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Zeitbomben
Er träumt von der Finsternis jener Tage, als er ein junger Bursche gewesen war.
Damals hatten Hitlers Helfer bereits Selbstmord begangen oder waren erschossen worden.
Die Angst vor den Bomben blieb.
Genau wie der Hunger.
"Herr Kuhn?"
Peter Kuhn starrte den jungen Mann in dem weißen Kittel an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Auf irgendeine Art und Weise wirkte seine bloße Anwesenheit störend auf Peter Kuhn. Das Rumgeschnippse vor seinem Gesicht und das Wedeln mit diesem grellen, elektrischen Licht vor seinen Augen hatte unbestreitbar etwas enorm Aufdringliches an sich, das schon an Unverschämtheit grenzte.
"Wie geht es uns denn heute, Herr Kuhn?"
"Keine Ahnung, wie´s Ihnen geht! Mir geht´s wie jede Woche!"
"Also?"
"Beschissen wär´ geprahlt! Is´ ja auch kein Wunder, bei dem Fraß, den man hier vorgesetzt bekommt!"
Der Arzt räusperte sich geräuschvoll, womit er ein Lachen kaschieren wollte, das zu unprofessionell wirkte, um gehört werden zu dürfen. Routiniert fuhr er fort, Peter Kuhn zu untersuchen, und notierte die ermittelten Werte auf einen tabellarischen Vordruck.
Er hat das Meiste von dem, was damals geschehen ist, vergessen, doch sein Körper erinnert sich an die Anstrengungen, am Leben zu bleiben, den Tag zu überstehen, mit gen Himmel gerichtetem Blick.
Begraben unter Jahrzehnten, die wie verschlafene Nachmittage an ihm vorüber gezogen waren, regt sich etwas in ihm, das in der Dunkelheit geboren wurde und doch nie das Licht der Welt erblickt hat.
"Was gab es denn heute Leckeres", fragte der junge Arzt, ohne sich die Mühe zu machen aufrichtig interessiert zu klingen.
"Fisch", antwortete Peter Kuhn. Er spuckte das Wort förmlich aus, in einem Tonfall, in dem man vielleicht von Exkrementen oder Erbrochenem sprechen würde.
"Und dazu?"
Peter Kuhn zog eine Grimasse und schüttelte angewidert den Kopf.
"Keine Ahnung! Hat alles nach Fisch geschmeckt!"
"Fisch ist gesund", beharrte der Arzt.
"Pah! Für ein ordentliches Stück Fleisch würde ich alles tun!"
Er kann die Verzweiflung beinahe immer noch schmecken, die wie eine Pawlowsche Reaktion seinen Körper erfasste und seinen Puls in die Höhe trieb, als die Sirenen einen erneuten Luftangriff ankündigten.
Panisch waren sie alle geflohen vor dem Tod, hinab in die Unterwelt, um zwischen Schatten und Erde Schutz zu suchen, eingepfercht zwischen den rußigen Mauern ihres Kellers, der kaum Platz bot für ihn, seine kleine Schwester und seine Eltern.
Er weiß noch, dass seine Mutter viel weinte. Das war es vor allem anderen, was Krieg damals für ihn war: Tränen in der Finsternis. Und Hunger.
"Wie ist es mit dem Schlaf? Träumen Sie gut?"
Peter Kuhn blickte sich im Behandlungszimmer um, als bräuchte sein Kopf Bewegung, um über die Antwort nachzudenken.
"Ich schlafe wie ein Baby!"
"Aha", sagte der junge Arzt, während er sich weiter Notizen machte. "Manchmal Kopfschmerzen?"
"Nur wenn ich Hunger habe!"
Er weiß nicht mehr, wie lange sie in dem Kohlenkeller seiner Eltern ausharrten, während über ihnen die Bomben der Alliierten detonierten und Straßennamen von der Landkarte fegten, so als hätte es sie niemals gegeben, aber an die Halme erinnert er sich.
Sie hatten die letzten Kartoffeln roh gegessen, sich aneinander geklammert und dem Dröhnen zusammenstürzender Häuserblocks gelauscht, während sein Vater das Messer schleifte.
"Nun, Herr Kuhn. So, wie die Dinge liegen, müssen wir Sie leider auf Diät setzen. Ihre Cholesterinwerte sind mehr als bedenklich, und es grenzt schon fast an ein Wunder, dass Sie noch ..."
Peter Kuhn hörte dem jungen Arzt überhaupt nicht mehr zu. Verständnisvoll nickend wartete er, bis der Arzt sich von ihm abwandte, um sein Stethoskop zu verstauen, und setzte sich dann mit der Schnelligkeit eines Raubtieres in Bewegung.