Was ist neu

Zeitgeist

Mitglied
Beitritt
04.08.2002
Beiträge
294
Zuletzt bearbeitet:

Zeitgeist

Montag Abend. Helena liegt im Bett, ist hübsch und intelligent und sieht fern. Die Haare sind gewaschen, das Gesicht ist abgeschminkt, die Zähne sind geputzt, das Mobiltelefon wird geladen, das Geschirr ist gespült usw. Helena denkt, dass das Telefon auch seinen Zweck erfüllen und läuten könnte. Sie schaltet die Sendung Forsthaus Falkenau ab, um nicht sehen zu müssen, wie ein Ehepaar romantisch durch einen Wald hüpfelt. Halbneun, gute Zeit um Online zu gehen. Sie setzt sich an den Schreibtisch, drückt die gewohnten Tasten und das Modem gibt diesen gräßlichen Ton von sich. Meistens wenn Helena sich einwählt, checkt sie zuerst ihre Mailbox, so auch an diesem Abend. „Sie haben eine neue Nachricht.“ Helena freut sich jedesmal, wenn dieses Fenster am Bildschirm erscheint. Dann ein paar Sekunden – und der Header des Mails dringt aus den Tiefen des Netzes auf den Monitor. Verschmitzt lächelnd öffnet sie das Email eines – nun ja – Bekannten aus London, den sie auf einem Seminar in Berlin etwas besser kennengelernt hat. Per Asciis erzählt er ihr, dass seine Cricketmannschaft gewonnen hat, er seit neuestem indisch kocht und Schlaghosen trägt. Außerdem berichtet er über seinen Job, dass er die Elementarteilchen von Michel Houellebecq gelesen hat und dass er dabei ist, sich das Rauchen abzugewöhnen. Houellebecq findet er übrigens zu pessimistisch. Helena beschließt sofort zu replyen. Dieser Vorgang, bei dem die Augen auf den Bildschirm starren, die Finger in die Tasten klopfen und die Gedanken in Buchstaben, Worten, Sätzen auf dem Monitor erscheinen, beginnt wieder. Helena beherrscht das Zehnfingersystem. Nach einer halben Stunde schickt sie die Bytes in das Kabel, die davon erzählen, dass sie nun zweimal in der Woche joggt, sich die Haare heller färbt, einen neuen Fernseher gekauft hat und mit einer Freundin im Winter wahrscheinlich nach Kuba fliegt. Außerdem ist Hippiestyle nicht das Schlechteste und Michel Houellebecq hat schon was. Das Handy versagt völlig in seiner Bestimmung, findet sie, und gibt in die Suchmaschine „Indische Küche“ ein. Mein Leben könnte schon etwas geordneter sein – mit Ehemann, Lebensversicherung und Eigenheim –, kommt ihr in den Sinn, während sie „Curry“ anklickt. Vertieft in einen Bericht über einen buddhistischen Mönch, wird sie vom Piepsen einer ankommenden SMS hoch geschreckt. Sie spielt im Gedanken durch, wer ihr da wohl eine Kurznachricht geschickt hat, kommt zu dem Schluss, dass es zumindest theoretisch möglich wäre, dass es ihr Exfreund gewesen sein könnte. – hermann ist ein trottel, ich werde ihn demnächst verlassen, bussi sabine – Helena hat keine Lust darauf zu antworten. Der Mönch interessiert sie jetzt ebenfalls nicht mehr und sie klickt und drückt die entsprechenden Tasten, damit sich der Computer – mit einem ergebenen Seufzen wie ihr Exfreund einmal bemerkte worauf sie mit „haha“ geantwortet hat – ausschaltet. Sie blickt auf den Radiowecker – 23:35 – Zeit schlafen zu gehen für Helena. Sie kuschelt sich in ihre warme Daunendecke. Etwas mehr Sicherheit, konkrete Zukunftspläne und ein per Ehevertrag an mich gebundener Partner wären manchmal auch nicht schlecht, sind ihre letzten Gedanken bevor sie in einen murmeltierähnlich tiefen Schlaf fällt.

Der Geruch von Büffelbeize dringt Helene in der Nase, nachdem sie durch das Läuten der Kirchenglocken geweckt worden ist. Einmal mehr bereut sie, das Haus direkt neben dem Pfarrheim bezogen zu haben. Verschlafen kriecht sie aus dem Bett und berührt nicht ohne gewissen Stolz mit den nackten Fusssohlen den frisch gewachsten Boden. Sie schlüpft in ihre schon etwas abgetragenen Plüschpantoffel und zieht den Morgenmantel über das Flanellnachthemd, begibt sich in die Küche und bereitet den Malzkaffee. Mit Blick aus dem Fenster stellt sie fest, dass die Turmuhr schon acht Uhr anzeigt. Die blühenden Bäume bewundernd, rückt sie das Fensterpolster zurecht - sie hasst es, wenn etwas schief liegt. Nur noch drei Stunden hat sie Zeit, alles vorzubereiten. Helene nimmt einen Schluck Kaffee und betrachtet missmutig die Schleiflackmöbel in ihrem Schlafzimmer. Schon wieder hat sich diese leichte Staubschicht gebildet – diese immer wieder kehrende Staubschicht. Mit einem Tuch macht sie sich an die Arbeit – Wird sie jemals im Leben noch drei Wochen verbringen, ohne mit einem Lappen über diese weissen Schlafzimmermöbel gleiten? Wird sich eigentlich überhaupt irgendwann noch etwas aufregendes, spannendes in ihrem Leben ereignen, wie damals, als sie mit Eduard frisch verliebt einen Ausflug nach Budapest unternommen hat? Verträumt dringt Helene mit ihrem Tuch in jede Schleiflackecke – gerade in den Kanten setzt sich der Staub besonders gerne ab. Eduard hatte damals ein Herz mit ihrer beiden Initialen in einen Baum geritzt – ein Jahr später heiratete er eine reiche Försterstochter. Mit gemischten Gefühlen wischt Helene bei diesem Gedanken über die Marienfigur auf dem Kaminsims. Endlich glänzt alles wie es sich gehört. Helene nimmt einen weiteren Schluck Kaffee, seufzt, gibt den Maiglöckchen frisches Wasser. Es wäre nötig, wieder einmal das Silberbesteck zu reinigen, aber es ist unausweichlich, sich jetzt um das Essen zu kümmern – und ihr Schlafgewand könnte sie jetzt auch langsam gegen die Kleiderschürze eintauschen. Ein kräftiger Schweinebraten mit Kartoffeln, wie es Franz zu schätzen weiss. „Spompernadeln bei Tisch“ – so hat er sich tatsächlich ausgedrückt – mag er nicht; und Kochen wie in Indien sind seiner Meinung nach Spompernadeln. Bei dieser Klarstellung hat er verstört die frischen Schwertlilien gemustert. Am nächsten Tag brachte er Maiglöckchen mit - Helene hat die Botschaft verstanden. Helene liebt es zu kochen, Franz liebt sie nicht. Mit dem Glockenschlag um zwölf wird er von seinem Jagdausflug nach Hause kehren, den Lodenmantel ablegen, sein Gewehr hinstellen und mit vor Stolz geschwellter Brust „Schatz, ich habe ein Reh geschossen!“ rufen. So wie der Staub kehrt auch Franz immer wieder zurück. Helene schämt sich dieses Gedankengangs, denn eigentlich ist Franz gut zu ihr. Sie holt tief Luft, saugt den Bratenduft in sich ein. Morgen wird sie Reh zubereiten und frische Maiglöckchen besorgen. Mehr Freiheit, mehr Spannung und auch wieder einmal einen Ausflug – überall hin ausser nach Budapest – sind die Wünsche von Helene, während sie den Braten übergießt.

 

@ Klara

Coole - emanzipatorisch angereicherte - Zeitreise, hehe. Gefällt mir. Erstens ist die Idee fabelhaft, zweitens ist die Umsetzung gelungen.

Ich finde, die Herausarbeitung „Man sehnt sich immer nach dem, was man nicht hat“ ist gut rübergekommen. Mit der „plüschpantoffeltragenden“ Helene würde ich keinesfalls tauschen wollen ... da kann ich mich viel besser mit der „Michel Houellebecq-lesenden Helena" identifizieren ... :D

Grüße!
Liz

 

Hey Liz!

Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Ich wollte den Text so neutral wie möglich schreiben, ohne Werturteil. Ich hasse diesen moralinsauren Schnickschnack.

Welche Frau sie lieber wäre kann nur die Leserin bestimmen. Wahrscheinlich hängt das Urteil vom Zeitgeist ab. ;-))

klara

 

hallo klara - ja was ist denn glücklich sein?? schöne geschichte zum nachdenken. vor allem weil auch helena deutlich macht, dass sie nicht glücklich ist. Die Wahrheit liegt ja oft in der mitte - obwohl ich denke, dass die meisten menschen heutzutage gefährdet sind in richtung helena abzudrifften.

denke gerade den ersten teil kann man weit böser noch dem zweiten annähern..*smile*

schön locker flockig geschrieben

grüße, streicher

 

abend streicher,

die geschichte ist auch aus einer gewissen nachdenklichkeit heraus geschrieben. ich hoffe sie lässt mehrere verschiedene interpretationen offen.

wollte eigentlich beide teile nicht unbedingt "böse" schreiben. ein bisschen mehr ironie im ersten teil - vielleicht - obwohl ichs eigentlich eh schon etwas dick aufgetragen finde.

klara

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom