Was ist neu

Zeitenwechsel

Mitglied
Beitritt
03.04.2003
Beiträge
13

Zeitenwechsel

Sonntagmorgen im Himmel. Eine Schar Engelkinder strömt ins Himmelszelt, von dem Gebimmel tausender Glöckchen gerufen. Philosophie steht auf dem Stundenplan der Kleinen. Vorne am Pult steht ein Oberengel: weißes Gewand, schwarzer Heiligenschein. Er schreibt an die Tafel: Wer bin ich?
Die Engelkinder kichern und tuscheln. Das ist einfach, denken sie, bald können wir zur Wolkenburg fliegen, wo heute der große Wettkampf stattfindet.
„Ruhe, ihr süßen Lieblichen“, poltert der Oberengel, „ich bitte um Schriftliches, seidig und golden.“
Flugs verteilt er zartes Seidenpapier und für jeden Schüler einen Stift, gefüllt mit flüssigem Gold.
„Beantwortet mir rasch diese klitzekleine Frage, denn ich will zum Wettkampf eilen um Wertvolles zu gewinnen. Also hopp, hopp, ihr Zartseidigen, Wissbegierigen.“
Es wird still im Himmelszelt. Goldene Buchstaben füllen die Blätter im Nu. Nur ein einziges Engelkind rutscht auf dem Stuhl hin und her, überlegt angestrengt und denkt: mein Gott, wer bin ich bloß? Ihm fällt keine Antwort ein. Als der Oberengel anfängt, die Blätter einzusammeln, schreibt der kleine Engel schnell:
Ich bin Liano, ein Engelkind mit weißem Gewand und schwarzem Heiligenschein.
Das kann nicht falsch sein, denkt Liano erleichtert, denn er fürchtet sich vor dem Donnern des Oberengels, der Fehler nicht ausstehen kann.
„So, ihr zuckrigen Kleinen, jetzt habt ihr 32 Sekunden Pause.“
Aufgeregtes Schwatzes beginnt. Im Mittelpunkt steht natürlich der bevorstehende Wettkampf. Welches Sternbild wird im kommenden Äon die Vorherrschaft übernehmen? Die Engelkinder haben schon ihre besten Kometenstücke verwettet, denn das Spielkasino nimmt bereits seit 52 Jahren Wetten an. Liano hat 5 Kometenteile auf das Sternbild Wassermann gesetzt, obwohl beim letztem Mal die Fische gewonnen hatten. Der Oberengel gehört zur Fischmannschaft; was nicht zu übersehen ist: das ganze Himmelszelt hat er mit Fischen bepinselt, natürlich in seiner Lieblingsfarbe Gold. Liano hat gehört, dass die Fische vertrocknen und der Wassermann bereit sei, ihnen Wasser zu spenden.
Ganz in Gedanken bemerkt er nicht, wie der Oberengel auf ihn zukommt und erschrickt als dieser mit dem seidigen Philosophenblatt vor seiner Nase herumfuchtelt.
„Du wunderbarer Lieblicher“, donnert der Oberengel Liano an, „du hast einen verwerflichen, üblen Fehler begangen, mein Süßer.“
Liano wird ganz klein auf seinem Stuhl. Was soll er denn Falsches geschrieben haben?
„Hört, ihr Engelkinder, ihr Glückseligen, was Liano Entsetzliches verbrochen hat.“
Alle Aufmerksamkeit der Angesprochenen richtet sich sofort auf Liano, dem Oberengel und den goldigen Buchstaben auf Seidenpapier. Flüsternd beginnt der Lehrer vorzulesen:
„Ich bin Liano, ein Engelkind mit weißem Gewand und“, er holt tief Luft und schreit: „schwarzem Heiligenschein.“
Knisternde Stille breitet sich im Himmelszelt aus. Die Engelkinder sitzen starr mit aufgerissenen Augen und Mündern. Dann fängt ein Geschrei und Gezeter an das Zelt zu erschüttern, das Liano niemals vergessen wird. Er vergräbt seinen Kopf in den Armen, versucht sich die Ohren zuzuhalten und doch werden sich die Worte einbrennen: Lügner, Verräter, Frevler, Gotteslästerer.
Eine Ewigkeit scheint dieser Zustand anzuhalten, um dann von bedrohlicher Stille abgelöst zu werden, in der die folgenden Worte des Oberengels wie zerbrechendes Glas klirren.
„Mein lieber Sohn, erkläre uns deine Freveltat. Wie kommst du auf den unglaublichen Irrtum, einen schwarzen Heiligenschein zu haben, wo doch jeder weiß, dass deren Farbe von reinstem, goldigstem Gold ist.“
Der Angesprochene hebt ein wenig den Kopf, blinzelt mit den Augenlidern die Tränen weg und flüstert:
„Aber ich sehe nur schwarze Heiligenscheine.“
„Alle sollen einen schwarzen Heiligenschein haben?“ bellt der Oberengel entsetzt. „Also auch alle anderen Engel und sogar ich und sogar – Gott?“ Er hat das letzte Wort gehaucht, böse mit den Augen funkelnd.
Ein Tränensee vergrößert sich rasch auf Lianos Tisch, tröpfelt von der Kante auf den Fuß des Oberengels, rinselt den Boden entlang. Noch während seines Nickens wird das Engelkind vom Stuhl gerissen, zum Rand des Himmelszeltes geschleudert und der Oberengel verkündet:
„Wie jeder weiß, gibt es natürlich nur goldene Heiligenscheine. Zu behaupten, sie wären von schwarzem Aussehen, ist eine unglaubliche Gotteslästerung. Zur Strafe verstoße ich dich aus der Gemeinschaft der Engel.“
Zappelnd und schreiend wird Liano vom Oberengel hinausgetragen und in ein gesondertes Gebiet gebracht, das kurzer Hand zur Sperrzone erklärt wird. Man teilt dem Unglücklichen mit, Gott selber werde über seine Tat unterrichtet und urteilen.
Liano kann sich nicht erinnern jemals so traurig, einsam und verzweifelt gewesen zu sein. Außerdem kriecht eine Angst in ihm hoch. Angst vor Gott. Würde er auch behaupten, die Heiligenscheine wären golden? Was ist, wenn ich mich irre, wenn ich schwarze Heiligenscheine sehe, die aber in Wahrheit golden sind?
Während Liano düsteren Fragen nachsinnt, beginnt in der Wolkenburg das Spektakel des Wettkampfes. Das Spielkasino blinkt in allen Farben, um die Wettfreudigen anzulocken. Da sich die nächste Gelegenheit erst wieder in 2000 Jahren bieten wird, strömen die Engel, beladen mit ihren schönsten und seltensten Kometenstücke, hinein, in der Hoffnung unermessliche Schätze zu gewinnen.
Derweilen formieren sich die Mannschaften der angemeldeten Tierkreiszeichen auf dem Festgelände. Jede Formation besteht aus 1000 entsprechend kostümierten Engeln. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt und sie ist fast ebenso wichtig, wie der Wettkampf selbst. Liano sieht in der Ferne wie das Sternbild Löwe sich gestaltet. Prozessionsmäßig marschieren die Löwen-Engel auf, ein jeder auf seinen vorbestimmten Platz zugehend. Denebola und Regulus, die beiden Hauptsterne des Löwen, werden von zwei Oberengeln repräsentiert, die auf 100 Meter hohen Stelzen trohnen, ihre Schwänze im Rhythmus himmlischer Sirenen schwingen und siegessicher, scheinbar gelangweilt, gähnen.
„Ich sehe doch ganz deutlich die schwarzen Heiligenscheine der Löwenführer“, schreit Liano in das Vakuum des Himmels, wo die Wörter sich ausbreiten, verstärken, auf einen Empfänger zueilen, nicht rückholbar sind. Eine kleine Hand presst sich vor einen erschrockenen Mund.
Unterdessen positioniert sich das zweite Tierkreiszeichen, der Skorpion, dessen 1000 Träger, von Antares dem Oberengel befehligt, fingerförmig ausstrahlen, mit wippendem Stachel am Hinterteil, schwarze Skorpione auf feuerrotem Tüll gezeichnet.
Liano denkt an seine schönen, ausgesuchten Kometenstücke, die er auf den Wassermann gesetzt hat, denn er zweifelt nicht, dass die Fische abdanken werden. Zu deutlich sind die Zeichen des Endes und ein Paradigmenwechsel scheint sich anzubahnen. Der Spannungszustand, der den Zeitenwechsel erzwingt, ist nicht mehr wegzuleugnen; zu gegenwärtig ist der Schmerz, der solchen Prozess erst möglich macht bzw. von diesem verursacht wird.

Fische und Wassermänner marschieren gleichzeitig auf. Die Kostüme der Fische sind mit Schuppen besetzt, in wohl einst buntschillernden Regenbogenfarben, die aber jetzt seltsam fad und blass erscheinen, und ihre Träger kraftlos aussehen lassen. Nichtsdestotrotz stoßen die Fisch-Engel laut lärmend Drohgebärden gegen die Wassermänner aus, wie um damit die Ahnung der Ablösung zu verscheuchen. Ganz anders die Wassermänner: aus sich selbst heraus glänzen sie in funkelnden, perlenden, blauen Gewändern, gehen zielsicher auf Position, alle Schmähungen ignorierend, als wären sie nicht wahrnehmbar, was deren Verstärkung bewirkt.
Liano blickt sehnsüchtig in Richtung Casino, wo er seine Mitschüler weiß, die gewiss ihre wertvollsten Kometenstücke setzen und selbst ein Teil des himmlischen Spektakels sind, während er nur distanzierender Beobachter ist. Er hört wieder ihre wüsten Beschimpfungen, die eingebrannten Wörter der Ausgrenzung, verursacht durch einen Satz, gut und wahr gemeint, der alles verändert hat, und er ist sich nicht mehr sicher, ob er wirklich unter ihnen sein möchte.

Mittlerweile haben alle Tierkreiszeichen Aufstellung bezogen. Mit der vorgeschriebenen Anordnung des Letzten ist der Kairos erreicht, der richtige Augenblick, der Kreuzungspunkt von Waagerecht und Senkrecht, von Himmel und Erde, von Raum und Zeit. Klänge leiten das Geschehen ein, steigern sich zu Dominanz. Unerhörte Energien entfalten sich in Klangspiralen, erzeugen dynamische Spannungszustände, bereiten die Transformation vor. Das Neue, Vollständigere manifestiert sich in Frequenzen der Wandlung.

Zeit – alter

Zeit – los

Zeiten – wechsel

Liano wird von den Spannungswirbeln ergriffen; widerstandslos, selbstauflösend lässt er sich hineinfallen in die gewaltigen Seelenkräfte.

Pegasus, in Gestalt des weißen Pferdes, erscheint und eröffnet den Wettkampf.

Das Inferno der Wassermänner ist All-umfassend, Gewalten-brechend. Schleusen öffnen sich, ungeheure Wassermassen rauschen hernieder. Himmel und Erde versinken in den Sturzfluten, hören auf zu atmen. –


Pegasus erklärt das Sternbild des Wassermannes zum Sieger des nächsten Äons.

Der Anführer der Wassermänner gießt, als Symbol der Übernahme, dem Oberfisch ins Maul, und hebt mit dieser Wasserspeisung die Spannung zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf.

Die vertrockneten Fische schwimmen.


Das Erscheinen des weiblichen Prinzips steht bevor.

Jahwe begegnet Sophia.

 

Hallo M.
Das glaube ich dir gerne, es ist auch schwer mit meinem Text, da er ein ganz individueller Ausdruck mythischer Art ist, würde ich sagen. Er ist etwas höchstpersönliches und gleichzeitig von allgemeiner Natur. Als entfernter Hindergrund steht zuerst die Auseinandersetzung mit "Gut und Böse", dann die Anerkennung der unbewussten Seite im Menschen sowie des Weiblichen.
Kannst du damit was anfangen?

Liebe Grüße
U.

 

Hi, M.
das Ganze ist aus einer tiefen Innerlichkeit geschrieben, die für mich so stimmig war und ist. Meine Frage lautete damals, ob Gott gut oder böse ist; der Irakkrieg nahm seinen Anfang und ich hatte ein Buch über C.G. Jung geschrieben.
Liano steht für das Individuelle, das weiß, dass es "sowohl-als-auch" ist, also gut und böse, ausgedrückt in dem weißen Gewand und dem schwarzen Heiligenschein. Die anderen stehen für das Kollektive, das negiert.(Ich hatte den amer.Präsidenten vor Augen) Mit den Tierkreiszeichen bekommt alles eine andere Dimension, das Individuelle geht unter und bleibt offen. Das Symbol der Fische steht für unser Zeitalter nach Christus und ist vielgestaltig, u.a. ein religiöses Symbol und drückt auch negativ, passiv, weiblich aus. Für mich stand es für das Verdrängen der Innerlichkeit, sprich des Unbewussten. Erstmal bis hierher, ich muss selbst noch überlegen, aber nett, dass du dich damit auseinandersetzt.
Gruss
U.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom