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Zeiten ändern sich
Es war seltsam, nach all den Jahren Kleinstadtluft zu schnuppern. Seit dem Umzug meiner Eltern war ich kaum mehr in Halmfeld gewesen. Ich stieg aus dem Zug, entfernte mich vom Bahnhof, ging ein Stück. Auf der Straße spielten Kinder Fußball und ich dachte an meine eigene Jugend.
Manches hatte sich verändert. In der Goethestraße sah ich einen Bio-Markt, und auch der Mobilfunkladen zwei Häuser weiter war neu. Zumindest hatte es ihn zu meiner Schulzeit noch nicht gegeben. Stattdessen war dort ein Zeitschriftenladen gewesen, der einer alten Frau gehört und in dem ich meinen erste BRAVO gekauft hatte. Ob sie wohl noch lebte?
Ich überquerte die Straße und kam an einem Spielplatz mit Wasserpumpe vorbei. Viele Nachmittage hatte ich hier verbracht. In der Kastanienallee erkannte ich das kleine Eiscafé. Mit seinem Nuss-Nougat-Becher zog es den Schulkindern anscheinend noch immer das Geld aus der Tasche, das sie drei Straßen weiter bei der Sparkasse hätten anlegen können. Ich beobachtete die Leute. Eine stämmige Frau jätete im Vorgarten Unkraut und beklagte sich bei ihrer Nachbarin über ein auswärtiges Auto, das vor ihrem Anwesen parkte. Ich musste lächeln. Die Probleme der Klein- und Großstadtmenschen unterscheiden sich doch sehr.
Hinter jeder Ecke lauerten Erinnerungen. Erinnerungen, von denen ich glaubte, sie längst vergessen zu haben.
Ich näherte mich dem Pinienweg und hielt inne. Dort hatte Christina mich auf einmal gepackt und mir ihre Zunge in den Mund geschoben. Der Kuss war feucht gewesen, aber nicht unangenehm. Nie zuvor hatte sie das getan.
»Entschuldige.« Sie wurde rot und auch ich wurde auf einmal verlegen. Sie hatte mich vollkommen überrascht.
»Schon in Ordnung«, antwortete ich unbeholfen.
»Ich fühl mich einfach wohl bei dir. Du bist anders als die anderen.«
»Danke.«
»Wollen wir noch zum Süßwarenladen? Ich will nicht nach Hause.«
»Christina?«
»Hm?«
Ich ergriff ihre Hand. »Küss mich noch mal.«
Wir sahen uns seitdem täglich, lachten und trieben viel Unsinn. Vor allem in den Sommermonaten. Oft gingen wir zum See, unternahmen Radtouren, picknickten im Baumhaus oder lagen einfach nur faul auf der Wiese. Es war eine unbeschwerte Zeit, die ich niemals missen möchte. Bis zum Abschlussball ein paar Jahre später.
Meine Gedanken verfinsterten sich und ich dachte an Berthold aus der Parallelklasse. Berthold, ein erstklassiger Sportler. Bei Wettkämpfen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Nur mit den anderen Fächern hatte er es nicht so.
Er verdrehte an unserer Schule vielen Mädchen den Kopf. Irgendwann kam es, wie es kommen musste und er sprach auf der Suche nach einer Tanzpartnerin ausgerechnet Christina an. Die beiden verliebten sich. Was sie an diesem hageren, meist verschwitzten Typen fand, verstehe ich bis heute nicht.
Schon zu Schulzeiten wechselte Berthold die Freundinnen so häufig wie andere die Hemden, daher hoffte ich zunächst, Christina würde irgendwann zu mir zurückkehren. Dem war nicht so. Stattdessen heirateten sie. Sie blieben in Halmfeld. Bis zu diesem Unfall schienen sie glücklich zu sein.
»Es war schön mit dir«, versicherte mir Christina eines Tages. »Aber wir haben uns auseinander gelebt.«
»Aber ich liebe dich doch!«, beharrte ich.
»Ich dich leider nicht mehr«, erwiderte Christina.
Ich hatte die Trennung von ihr nie ganz überwunden. Natürlich gab es weitere Mädchen und Frauen in meinen Leben, doch nie mehr empfand ich diese Zuneigung, die ich Christina gegenüber verspürte. Meine nachfolgenden Beziehungen waren selten von langer Dauer. Menschen kommen und gehen im Leben. Nur die wenigsten bleiben für immer.
Nachdem Christina mich verlassen hatte, verbrachte ich viel Zeit mit meinem Kumpel Simon. Simon hatte Probleme mit seinem Gewicht und würde nie eine Freundin ins Bett bekommen. Behauptete er jedenfalls. Häufig wurde er von den Mitschülern gemobbt. Wir waren trotzdem die besten Freunde und kannten uns seit dem Sandkasten. Vielleicht lag es daran, dass ich mich selbst manchmal als Außenseiter sah. Während die anderen Fußball spielten, verbrachte ich die Zeit lieber am Computer.
Nach dem Abitur studierte ich in Stuttgart und arbeitete in der Automobilbranche. Berthold wurde Sportlehrer. Simon war als Handelsvertreter häufig im Ausland unterwegs.
Die Jahre vergingen und der Kontakt zu Simon ebbte allmählich ab. Bis eines Tages das Telefon klingelte. Ich hatte mich gerade von meiner Freundin Daniela getrennt und ertränkte meinen Kummer in Alkohol.
»Simon, das ist ja eine Überraschung!«
»Alles klar bei dir?«
»Beschissen wäre geprahlt«, erwiderte ich.
Er lachte. »Hab schon erfahren, dass du nicht mehr mit Daniela zusammen bist. So was spricht sich schnell herum. Frauen bereiten einem echt nur Ärger, sag ich dir! Mir geht es da nicht anders. Aber ich hab 'ne Idee, die uns eventuell aufmuntert. Hast du nicht Lust, am Wochenende in die Alpen zu fahren? Wir könnten den Dolomiten-Höhenweg hochkraxeln und in meiner Berghütte pennen.«
»Am kommenden Wochenende?«, fragte ich.
»Wieso nicht? Die Ablenkung tut uns beiden bestimmt gut. Es wird wie in alten Zeiten.«
»Wie in alten Zeiten ...«, wiederholte ich. »Na schön. Einverstanden!«
In Gedanken versunken ging ich an meiner ehemaligen Schule vorbei. Im Nachhinein habe ich fast nur noch schöne Erinnerungen an sie. Die Freistunden in der Eisdiele, die Experimente in Chemie, das Weihnachtskonzert in der großen Aula. Ein wenig überkam mich Wehmut, obwohl ich nicht noch einmal fünfzehn sein wollte. Es ist schon merkwürdig, wie man Negatives mit der Zeit verdrängt.
Ich ging einige Straßen weiter und erreichte den Friedhof an der Hauptstraße.
Die Beerdigung war gut besucht, viele schwarz gekleidete Trauernde hatten sich um Bertholds Grab versammelt, darunter einige meiner Mitschüler. Ich fragte mich, mit wie vielen davon er wohl eine Affäre gehabt hatte. Sie alle konnten noch immer nicht fassen, dass er in so jungen Jahren von uns gegangen war. Christina stand bei ihren Eltern. Mein Herz pochte schneller. Jahrelang hatte ich sie nicht mehr gesehen, sah man von ihrem Fotoalbum auf Facebook ab. Es mag abgedroschen klingen, trotzdem war sie noch mindestens genauso schön wie an dem Tag, an dem ich ihr als Teenager zum ersten Mal begegnet war.
Die Blaskapelle spielte einen Marsch. Im Schatten einer Trauerweide erblickte ich Simon, der mir unmerklich zunickte. Neben ihm stand seine Frau Sibylle. Der Priester, ein alter Mann mit kahlem Schädel, sprach fromme Worte. Ich hörte kaum zu, musste ständig an Christina denken. Es wäre eine Lüge, würde ich behaupten, dass ich um Berthold trauerte. Trotzdem tat es weh, Christina so bekümmert zu sehen.
Irgendwann verteilte sich die Menge. Christina kam auf mich zu.
»Hallo Andreas.«
»Mein Beileid.« Wir umarmten uns und ich spürte ihre Brüste an meinem Oberkörper. Wieso hatte sie mich nur verlassen? Ich reichte ihr ein Taschentuch. »Es tut mir Leid, was geschehen ist.«
»Schon gut«, erwiderte sie.
Ich merkte, wie ich erregt wurde und hoffte, dass niemand die Beule in meiner Hose sah. Um mich abzulenken, starrte ich auf den geschlossenen Sarg aus Mahagoni.
Was hast du nur getan, Berthold? Du konntest ja nie die Finger von Frauen lassen! Hättest du es nur mit Christina gut sein lassen!
Nicht einmal sie hatte ihm genügt. Aber die Affäre mit Sibylle ging für Simon und mich einfach zu weit.
»Du bist bekloppt!« Ich starrte Simon an und hielt inne. Mit schweren Trekking-Rucksäcken beladen waren wir den schmalen Höhenweg in Richtung Pieve di Cadore entlang gewandert. Der Blick auf Berge und Gletscher war atemberaubend. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Überleg doch mal! Soll ich mich etwa von Sibylle scheiden lassen? Ich will, dass meine Kinder mit Vater und Mutter aufwachsen. Dieser Wichser ist einfach im Weg!« In Simons Augen loderte Hass, den ich nicht von ihm kannte und der sich in all den Jahren in ihm aufgestaut haben musste. Ein wenig bekam ich es mit der Angst zu tun.
»Aber das können wir doch nicht machen!«
»Wieso denn nicht? Vermutlich tun wir ihm damit sogar noch einen Gefallen ...«
Ich dachte über die Idee meines Freundes nach, so krank sie mir auch erschien. Am Ende stimmte ich zu.
Die junge Prostituierte aus Polen, die Simon vor längerem während seiner Tätigkeit als Vertreter kennengelernt hatte, war jeden Cent wert gewesen. Bei der zweiten Geldübergabe in einem Hinterhof in Breslau schilderte sie uns den Mord im Detail.
Nach wochenlangem Mailkontakt hatte sich Berthold mit ihr getroffen. Christina hatte er erzählt, er wäre an dem Abend auf einem Wettkampf des Ringerverbands. Im Hotelzimmer ließ er sich bereitwillig Hände und Füße fesseln.
So hatte er sich den Blowjob allerdings nicht vorgestellt. Und auch die Nummer mit der Peitsche dürfte schmerzhaft gewesen sein. Aber wollte er nicht, dass man ihn schlägt und ihm die Luft abschnürt?
»Kommst du noch mit zum Leichenschmaus?« Christina riss mich aus meinen Gedanken. Einen Moment lang sah ich sie irritiert an, dann nickte ich.
»Gerne.«
Wir entfernten uns von Begräbnisstätte und redeten über vergangene Tage. Ein paar Mal sah ich ein schwaches Lächeln in ihrem hübschen Gesicht und meine düsteren Gedanken verflogen.
Vielleicht würde aus uns beiden doch noch ein Paar werden. Es ist nie zu spät und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Manchmal muss man die Sache einfach selbst in die Hand nehmen.
Zeiten ändern sich.