nicht mehr bei Antonia vorbei, wollte nur noch zu Dir“, setzte ich zur Schilderung meiner nervenaufreibenden Fahrt an, „das Auto hat rumgesponnen, ich war zwischenzeitlich überzeugt davon nicht mehr hier anzukommen, der Motor hatte Aussetzer, es war der Horror. Kennst mich ja mit meiner Autophobie - toll, die wurde heute Abend auch mal wieder genährt“ jammerte ich. „Jetzt bist Du ja hier, und ich ruf gleich morgen Markus an, der schaut sich den Wagen bestimmt gern an, kennt sich aus mit sowas“ beruhigte er mich. Jetzt grinsten wir beide. Mein neurotischer Beinahe-Nervenzusammenbruch von der Fahrt war schon an der Tür abgewendet, in diesem Moment so gut wie vergessen. Wen interessierte der Haufen Blech? Sollte er doch auf der Straße zu Staub zerfallen. Ich war bei Paul, die Welt war draußen geblieben.
„Ich mach Dir einen Tee, dann kannst Du Dich etwas entspannen während ich die Haare schneide“. Ich lächelte dankbar.
Wenig später saßen wir zusammen in der Küche der WG. Paul inzwischen seiner lang in die Stirn fallenden dichten braunen Haare zu guten Stücken verlustig gegangen. Ich liebte seine Haare. Immer wenn er sie hatte schneiden wollen, hatte ich protestiert – um ihn anschließend mindestens ebenso schön zu finden wie zuvor.
Paul zauberte Bacardi, Cola, Eis und frische Zitronen hervor. „Cuba libre gefällig?“ Der Drink begleitete uns schon lange, und dass er die Zutaten besorgte, wenn ich zu Besuch kam, wurde zu einer weiteren Tradition zwischen uns.
Der Abend war wunderschön. Wir redeten viel, flirteten mal subtil und mal direkt, genossen die Vertrautheit, die seit einigen Wochen begleitet wurde von einer angenehmen Ruhe nach einem kräftezehrenden Sturm.
„Kann ich vielleicht bei Dir übernachten?“ fragte ich ihn, die Antwort bereits kennend. „Ich wollte Dich sowieso schon fragen, ob Du bleiben möchtest.“
Ich blieb. Blieb mit dem Gedanken, wie schön es war, dass ich nach einem wunderschönen Abend als Freundin neben einem wahren Freund einschlafen durfte.
Diese Nacht zeigte mir, wie viel ich noch für Paul empfand, wie viel mehr als Freundschaft. Sie zeigte mir, wie magisch er mich anzog, wie jede Faser meines Körpers bei ihm sein wollte, mit ihm sein wollte, eins mit ihm sein wollte. Ich widerstand seinem Versuch mich zu küssen mit allem, was ich an Widerstand aufzubieten hatte. Ich hatte mich doch entschieden. Entschieden mein Glück mit Luke zu versuchen. So schlief ich in Pauls Arm, schlief so gut wie lange nicht, wünschte diese Nacht würde niemals enden.
Am nächsten Tag fuhr ich zu meiner Familie, um Heiligabend mit ihr zu verbringen. In mir herrschte seltsame Ruhe, ein Frieden im Chaos, den ich nicht recht zu deuten wusste. Ich wusste nur eins, dass ich mich schon in diesem Moment freute, Paul am nächsten Abend wiederzusehen, noch eine Nacht bei ihm verbringen zu dürfen.
Diese zweite Weihnachtsnacht ist in meiner Erinnerung wie ein wunderschöner Film, ein meisterhaftes Buch. Ein Weihnachtsmärchen.
Wieder redeten wir viel, seine Worte sprachen aus meiner Seele, meine aus seiner. Wir waren eins. Wir waren Ying und Yang, die nur zusammen ergeben, was sie sind. Blind verstanden wir einander, es war beinahe, als wäre kein Wort nötig gewesen.
In dieser Nacht spürte ich keinen Widerstand, kannte keinen Grund, kein Argument, keine Grenze, die uns hätte trennen können. In dem Moment, in dem ich ihn küsste, endlich wieder küsste nach so langer Zeit, formte sich in mir ein Gedanke. Vielleicht sollten unsere Wege vorerst zwei parallele Wege sein, nicht ein einziger gemeinsamer. Damit wir sie aber gehen konnten, damit unsere Füße uns überhaupt zu tragen vermochten, mussten wir uns verabschieden.
Das Abschiednehmen war ohne Zeit, es gab nur ihn und mich, eine Nacht wie ein Leben. Seine Hände auf meinem Körper, in meinem Haar, meine Haut streichelnd, mich liebkosend. Meine Arme ihn umschlingend, ihn haltend, meine Finger über sein Gesicht streichend, unsere Hände einander fest umschließend. Diese Berührungen waren mehr als Berührungen. Sie waren der gemeinsame Weg. Sie waren endlos lange Spaziergänge durch Wälder und an Seen entlang, sie waren Händchen haltend durch die Stadt gehen, gemeinsam einschlafen und aufwachen, gemeinsam kochen und essen, gemeinsam eine Wohnung einrichten, ein Zuhause schaffen, gemeinsames Ausgehen und wieder in unser Zuhause zurückziehen, waren endlose tief vertraute Gespräche, Urlaub in einem einsamen Haus am Strand, zusammen in die Sterne blicken. Er war in dieser Nacht mein Atem und ich war seiner. Als wir miteinander schliefen war es ein Versprechen ohne quälenden Anspruch auf Einhaltung, ein Ja-Wort jenseits irdischer Bedeutung.
In bis dahin nie vorstellbarem Einverständnis und Frieden mit mir selbst ging ich am nächsten Morgen untergehakt an seiner Seite auf unserem Abschiedsspaziergang am Fluss entlang. Es war beinahe, als empfand ich zum ersten Mal in meinem Leben Liebe für mich selbst. Mein Inneres war erfüllt von etwas, wofür ich in diesem Moment keine Worte hatte, mir war einfach nur wohl. Wärme, Sicherheit und Leichtigkeit durchströmte mich.
Auf der Rückfahrt nach Köln war ich nichts als Wärme, Sicherheit und Leichtigkeit – nicht die Spur von Autophobie, obwohl an diesem Wochenende niemand mehr die Ursache der Panne begutachtet hatte.
Tage später, es war am Vortag von Sylvester, am Ende dieses Jahres, das ohne Zweifel Stoff für eine Daily-Soap geliefert hätte, las ich diesen Satz von Wilhelm Busch. Wahrscheinlich ist es über 150 Jahre her, dass er ihn niederschrieb, und doch war es, als sei er nur für Paul und mich geschrieben worden. Wir hatten in diesen Stunden des vergangenen Wochenendes geliebt.
Das neue Jahr ist heute bereits in seine zweite Woche gegangen. Ich habe Paul seit dem nicht mehr gesehen. Ich versuchte den parallelen Weg zu seinem zu gehen. Ich traf Luke, sprach mit ihm über das Hier und Jetzt, über unsere Gefühle, über die Zukunft, lächelte mit ihm, zweifelte mit ihm, schlief mit ihm.
Und während all dem wurde mir klar, ich hatte nicht Abschied genommen.