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Zeitenwandel
1971.
„Mein Gott“, dachte Richard.
1971 war er noch nicht einmal geboren gewesen.
1971. Jenes Jahr, in welchem Satchmo und der Lizard King ihre letzten, großartigen Atemzüge machten. Der Krieg in Vietnam steuerte auf einen neuen, blutigen Höhepunkt zu. Und Richard war einer der Namenlosen in diesem verrückten Spiel genannt „Leben“. Augenblicklich raste sein Puls schneller. Dies alles konnte kein Zufall sein! Es musste eine Wendung des Schicksals sein.
Es wurde spürbar kälter, als sich eine dunkle Gewitterwolke vor die Sonne schob. Vermutlich würde es in Bälde ein Sommergewitter geben. Nichts Ungewöhnliches. Weder heute, noch damals.
Richard betrat das Studentenheim und fühlte sich schlagartig unwohl. Er hasste die vielen affektierten Wichtigtuer, die hier in ihrer eigenen Selbstgefälligkeit darbten.
“Tag Jim!“, rief ihm keuchend Cleveland zu und war schon durch die Eingangstür verschwunden, ehe Richard ihn in seinem Irrtum korrigieren konnte.
Im Grunde war das Jetzt nicht mehr wichtig. Vermutlich war es sowieso das letzte Mal, dass er von Cleveland mit Jim verwechselt worden war. In der Halle quatschten ein paar Studenten miteinander. Während er die Treppe hochstieg, vernahm er was von wegen „Da kann man nichts daran ändern.“
„Wenn ihr wüsstet“, dachte Richard und lächelte verschmitzt.
Er erreichte den Treppenabsatz und schritt den dunklen Gang entlang, wo ihm Chadwick, der Etagenaufseher, entgegen kam.
“Na, fertig für dieses Semester?“, brachte Chadwick zwischen hohlen Schnaufzügen hervor.
“Ja.“
“Hm“, keuchte Chadwick und strich sich mit dem Zeigefinger über die beiden Nasenlöcher.
Schwarze Löcher, raunte eine Stimme Richard zu und er biss die Zähne zusammen um nicht lauthals loszubrüllen.
“Schön. Ich hab‘s deinem Zimmerkameraden bereits gesagt. Räumt -“
Chadwick holte tief und hörbar Luft. Dann fuhr er fort.
“- euer Zimmer auf und füllt endlich das Formular für die Aufstellung der entstandenen Schäden aus, klar?“
Chadwick war mies gelaunt. Andererseits konnte sich Richard an keinen Tag erinnern, an dem Gegenteiliges der Fall gewesen wäre. Chadwick zählte zu jenen Menschen, die grundsätzlich und ohne Abstriche übler Laune waren.
“Geht klar, Sir.“
Chadwick grunzte noch etwas, das ebenso gut ein blasphemischer Fluch, als auch ein Abschiedsgruß sein konnte. Dem inneren Seelenfrieden zuliebe entschied sich Richard für zweiteres.
“Ich wünsche Ihnen aus tiefstem Herzen einen schönen und angenehmen Sommer, Sir“, sagte er und wandte sich in der Gewissheit, dass Chadwick seine ironischen Worte überhört hatte, der Zimmertür zu. Er öffnete sie und erblickte Jim, der auf seinem Bett saß. Er schloss die Tür und sah dahinter Tucker, der auf seiner Matratze lungerte. Augenblicklich sprang dieser hoch. Sein Gesicht war rot. Jim hingegen grinste unverschämt.
„‘tschuldige, Richie. Hoffe, es macht dir nichts aus“, stieß Tucker holpernd hervor.
“Ist schon okay. Hauptsache, du pinkelst mir nicht auf die Matratze. Weißt du, solche Flecken kriegt man nie wieder raus.“
Tuckers Gesicht glühte rot, wie eine Leuchtdiode.
“Tja dann. Habe noch zu packen und ein paar Formalitäten zu erledigen“, sagte Tucker hastig und schob sich an Richard vorbei. “Schöne Ferien, Richie.“
“Dir auch, alter Junge“, antwortete Richard.
Jim prustete los.
Verwundert setzte sich Richard auf sein Bett. “Was gibt‘s denn da zu Lachen?“
Jim richtete sich auf. “Ach, es ist nur … er ist so schrecklich … als hättest du ihn dabei erwischt, wie er –“
“Ja, sehr lustig“, meinte Richard und starrte auf das Poster, das über Jims Bett hing. Irgend ein Playmate des Jahres. Ein Frösteln überkam ihn. Auch sie war 1971 gewiss eine der Namenlosen.
„Übrigens“, wollte Jim wissen, „Wie lief die Arbeit heute?“
Richard zuckte mit den Schultern. “Weiß nicht. Ist mir auch egal.“
Tatsächlich wusste er, dass besagte Arbeit mit einem satten runden F bewertet werden würde, was aber von keinerlei Bedeutung mehr war.
„Verstehe. Jedenfalls habe ich morgen Algebra, und mir ist es nicht egal, wie ich abschneiden werde“, sagte Jim bedächtig. “Ich muss unbedingt ein B schaffen. Andernfalls wird mir ein Teil des Stipendiums gestrichen.“
Richard nickte automatisch, obgleich ihm dies noch weniger bedeutete, als das zu erwartende F in Soziologie. Jim stand auf und ging zu einem der beiden Fenster.
„Oh Mann, da braut sich ein mächtiges Gewitter zusammen“, murmelte er. “Sieh sie dir an, Richie. Sie laufen in ihren dämlichen Hosen und Röcken herum und wissen nichts, rein gar nichts. Und in fünf Jahrzehnten sind sie alt. Zu alt, um noch etwas Wesentliches zu lernen.“
Richard ereilte ein merkwürdiges Gefühl. Als wäre dies unwirklich. Nein, als hätte er das bereits einmal gehört, während sein Freund nachdenklich durch die trüben Glasscheiben starrte und das sinnlose Treiben der Studentenschaft verfolgte.
Richard schluckte hart. Eine seltsame Unruhe hatte ihn urplötzlich ergriffen.
Wenn dies tatsächlich eine Erinnerung war, verursacht durch ... Nein, Unsinn, schalt er sich selbst für diesen abstrusen Gedanken. Mit der Zungenspitze fuhr er die Kerbe an einem seiner Vorderzähne entlang,
Jim stützte sich mit den Händen an der kahlen Mauer ab. “Weißt du es, Richie? Weißt du, worauf es wirklich ankommt?“, sagte er mit melancholischer Stimme, die so gar nicht nach Jim klang.
Richard dachte darüber nach. Sollte er Jim von seinem Fund erzählen?
„Vielleicht“, sagte Richard diffus, woraufhin sich Jim ihm zuwandte.
Sein langes, wirres Haar kräuselte sich um die Ohren. Lange Strähnen baumelten über der Stirn. In Jims Blick lag etwas Fremdes, Flehentliches, das Richard unbekannt war. Und beinahe hätte er sich verraten. Beinahe.
“Ich glaube, man sollte aus jeder Situation das Beste machen. Man sollte über jedes Geschenk des Schicksals dankbar sein und es sinnvoll nutzen.“
Jim runzelte die Stirn. Seine Augenbrauen hoben sich.
“Was meinst du mit Geschenk des Schicksals?“
Richard wich seinem Blick aus. “Ich weiß es nicht. Hast du manchmal das Gefühl, du wärst nur eine Laborratte in einem Labyrinth?“
Jim verschränkte die Arme vor dem Brustkorb. “Kann sein. Ja.“
Zu Richards Erleichterung ließ Jim das Gespräch im Sand verlaufen.
“Na ja. Muss noch rüber in die Bibliothek und büffeln.“
Von der Platte des Schreibtischs las er zwei Bücher und einen großen Notizblock auf.
“Wann wirst du fahren?“
“Schätze, so gegen 15 Uhr.“
Jim nickte und leckte sich über die Lippen. “Das heißt also, wir sehen uns nicht mehr, oder? Vor dem neuen Semester, meine ich.“
“Ja, vermutlich.“
“Ich wünsche dir einen schönen Sommer.“
“Danke“ ‚ erwiderte Richard und blickte Jim nach, wie er aus dem Zimmer ging.
Lange Zeit starrte er die Tür an, ehe er sich wieder dem Fenster zuwandte. Das Sonnenlicht wurde von anthrazitgrauen Gewitterwolken verschluckt. Unter dem Wolkenzelt hasteten einige Studenten hin und her.
Jim hatte Recht gehabt. Sie wussten nichts, rein gar nichts.
Der Rasen war saftig grün, der Himmel unheilvoll düster, die jungen Menschen auf dem Campus absurde Kreaturen. Irgendwann würden sie sterben und nicht wissen, was sie versäumt hatten. Er musste über diesen Gedanken unwillkürlich lachen. Er hatte alle Zeit der Welt, und dennoch eilte sein Vorhaben.
Also ging er zum Bett, kniete nieder und zog seinen Reisekoffer hervor. Er öffnete ihn und entnahm den Helm, den er zwei Monate zuvor gefunden hatte.
Er hatte ein wenig frische Luft schnappen wollen und war deshalb in das angrenzende Waldstück gegangen. Er hatte soeben eine schwierige Seminararbeit hinter sich gebracht und war in Gedanken noch einmal die Fragen auf dem blauen Zettel durchgegangen.
„Scheiße“, ging es ihm durch den Kopf, während er einen kleinen Hügel mit seinen billigen Turnschuhen erklomm, „ich hab‘s vermasselt.“
Wütend hatte er mit der Faust gegen eine alte Buche geschlagen. Wieder und immer wieder. Ein schmutziger Borkenregen war auf seine Hand niedergegangen.
Dann war er weiter den Trampelpfad entlang gegangen…
***
Als er es sah, überraschte es ihn. Es war ein Blitz aus heiterem Himmel, ein Einbruch des Unerklärlichen in eine Welt der Ratio.
Inmitten eines Laubhaufens ragte ein Gegenstand hervor. Anfangs hielt er den Helm für einen gewöhnlichen Motorradhelm. Doch rasch wurde ihm klar, dass er sich irrte.
Dieser Helm hatte kein Glasvisier.
Ehe er das merkwürdige Ding eingehender untersuchen hatte können, wurde er durch ein Rascheln über ihm aufgeschreckt. Reflexartig blickte er nach oben, fast direkt in die Sonne. Eine Schneiderpuppe hing zwischen den Ästen des Baumes. Nein, keine Puppe.
Richard schlug eine Hand vor den Mund und wich ein paar Schritte zurück.
Keine Puppe, ein Mensch!
Ein alter, knorriger Ast trat aus dem Rücken hervor. Der Tote war von diesem aufgespießt worden. Richard hatte noch nie zuvor eine echte Leiche gesehen. Es war nicht so schlimm, wie er angenommen hatte. Trotzdem war ihm übel geworden und fast hätte er sich übergeben.
Anstatt laut schreiend aus dem Wald zu eilen, war er zurück ins Studentenheim marschiert. Dort hatte er über diese völlig neue Lebenssituation nachgedacht. Und über den Helm, der ihm keine Ruhe ließ. Wenig später war er zu der Fundstelle zurückgegangen und hatte den Helm an sich genommen.
Die volle Tragweite seiner Entscheidung war ihm damals nicht bewusst gewesen. Jeden Tag las er eingehend die Zeitung und lauschte dem aktuellen Klatsch. Es hatte mehr als einen Monat gedauert, bis man die Leiche endlich entdeckt hatte.
Die Identität des Toten konnte nicht geklärt werden. Niemand hatte eine Vermisstenanzeige erstattet, die auf den Unbekannten zutraf. In der Brieftasche, die der Tote bei sich getragen hatte, fand man zwar Geld, aber keine Personalien. Richard war sich inzwischen ziemlich sicher zu wissen, weshalb dem so war.
***
An der rechten Seite war ein holographisches Display angebracht. Über diesem leuchtete ein kleines rotes Lämpchen, unter welchem in weißer Schrift ‘Abort‘ stand. Auf der gegenüberliegenden Seite prangte eine silberne Plakette. „Made in USE“ stand darauf. Ein kunstvoll verschnörkeltes Icon wies vermutlich auf den Hersteller des Helms hin. Eine Seriennummer konnte Richard nicht entdecken.
Beiläufig bemerkte er, dass das Gewitter losgebrochen war. Vorsichtshalber verschloss er die Tür. Mit gebannter Faszination starrte er auf das Display.
Er betätigte den Schalter mit der Aufschrift „Continue“. Augenblicklich erlosch das kleine rote Lämpchen und der Helm wurde in ein seltsames, bläuliches Licht getaucht.
„Schicksal, alles ist Schicksal“, murmelte Richard und setzte den Helm auf.
***
Erstaunt hob Jim den merkwürdigen Helm auf. Dann blickte er hoch und gewahrte eine an Richard erinnernde Gestalt…