Was ist neu

Zeitbomben

Mitglied
Beitritt
11.09.2003
Beiträge
113

Zeitbomben

Er träumt von der Finsternis jener Tage, als er ein junger Bursche gewesen war.
Damals hatten Hitlers Helfer bereits Selbstmord begangen oder waren erschossen worden.
Die Angst vor den Bomben blieb.
Genau wie der Hunger.

"Herr Kuhn?"
Peter Kuhn starrte den jungen Mann in dem weißen Kittel an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Auf irgendeine Art und Weise wirkte seine bloße Anwesenheit störend auf Peter Kuhn. Das Rumgeschnippse vor seinem Gesicht und das Wedeln mit diesem grellen, elektrischen Licht vor seinen Augen hatte unbestreitbar etwas enorm Aufdringliches an sich, das schon an Unverschämtheit grenzte.
"Wie geht es uns denn heute, Herr Kuhn?"
"Keine Ahnung, wie´s Ihnen geht! Mir geht´s wie jede Woche!"
"Also?"
"Beschissen wär´ geprahlt! Is´ ja auch kein Wunder, bei dem Fraß, den man hier vorgesetzt bekommt!"
Der Arzt räusperte sich geräuschvoll, womit er ein Lachen kaschieren wollte, das zu unprofessionell wirkte, um gehört werden zu dürfen. Routiniert fuhr er fort, Peter Kuhn zu untersuchen, und notierte die ermittelten Werte auf einen tabellarischen Vordruck.

Er hat das Meiste von dem, was damals geschehen ist, vergessen, doch sein Körper erinnert sich an die Anstrengungen, am Leben zu bleiben, den Tag zu überstehen, mit gen Himmel gerichtetem Blick.
Begraben unter Jahrzehnten, die wie verschlafene Nachmittage an ihm vorüber gezogen waren, regt sich etwas in ihm, das in der Dunkelheit geboren wurde und doch nie das Licht der Welt erblickt hat.

"Was gab es denn heute Leckeres", fragte der junge Arzt, ohne sich die Mühe zu machen aufrichtig interessiert zu klingen.
"Fisch", antwortete Peter Kuhn. Er spuckte das Wort förmlich aus, in einem Tonfall, in dem man vielleicht von Exkrementen oder Erbrochenem sprechen würde.
"Und dazu?"
Peter Kuhn zog eine Grimasse und schüttelte angewidert den Kopf.
"Keine Ahnung! Hat alles nach Fisch geschmeckt!"
"Fisch ist gesund", beharrte der Arzt.
"Pah! Für ein ordentliches Stück Fleisch würde ich alles tun!"

Er kann die Verzweiflung beinahe immer noch schmecken, die wie eine Pawlowsche Reaktion seinen Körper erfasste und seinen Puls in die Höhe trieb, als die Sirenen einen erneuten Luftangriff ankündigten.
Panisch waren sie alle geflohen vor dem Tod, hinab in die Unterwelt, um zwischen Schatten und Erde Schutz zu suchen, eingepfercht zwischen den rußigen Mauern ihres Kellers, der kaum Platz bot für ihn, seine kleine Schwester und seine Eltern.
Er weiß noch, dass seine Mutter viel weinte. Das war es vor allem anderen, was Krieg damals für ihn war: Tränen in der Finsternis. Und Hunger.

"Wie ist es mit dem Schlaf? Träumen Sie gut?"
Peter Kuhn blickte sich im Behandlungszimmer um, als bräuchte sein Kopf Bewegung, um über die Antwort nachzudenken.
"Ich schlafe wie ein Baby!"
"Aha", sagte der junge Arzt, während er sich weiter Notizen machte. "Manchmal Kopfschmerzen?"
"Nur wenn ich Hunger habe!"

Er weiß nicht mehr, wie lange sie in dem Kohlenkeller seiner Eltern ausharrten, während über ihnen die Bomben der Alliierten detonierten und Straßennamen von der Landkarte fegten, so als hätte es sie niemals gegeben, aber an die Halme erinnert er sich.
Sie hatten die letzten Kartoffeln roh gegessen, sich aneinander geklammert und dem Dröhnen zusammenstürzender Häuserblocks gelauscht, während sein Vater das Messer schleifte.

"Nun, Herr Kuhn. So, wie die Dinge liegen, müssen wir Sie leider auf Diät setzen. Ihre Cholesterinwerte sind mehr als bedenklich, und es grenzt schon fast an ein Wunder, dass Sie noch ..."
Peter Kuhn hörte dem jungen Arzt überhaupt nicht mehr zu. Verständnisvoll nickend wartete er, bis der Arzt sich von ihm abwandte, um sein Stethoskop zu verstauen, und setzte sich dann mit der Schnelligkeit eines Raubtieres in Bewegung.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo alexander boehm,

die Ausgangssituation deiner Story finde ich gut. Da ist also jemand, in dem die Schrecken des 2. Weltkriegs nach langer Zeit immer noch schwelen, eben eine Zeitbombe.
Sehr gelungen finde ich hier diese Stelle:

Begraben unter Jahrzehnten, die wie verschlafene Nachmittage an ihm vorüber gezogen waren, regt sich etwas in ihm
Stark!
Den Kontrast zwischen Innen- und Außenwelt des Prots finde ich auch gelungen, also außen das Blabla mit dem Doc, und innen eben diese Erinnerungen.
Soweit also gut.
Jetzt zum Ende. Das ist nur angedeutet, ich interpretiere also mal, da wir hier ja auch in Horror sind, dass der Prot irgendwie den Doc umbringen will. Und das ist der Knackpunkt. Ganz kurz: Warum?
Also warum sollte er aufgrund dieser Erinnerungen jemanden umbringen wollen?
Und warum den Doc?
Da fehlt mir irgendwie mindestens ein Glied in der logischen Kette.
Aber ansonsten ganz gut!

Viele Grüße,
Maeuser

EDIT:
Ach, oder meinst du, wegen des Hungers? Also von wegen er hatte früher schon Hunger, in diesen traumatisierenden Situationen, und jetzt wird ihm wieder irgendein Fraß vorgesetzt und es wird bestimmt, was er essen darf / zu essen hat?
Hm, das würde gehen, aber dann würde ich das noch deutlicher rausarbeiten.

Ah ja, jetzt kommt's langsam:

"Pah! Für ein ordentliches Stück Fleisch würde ich alles tun!"
^^

Ok, keine Ahnung, warum ich das erst nicht bemerkt habe.
Vielleicht weil's eine ziemlich ungewöhnliche Themenkombi ist - WWII-Trauma und Hunger.. ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Also...

...das, was in der Finsternis in eben dieser Extremsituation des Kellers "geboren" wurde - also die Grenze, die er damals überschritten hat - nimmt genau da überhand, als der Doc ihn auf Diät setzt. Da gibt es nichts mehr, sein Körper erinnert sich und es geht nun ums nackte Überleben.

Ich wollte dem Leser nicht das Denken abnehmen durch simple Tatsachenbeschreibung. Was ich da bisher so drüber gelesen habe und erfahren konnte, ist der Zusammenhang zwischen dem "Hungern in Extremsituationen" und der "Besessenheit in Bezug auf Nahrung", also der Angt zu kurz zu kommen bei der Verteilung des Essens oder dem Gefühl, immer benachteiligt zu sein oder nie genug haben zu können, nicht immer einsichtig, aber sozialpsychiatrisch belegbar. Sieht man oft bei Menschen, die durch Nahrungsentzug misshandelt wurden - was oft in der Kindheit geschieht.

Ich habe Kids betreut, deren Eltern Alkohol wichtiger ist als ein voller Kühlschrank. Das merkte man. Egal was es gab: wenn die anderen was bekamen, musste man doppelt so viel haben, egal wie. Da setzt das "Denken" aus und der "Instinkt" übernimmt das Ruder.

Vielen Dank fürs Lesen und kommentieren:-)

 

Peter Kuhn starrte den jungen Mann in dem weißen Kittel an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Auf irgendeine Art und Weise wirkte seine bloße Anwesenheit störend auf Peter Kuhn.
Das würd ich weglassen, da auch ohne dieses Anhängsel klar.

So, dann erstmal Hi alexander.

Insgesamt: ganz nett. Zunächst latenter Kanibalismus, der, hervorgerufen durch Hungersnot und entsprechenden "Erfahrungen" im Keller, wieder hervorbricht. Hat mir gefallen (sofern ich es richtig interpretiert habe).

Hätte mir die Geschichte insgesamt aber etwas ausgearbeiteter gewünscht; vielleicht noch mehr kleine, durchaus versteckte, Hinweise in seiner Erinnerung (Geschmack an Fleisch. Gerüche beim Braten über einer notdürftigen Feuerstelle. Ein nervender Nachbar, der irgendwann verschwunden war. Waren es vllt die Bomben ;))
Du verstehst?

Dann habe ich mir Gedanken über die "abgedroschene" Coolheit des Prot gemacht:

"Wie geht es uns denn heute, Herr Kuhn?"
"Keine Ahnung, wie´s Ihnen geht!
Beschissen wär´ geprahlt!
Ich kann mir vorstellen, dass (besonders das Ende) wesentlich erschreckender wirken würde, wenn der Prot nicht dermaßen unsympatisch rüberkommen würde. Lass ihn doch einfach nett sein (zumindest nach außen hin). So, wie du ihn jetzt darstellst, sag ich mir als Leser am Schluss: Kein Wunder, dass der Menschen frisst. Ist mir aber auch egal.

Aber: lediglich mein Empfinden ;)
Habs trotzdem gern gelesen.

Gruß! Salem

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom